Kitabı oku: «Wohnen für alle»
Wohnen für alle
Eine Kulturgeschichte des Plattenbaus
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
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ISBN (eBook, epub) 978-3-940621-60-3
Lektorat: Waltraud Greczmiel
Titelgestaltung, Illustration, Satz und Layout:
Esther Fabianski, Berlin (www.estherfabianski.de )
© Copyright 2009: Vergangenheitsverlag, Berlin
Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.
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readbox publishing, Dortmund
Für meine Eltern
Robert Liebscher
Wohnen für alle
Eine Kulturgeschichte des Plattenbaus
1. Einleitung
2. Die Idee der Vorfertigung
3. Stahl oder Beton? Die Frage nach dem richtigen Stoff
4. „Wohnmaschinen“ und „Neues Bauen“ in den 1920er Jahren
5. Widersprüchliche Moderne – Wohnungsbau im Nationalsozialismus
6. Die Karriere der „Platte“ nach 1945
7. Ein Wohlfahrtsstaat baut Wohnungen – Plattenbauten in der Bundesrepublik
8. Aufbau des Sozialismus: Baupolitik in der DDR zwischen 1949-1971
9. „…wird die Wohnungsfrage in der DDR bis 1990 gelöst!“ Das staatliche Wohnungsbauprogramm der DDR 1971-1989
10. Eine Gesellschaft auf mehreren Etagen: Alltag in realsozialistischen Plattenbautensiedlungen
11. Wendezeiten: Großsiedlungen in Ostdeutschland nach 1990
12. Mehr als vier Wände – Plattenbau zwischen Erinnerungskultur und neuer Identitätssuche
13. Eine unendliche Geschichte? Der Plattenbau im 21. Jahrhundert
14. Interviews: Zwei Meinungen zum Plattenbau
15. Anhang
Einleitung
Wenn man heute ein Gemälde über das Leben in der ehemaligen DDR malte, so würden im Hintergrund wahrscheinlich Plattenbauten in die Landschaft ragen.
Die „Platte“ ist ein elementarer Teil der Erinnerung an die DDR. Sie ist das nicht zu übersehende Ergebnis des staatlichen Wohnungsbauprogramms der SED und spiegelt symbolisch deren ideologische und politische Ziele wider. Aber die Erinnerung an die „Platte“ ist auch eine private Erinnerung an das Verhältnis der Bürger zum SED-Staat. Viele mussten für ihre ersehnte Plattenbauwohnung kämpfen, meist lange auf sie warten. Die Wohnungsvergabe durch den Staat wiederum bewegte sich zwischen den strengen Vorgaben der Planerfüllung und dem alltäglichen Versuch, die Wohnsituation der Menschen vor Ort zu verbessern. Hatte man eine der begehrten Plattenbauwohnungen „ergattert“, bot sie unter Umständen einen kleinen Freiraum individueller Entfaltung in der Diktatur. Gerade das alltägliche Leben in den „Arbeiterschließfächern“, wie diese Wohnungen manchmal genannt wurden, gehört so zu den Erinnerungen eines großen Teils der ostdeutschen Bevölkerung an die DDR.
Ein typischer DDR-Plattenbau im Berliner Stadtbezirk Hohenschönhausen, Oktober 2008
Doch wurden Plattenbauten nicht in der DDR erfunden, und keineswegs gibt es sie nur im ehemaligen Ostblock. Die Geschichte der Plattenbauten reicht weit in das 19. Jahrhundert, in die frühe Phase der europäischen Industrialisierung hinein. Die durch sie hervorgerufenen Umwälzungen in fast allen Bereichen des Lebens veränderten auch die Möglichkeiten und Bedingungen des Wohnens. Als Antwort auf die sich im 19. Jahrhundert verschärfende Wohnsituation der unteren sozialen Schichten gewann die Idee einer „Industrialisierung des Wohnungsbaus“ unter Architekten, Ingenieuren, Wissenschaftlern, Unternehmern und Politikern immer mehr an Raum. Ganz dem „Fortschritt“ verpflichtete Architekten wollten am Beginn des 20. Jahrhunderts die Wohnungsfrage mit den Mitteln der Technik für immer lösen. Wohnungen sollten vom Fließband produziert werden, ganze „Wohnfabriken und -maschinen“, die fertige Häuser ausspuckten, sollten entstehen.
