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Kitabı oku: «Die Schatzinsel», sayfa 2

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Drittes Kapitel

Der schwarze Fleck

Um die Mittagszeit ging ich mit kühlenden Getränken und Medizin zum Kapitän hinauf. Er lag ungefähr so, wie ich ihn verlassen hatte, nur etwas höher und war matt und dabei erregt.

„Jim,“ sagte er, „du bist der einzige hier, der was wert ist, und du weißt, ich hab dich immer gut behandelt. Jeden Monat hast du dein silbernes Vierpennystück bekommen. Und jetzt, siehst du, mein Freund, geht’s mir gar nicht gut, und alle haben mich verlassen, Jim! Willst du mir ein Gläschen Rum bringen? Nicht wahr ja, Freundchen?“

„Der Doktor – “ begann ich.

Da fing er mit schwacher Stimme an, aber doch tüchtig, auf den Doktor zu fluchen. „Die Doktors sind alle Waschlappen,“ sagte er, „und was versteht dieser Doktor da von Seeleuten? Ich bin in Orten gewesen, wo es so heiß war wie Pech und rund um mich fielen die Kameraden am gelben Fieber um und der verfluchte Boden schwankte wie das Meer vor Erdbeben – , was weiß der Doktor von solchen Ländern? Und dort lebte ich nur von Rum, sag ich dir! Der war Speise und Trank und Mann und Weib für mich. Und wenn ich jetzt keinen kriegen kann, wo ich armes, altes Wrack am Strande liege, dann soll mein Blut über dich kommen, Jim, über dich und diesen Waschlappen von Doktor!“ – und er fluchte noch eine Weile weiter. „Schau her, Jim, wie meine Finger zittern“, fuhr er in bittendem Tone fort. „Ich kann und kann sie nicht ruhig halten. Diesen ganzen verfluchten Tag lang habe ich keinen Tropfen gekriegt. Dieser Doktor ist ein Narr, sag ich dir. Wenn ich nicht ein bißchen Rum kriege, kommen die Gespenster; ich hab’ schon welche gesehen. Ich habe den alten Flint in der Ecke dort hinter dir gesehen, ganz deutlich, wie gemalt habe ich ihn gesehen, und wenn ich das Gespenstische kriege (und ich hab’ immer ein rauhes Leben geführt), dann gibts einen Mordskrawall. Dein Doktor selbst hat gesagt, ein Glas schadet mir nichts, ich geb dir ein Goldstück, Jim, für ein Gläschen!“

Er regte sich immer mehr und mehr auf und das erschreckte mich meines Vaters wegen, dem es an diesem Tage gar nicht gut ging und der Ruhe benötigte. Und dann beruhigten mich die Worte des Doktors, an die er mich erinnert hatte, und sein Anerbieten mich zu bestechen beleidigte mich.

„Ich brauche kein Geld von Euch außer dem, das Ihr meinem Vater schuldet“, sagte ich. „Ich will Euch ein Glas holen, aber mehr nicht.“

Als ich es ihm brachte, ergriff er es gierig und leerte es auf einen Zug.

„Ach ja,“ sagte er, „das tut gut; und jetzt noch eins, Freundchen: wielange, hat der Doktor gesagt, muß ich hier in dieser alten Koje liegen bleiben?“

„Wenigstens eine Woche“, sagte ich.

„Teufel!“ schrie er. „Eine Woche! Das geht nicht, bis dahin sind sie mit dem schwarzen Fleck da, die Tölpel, die jetzt grad probieren, mir den Wind abzufangen. Solche Tölpel, die das Ihrige nicht zusammenhalten konnten und jetzt holen möchten, was anderen gehört. Ist das ordentliche Seemannsmanier, das möcht ich wissen? Ich freilich bin ein sparsamer Mensch, ich habe nie mein gutes Geld vertan oder verloren, und die werde ich schon noch übers Ohr hauen! Ich fürcht’ mich nicht vor ihnen. Ich werde ein anderes Segel aufziehen, da werde ich sie schon wieder drankriegen.“

Dabei war er schwerfällig aufgestanden und hielt sich an meiner Schulter aufrecht mit so festem Griff, daß ich fast aufgeschrien hätte und seine Füße bewegten sich unbehilflich wie eine tote Masse. So mutig seine Reden dem Sinne nach waren, in solch traurigem Gegensatz dazu stand die Schwäche der Stimme. Er hielt inne und setzte sich auf den Rand des Bettes.

„Dieser Doktor hat mich umgeschmissen“, murmelte er. „In meinen Ohren saust es. Leg mich wieder hin.“

Doch ehe ich ihm helfen konnte, war er wieder in die Kissen zurückgefallen und lag eine Weile still da.