Hochhaus im Kopenhagener Stadtteil Høje Gladsaxe, Februar 2009
Moskauer Plattenbauten, Februar 2009
Der hohe Symbolgehalt von Plattenbauten für die Erinnerung an die DDR überlagert teilweise die Betrachtung der langen internationalen Geschichte dieser Bauform. Dieses Buch versucht deshalb, die „Platte“ in einen breiten kulturellen und historischen Kontext zu stellen. Zunächst entführt es den Leser in das beginnende 19. Jahrhundert, als die Notwendigkeit des schnellen und billigen Bauens immer dringlicher erschien. In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erlebte die Plattenbauidee dann ihre entscheidende Reife und nach 1945 schließlich den Durchbruch als soziales Programm. Der dritte Teil des Buches beschäftigt sich mit gegenwärtigen und zukünftigen Fragestellungen. Welche Bedeutung tragen Plattenbauten für die heutige Stadtplanung und das Leben in einer Großsiedlung? Wie verändert sich die Idee des industriellen Vorfertigens im 21. Jahrhundert? Diesen Fragen widmet sich der letzte Teil des Buches.
Die Idee der Vorfertigung
Zerlegbare Holzhäuser sind seit dem 12. Jahrhundert aus Asien überliefert. Der Japaner Kamo no Chômei berichtet in seinem Buch Hôjôki von kleinen Hütten, die auf Handkarren transportiert wurden und mit einem Bauprinzip aus Haken und Ösen schnell eine Unterkunft für Wanderer boten. 1 Während der europäischen Renaissance des 15. Jahrhunderts entwickelte der italienische Künstler und Erfinder Leonardo da Vinci zerlegbare Gartenpavillons in Tafelbauweise. In den holzreichen Ländern Skandinaviens, Russlands und des nordamerikanischen Kontinents waren spätestens seit dem 16. Jahrhundert verschiedene Holzhaustypen bekannt, die aus vorgefertigten Teilen zusammengebaut wurden. 2
In Großbritannien, der Lokomotive der Industrialisierung, gab es um 1800 erste Anstrengungen, preisgünstige Häuser mit industriellen Möglichkeiten zu bauen. Dies war eine direkte Antwort auf die immer akuter werdende Wohnungsknappheit der Arbeiterfamilien. Die durch Bevölkerungswachstum und Industrialisierung hervorgerufene Wohnungsnot, aber auch und vor allem die koloniale Siedlungspolitik in den englischen Überseekolonien beflügelten die Idee der Vorfertigung. 3 In den englischen Überseekolonien entstand um 1800 erstmals ein größerer Markt für die so genannten pre-made Häuser. Richtungsweisend war das 1820 produzierte „Manning-Cottage“, ein in seine Einzelteile zerlegbares Holzhaus des englischen Zimmermanns Richard Manning für seinen nach Australien auswandernden Sohn. 4 Dieses Holzhaus war binnen weniger Tage errichtet und konnte mehrmals wieder auf- und abgebaut werden. Es bot zwei Zimmer und war mit raffinierten technischen Details ausgestattet. Schnell übernahmen Manufakturbesitzer dieses Modell und entwickelten es in Serie. Das „Manning- Cottage“ wurde so zu einem weit verbreiteten Siedlerhaus, z.B. in Südaustralien. Selbst vormontierte Kirchenbauten aus Eisen wurden für die Missionierung in den Kolonien in Auftrag gegeben. 5
Digitale Nachzeichnung des wieder verwendbaren Grundgerüsts eines Manning-Cottage
Doch schieden sich die Geister am Aussehen dieser vorgefertigten Häuser. Einige Stimmen empfanden sie als den klimatischen Verhältnissen der Kolonien nur unzureichend angepasst. Andere kritisierten die fehlende emotionale Bindung der Bewohner zu einem „seelenlosen“ Haus, das mit so wenig Schweiß zusammengebaut wurde. Hauptsächlich entbrannte die Kritik jedoch am ästhetischen Eindruck der pre-made Häuser, deren „Architekturstil hoffnungslos unangenehm sei“ und überdies „an Fabriken oder Lagerhallen“ erinnere. So lautete zumindest 1854 die Kritik einer Kirchengemeinde im australischen Melbourne an ihrer neuen, aus Eisenträgern montierten Gemeindekirche. 6
Die technischen und preislichen Vorteile lagen jedoch auf der Hand. Mit Eisenbahn und Dampfschifffahrt konnten die zerlegbaren Häuser auf ein Minimum an Platz beschränkt in weite Teile der Welt transportiert werden. Die englische Krone gewährte dem Versand von Fertighäusern sogar Zollfreiheit. 7 Diese schnell errichteten Häuser bildeten den Türöffner für die erste Besiedlung einer Kolonie. Sobald die Möglichkeiten gegeben waren, wurde jedoch meist wieder auf die traditionelle Hausproduktion umgeschwenkt. In einigen Fällen nahm die Verwendung vorgefertigter Häuser jedoch außergewöhnliche Dimensionen an. Johannesburg in Südafrika bestand noch 1886 komplett aus vorgefertigten Wellblechhäusern. 8