„Jim!“ sagte er schließlich, „du hast den Seemann heute gesehen?“

„Den schwarzen Hund?“ fragte ich.

„Oh, der schwarze Hund,“ sagte er, „das ist wohl ein schlechter Kerl, aber die, die ihn geschickt haben, sind noch ärger. Und jetzt, wenn ich nicht fort kann, werden sie mir den schwarzen Fleck anhängen und weißt du, warum? Hinter meinem alten Kajütenkoffer dort sind sie her! Hör zu! Du setzt dich auf ein Pferd – nicht wahr, du kannst reiten? – und reitest ja, zum Kuckuck! du reitest zu diesem Waschlappen von Doktor hin und sagst ihm, er soll alle seine Beamten zusammentrommeln und soll sie hier in den ‚Admiral Benbow‘ führen und alle niederpfeffern, die ganze Mannschaft des alten Flint, alle, die noch übrig sind. Ich war erster Maat, der erste Maat des alten Flint, und ich bin der einzige, der die Karte hat. Er gab sie mir in Savannah als er todkrank dalag, wie ich jetzt, siehst du. Aber du wirst nichts verraten, nur wenn sie mir den schwarzen Fleck geben oder wenn du den schwarzen Hund wiedersiehst oder einen Seemann, dem ein Bein fehlt, ja, Jim, dann vor allem.“

„Was ist denn das, der schwarze Fleck, Kapitän?“ fragte ich.

„Das ist eine Vorladung, Kamerad, ich werde es dir schon sagen, wenn es so weit ist. Du halte schön die Augen auf, Jim, dann werde ich, bei meiner Ehre, zu gleichen Teilen mit dir teilen.“

Er faselte noch eine Weile weiter, doch seine Stimme wurde schwächer und schwächer und als ich ihm seine Medizin eingeflößt hatte, die er gehorsam wie ein Kind einnahm, meinte er: „Wenn je ein Seemann Medizinen gebraucht hat, so brauch ich sie jetzt“, fiel schließlich in einen schweren, ohnmachtähnlichen Schlaf, und ich verließ ihn. Was ich hätte tun müssen, um alles zu einem guten Ausgang zu führen, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hätte ich die ganze Geschichte dem Doktor erzählen sollen, denn ich war in Todesangst, daß der Kapitän seine Geständnisse bereuen und mich kaltmachen würde. Doch gerade an diesem Abend starb ganz plötzlich mein armer Vater und so war alles andere für mich in den Hintergrund getreten. Unser natürlicher Kummer, die Besuche der Nachbarn, die Vorbereitungen für das Leichenbegängnis und die tägliche Arbeit im Gasthof, alles zusammen nahm mich so in Anspruch, daß ich kaum dazu kam an den Kapitän zu denken, und noch weniger mich vor ihm zu fürchten.

Er kam am nächsten Morgen richtig herunter, bekam seine Mahlzeiten wie gewöhnlich, obwohl er wenig aß, trank aber, fürchte ich, mehr als die ihm erlaubte Dosis Rum, denn er holte ihn selbst aus dem Schankzimmer und schaute dabei so finster drein und brummte und schnaubte so wild, daß niemand dreinzureden wagte. Am Abend vor dem Leichenbegängnis war er so betrunken wie nur je, und es erregte Ärgernis, wie er da in einem Trauerhause sein häßliches altes Seemannslied grölte. Doch war er so schwach, daß wir alle für sein Leben fürchteten; dabei war der Doktor gerade von einem Schwerkranken sehr in Anspruch genommen, der viele Meilen entfernt wohnte, und kam nach meines Vaters Tode nie in die Nähe unseres Hauses. Ich habe schon gesagt, daß der Kapitän sichtlich abnahm, und seine Schwäche schien immer ärger zu werden, statt daß er sich erholte. Er klomm die Treppen hinauf und hinunter und ging vom Gastzimmer in den Schank und wieder zurück, und manchmal steckte er die Nase zur Türe hinaus, um den Seegeruch zu riechen und hielt sich dann an der Mauer fest und sein Atem ging schwer und rasch, wie wenn er einen steilen Berg besteigen würde. Er richtete niemals direkt das Wort an mich, und ich glaube er hatte seine Geständnisse so gut wie vergessen. Doch war seine Laune sehr wechselnd und trotz seiner körperlichen Schwäche war er heftiger als je. In der Trunkenheit hatte er eine beunruhigende Gewohnheit: sein Matrosenschnappmesser offen vor sich auf den Tisch zu legen. Aber trotz alledem kümmerte er sich weniger um die Leute und es machte den Eindruck, als sei er in seine eigenen Gedanken vertieft und ziemlich zerstreut. Einmal fing er beispielsweise zu unserem großen Erstaunen an, ein ganz neues Lied zu pfeifen, ein ländliches Liebeslied, das er in seiner Jugend gelernt haben mochte, ehe er zur See ging.