Auch im Kriegsfall waren die Vorteile des vorproduzierten Bauens nicht von der Hand zu weisen. Während des ersten „Kriegs des Industriezeitalters“, dem Krimkrieg von 1853 bis 1856 zwischen Russland und einer Allianz aus Frankreich, Großbritannien, dem Osmanischen Reich und Piemont-Sardinien, kam es aufgrund schlechter hygienischer Bedingungen und Hunger zu großen Verlusten auf allen Seiten. Der Mangel an Unterkünften für die Soldaten und das Fehlen von Bauspezialisten und Material bewegte die englische und französische Kriegsführung zur Produktion und Versendung vorgefertigter Einfachstunterkünfte an die Front am Schwarzen Meer. An diesem Unternehmen war auch ein Mann beteiligt, der wenige Jahre zuvor mit einem besonderen Plattenbau für Aufsehen sorgte: der englische Konstrukteur Joseph Paxton, Erbauer des Londoner Kristallpalastes. 9
Anlässlich der Londoner Weltausstellung 1851 hatte Paxton einen Ausstellungsbau nur aus Gusseisenträgern und Glastafeln errichtet. Ein durch Glas und Eisen gewonnenes Lichtspektrum im Inneren des Raumes verlieh diesem Bau seinen Namen Kristallpalast. Das imposante Gebäude hatte eine Länge von 563 Metern, eine Breite von 124 Metern und eine Höhe von 39,5 Metern. Der Bau, der circa 70.000 Quadratmeter Grundfläche einnahm, erforderte 3.500 Tonnen Gusseisen für die Hohlstützen und Fachwerkträger, 530 Tonnen Schmiedeeisen für weit gespannte bzw. hoch beanspruchte Tragwerke und cirka 400 Tonnen Glas.
Der Palast Joseph Paxtons wurde sowohl bei Besuchern als auch Architekturkritikern als Symbol von Modernität gefeiert, als Revolution in der Architektur, angeführt von einem Ingenieur. Abbildungen vom Palast hingen bald sogar in den entlegensten Stuben europäischer Bauernhöfe. 10 Es war die ästhetische Wirkung des Kristallpalastes, die seine Popularität bewirkte. Paxtons Ingenieurkunst war ein regelrechter „Wahrnehmungsschock“, der alle bisherigen Begriffe der Architektur versagen ließ. Spätere Generationen idealisierten den Kristallpalast als historischen Bezugspunkt eines ganz neuen Bauzeitalters, das sich in ihm „herauskristallisierte“. 11
Ein Plattenbau war dieser Kristallpalast jedoch weniger aufgrund seiner Vorfertigung. Noch waren die einzelnen Bauteile zu stark auf das einzelne Ziel, den Palast, hin produziert. Paxtons Leistung bestand vielmehr in seiner rationalisierten Baudurchführung. Die Produktion eines großen Ausstellungsgebäudes in nur sieben bis elf Monaten zwang ihn, Arbeitskraft, Materialbeschaffung und Transport in höchstem Maße miteinander zu koordinieren. 1852 wurde das Bauwerk demontiert und 1853 in Sydenham (London) in veränderter Form unter weitgehender Wiederverwendung aller tragenden Bauteile neu montiert. Im November 1936 brannte der Kristallpalast nach einem Großfeuer komplett nieder. Der Kristallpalast von Joseph Paxton stach als gefeiertes Signum einer neuen Zeit hervor. Doch waren es die zahlreich produzierten kleinen Fertighäuser, die bereits im 19. Jahrhundert die wesentlichen Grundzüge des späteren Plattenbaus vorzeichneten: Dazu gehörte erstens das vor allem staatliche Interesse an der Prefabrikation, zweitens der Charakter von Plattenbauten als „Notnagel“ in Zeiten akuten Wohnraumbedarfs und drittens das damit verbundene Image einer nur zweit- bis drittklassigen Architektur. 12
Signum einer neuen Zeit – Außenansicht des Kristallpalasts nach der Verlegung des Gebäudes nach Sydenham, Süd-London, im Anschluss an die Ausstellung von 1851
Stahl oder Beton? Die Frage nach dem richtigen Stoff
Im 19. Jahrhundert dominierte der Stahlbau die Industriearchitektur. In Deutschland gründete Friedrich Krupp bereits 1811 das erste Stahlwerk in Essen. In diesen Stahlfabriken wurde durch die so genannte Verhüttung der Kohlenstoffgehalt des Grundstoffes Eisen derart gesenkt, dass der daraus gewonnene Stahl formbarer, haltbarer und damit industriell verwertbarer wurde. Die Stahlerzeuger lieferten fortan die Skelette für die Fabriken und Markthallen der wachsenden Großstädte. Auch im Wohnungsbau experimentierte man verstärkt mit dem neuen Baustoff Stahl.
Das von 1846 bis 1848 im österreichischen Graz errichtete „Eisenhaus“ am Südtirolerplatz, ein Stahlhaus in Form einer traditionellen Hütte, der 1867 fertig gestellte Stahlpavillon im brandenburgischen Lauchhammer, im maurischen Stil als Geschenk für den ägyptischen Vize-König erdacht, oder das 1883 gebaute Stahlfachwerkhaus am Nürnberger Trödelmarkt stellen bekannte Einzelversuche dar, die Fertigbauweise mit dem neuen Werkstoff zu verbinden. 13 Aber konnte sich die Verwirklichung einzelner Stahlhäuser auch auf den Bau ganzer Wohnsiedlungen übertragen lassen? Einige erhaltene Stahlhäuser dieser Zeit zeugen heute zumindest von einem: Sie rosteten kaum. Das letzte der 1888 in Berlin-Weißensee von Friedrich C. Heilemann errichteten Stahlhäuser der Berliner Magnesit-Werke wurde erst nach 100 Jahren 1989 abgerissen. 14 Die 1920er Jahre gaben dem Stahlhausbau in Deutschland neue Impulse. Musterhäuser aus Stahlskelett und -platten wurden 1926 zuerst im württembergischen Unterkochen und im sächsischen Beucha gezeigt. Bekannt ist ebenso das Stahlhaus in Dessau, 1926-1927 von den Bauhaus-Pionieren Georg Muche und Richard Paulick in der heutigen Südstraße 5 errichtet. 1929 schien der Höhepunkt der Stahlbauweise mit einem mehrgeschossigen Wohnhaus in Köln, einem achtgeschossigen Wohnblock in Paris oder dem Bahnhofshotel in Oberhausen vorläufig erreicht. 15
Das Stahlhaus von Georg Muche und Richard Paulick in Dessau im Januar 2009
Neben dem Stahlbau rückte die Verwendung von Beton ins Blickfeld moderner Architekten. Sprach man im 19. Jahrhundert von Beton, handelte es sich in den meisten Fällen um den 1824 patentierten „Portland-Zement“ des englischen Unternehmers Joseph Aspdin aus Leeds. Dieser Zement wurde als Bindemittel mit beigegebenen Steinkörnern und Wasser zum heute geläufigen Baustoff Beton. Nach einem ersten Aufschwung der Zementproduktion und Betonherstellung in Großbritannien, Frankreich und den USA setzte in den 1850er Jahren auch in Deutschland die Zementproduktion ein. 1909 gab es bereits an die 160 Zementwerke im Deutschen Reich. 16 Beton erwies sich als ideal für eine vorgefertigte Bauweise. Er war feuersicher und resistenter gegen den „Zahn der Zeit“, in der Herstellung formbar und dennoch auf Dauer fest. Zahlreich sind daher die im 19. Jahrhundert gebauten Häuser mit Beton. Das dreigeschossige Betonhaus des Franzosen Francois-Martin Leboun, 1830 in Marssak in Frankreich errichtet, oder das erste Betonhaus der USA von G. H. Ward, 1837 im Hafen von Staten Island in New York aufgebaut, sind nur zwei frühe Beispiele. 17 In Deutschland hatte der Baustoff Beton hingegen einige Hürden zu nehmen. Trotz wachsender Zementproduktion wurde die Anwendung im Wohnungsbau nur halbherzig erprobt und dazu durch staatliche Vorgaben gebremst. So war etwa bis 1903 die Verwendung von Beton für Außenwände und Brandmauern per Bauordnung in Berlin verboten. 18 Die ersten frühen Versuche von Betonhäusern in der Victoriastadt in Berlin-Rummelsburg hinterließen eher skeptische Eindrücke. Zwischen 1872 und 1875 errichtete die Berliner Cementbau AG in der heutigen, nach dem damaligen Baumeister benannten Türrschmidtstraße insgesamt 60 von ursprünglich 200 geplanten Reihenhäusern aus Beton. 19 Die nicht unterkellerten und ohne sanitäre Anlagen konzipierten Häuser fielen bei den Nutzern jedoch durch. Wasserpumpen und Aborthäuschen im Hof konnten nur schwer als Fortschritt vermarktet werden. Nach der Jahrhundertwende in Deutschland gebaute Betonhäuser wurden entweder im Zweiten Weltkrieg zerstört oder nachträglich abgerissen. Erhaltene Betonhäuser wie in Berlin-Victoriastadt wurden hingegen unter Denkmalschutz gestellt.
Ungeachtet dieser anfänglichen Startschwierigkeiten in Deutschland war die Fusion von Stahl- und Betonbauweisen international längst vollzogen. François Hennebiques patentiertes Verfahren, Stahlstäbe und Stahlwinkel zur Stabilisierung in den Beton einzulassen, wurde zur Grundlage erster großer Stahlbetonbauten in den USA. Der Liverpooler Stadtingenieur John A. Brodie schuf 1905 ein zwölfgeschossiges Wohnhaus aus Beton- und Stahlplatten. 20 Seine Versuche wiederum inspirierten den amerikanischen Ingenieur Grosvenor Atterbury zu einem System aus vorher gegossenen Betonplatten mit Hohlräumen und Einheiten mit haushohen Paneelen. Er setzte dies in der New Yorker Siedlung Forest Hills ab 1918 konsequent um. 21 Die vor allem in den USA vorangetriebene Verbindung beider Baustoffe kam über die Niederlande auch nach Europa. Die Amsterdamer Siedlung Watergraafsmeer wurde später als „Betondorp“ bezeichnet und trägt so die Ankunft der neuen Bauweise in Europa im Namen selbst.
In Deutschland forcierte der Sozialdemokrat Martin Wagner als Stadtbaurat die technische Modernisierung des in den 1920er Jahren noch stark handwerklich organisierten Baubetriebs in Berlin. Er war der Initiator zur Realisierung der ersten deutschen Siedlung in Betonplattenbauweise, der heutigen Splanemannsiedlung in Berlin-Friedrichsfelde. Diese vom „Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen“ in Auftrag gegebene Siedlung sollte nach der Idee Wilhelm Primkes zunächst in traditioneller Weise in konventionellem Stil mit Satteldach gebaut werden. Martin Wagner verordnete jedoch noch in der Planungsphase das Umschwenken auf die moderne Technologie mit Betonplatten, wie er sie zuvor in New York auf der Baustelle Atterburys und in Amsterdam kennen gelernt hatte. 22 Die von 1926 bis 1930 entstandene „Kriegerheimsiedlung“ wurde 1951 in der DDR nach einem antifaschistischen Widerstandskämpfer offiziell in „Splanemannsiedlung“ umgetauft.
Markanter Eingang - Die heutige Splanemannsiedlung in Berlin-Friedrichsfelde im Oktober 2008
Der Einsatz von Stahl und Beton in der Architektur wurde nicht nur durch wirtschaftliche, sondern auch durch gesellschaftliche und politische Entwicklungen beeinflusst. Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 und das ihm vorausgegangene Wettrüsten in Europa veränderten die weltweite Verteilung und Verwendung der Rohstoffe. Stahl war die Basis der Rüstungsindustrien in den Krieg führenden Ländern, er wurde zur Herstellung tausender Geschütze und ganzer Hochseeflotten verwendet. Die während des Ersten Weltkriegs dramatisch ansteigende Rüstungsproduktion vergrößerte dadurch den Mangel von Stahl als Baumaterial für Wohnhäuser. Mehr und mehr eroberte so die billigere Betonbauweise den europäischen Markt. 23 Beton war in seiner Herstellung unabhängiger von den vorhandenen Rohstoffen eines Landes. In der Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1939 bestimmten Stahlmangel und der wachsende Bedarf des sozialen Wohnungsbaus den Markt für Baumaterialien. Ein Markt, auf dem die reine Stahlbauweise in Deutschland immer weniger Wettbewerbschancen besaß. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1945 wurde die kostengünstigere Variante der Betonbauweise für den sozialen Wohnungsbau bevorzugt und bis heute beibehalten. Der Einfluss kriegswirtschaftlicher Faktoren auf die Verfügbarkeit von Baumaterialien zeigt sich auch im internationalen Vergleich. In den USA, die während des Ersten Weltkrieges kaum durch Restriktionsmaßnahmen zugunsten der Rüstungsindustrie betroffen waren, setzte sich der Stahlbau gegenüber dem Betonbau als dominierende industrielle Bauweise durch. 24
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