So standen die Dinge. Einmal, am Tage nach dem Leichenbegängnis, etwa um drei Uhr eines bitterkalten, nebligen, rauhen Nachmittags, als ich ein wenig vor der Tür stand und traurig an meinen Vater dachte, da sah ich auf einmal einen Mann langsam die Straße heraufkommen. Er war zweifellos blind, denn er tappte mit einem Stock vor sich her und trug einen grünen Schirm über Augen und Nase und ging gekrümmt, wie von Alter oder Schwäche gebeugt. Er trug einen alten, zerlumpten Matrosenkragen mit einer Kapuze, die ihn ganz bucklig erscheinen ließ. Nie in meinem Leben sah ich eine abstoßendere Erscheinung. Er blieb einige Schritte vor dem Gasthof stehen und erhob seine Stimme zu einem sonderbaren Singsang, in die leere Luft hineinfragend:

„Möchte ein guter Freund einem armen, blinden Mann, der sein kostbares Augenlicht bei der Verteidigung seines Vaterlandes England und seines Königs Georg – Gott segne ihn – verloren hat, sagen, wo und in welchem Teile des Landes er sich jetzt befinden mag?“

„Ihr seid beim ‚Admiral Benbow‘ an der Schwarzhügelbucht, mein guter Mann“, sagte ich.

„Ich höre eine Stimme,“ sagte er, „eine junge Stimme. Möchtet Ihr mir Eure Hand geben, mein gütiger junger Freund und mich ins Haus führen?“

Ich hielt meine Hand hin und das schauerliche, sanft klagende, augenlose Scheusal packte sie im selben Moment wie ein Schraubstock. Ich war so erschrocken, daß ich mich bemühte loszukommen, aber der Blinde zog mich mit einem einzigen eisernen Griff seines Armes ganz nahe an sich.

„Nun, Junge,“ sagte er, „führ mich zum Kapitän!“

„Herr!“ sagte ich, „auf mein Wort, ich wage es nicht.“

„So!“ grinste er, „so ist die Sache! Führ’ mich sofort hinein oder ich zerbrech dir den Arm!“

Und wie er das sagte, verrenkte er ihn mir so, daß ich aufschrie.

„Herr,“ sagte ich, „für Euch selbst fürchte ich. Der Kapitän ist ganz verändert, er sitzt mit offenem Messer da. Ein anderer Herr – “

„Also schnell jetzt! Marsch!“ unterbrach er mich, und ich habe nie eine so kalte, grausame und häßliche Stimme gehört wie die des blinden Mannes. Sie schüchterte mich noch mehr ein als der Schmerz, ich gehorchte ihm sofort und führte ihn geradewegs in die Gaststube, wo unser kranker, alter Freibeuter, von Rum benebelt, dasaß. Der blinde Mann hing fest an mir, hielt mich mit seiner eisernen Faust und lehnte sich so schwer an mich an, daß ich sein Gewicht kaum ertragen konnte. „Führ’ mich gerade auf ihn zu, bis er mich sehen kann, und dann rufe: ‚Hier ist ein Freund von Euch, Bill!‘ und wenn du das nicht tust, dann mach ich dir das da!“ Und zugleich zwickte er mich so, daß ich glaubte umsinken zu müssen. Der blinde Bettler jagte mir eine so entsetzliche Furcht ein, daß ich meine Angst vor dem Kapitän vergaß, und als ich die Tür der Gaststube öffnete, rief ich mit zitternder Stimme die Worte, die der unheimliche Fremde befohlen hatte.

Der arme Kapitän blickte auf und war im selben Moment völlig nüchtern. Der Ausdruck seines Gesichtes, wie er den Fremden anstarrte, war nicht so sehr Schrecken als tödliche Schwäche. Er machte eine Bewegung, um sich zu erheben, aber ich glaube, er hatte nicht mehr die Kraft dazu.

„Nun, Bill, bleib nur, wo du bist“, sagte der Bettler. „Wenn ich auch nicht sehe, so höre ich, wenn sich ein Finger rührt. Geschäft ist Geschäft. Gib deine linke Hand her. Junge! nimm seine linke Hand beim Gelenk und führ sie zu meiner Rechten.“

Wir gehorchten ihm aufs Wort und ich sah etwas aus seiner Hand, die den Stock hielt, in die des Kapitäns gleiten, die sich darüber sofort schloß.

„Also das ist in Ordnung“, sagte der blinde Mann. Und mit diesen Worten ließ er mich plötzlich los und schlüpfte mit unglaublicher Geschicklichkeit und Geschmeidigkeit auf die Straße hinaus, und als ich noch bewegungslos dastand, hörte ich schon seinen Stock weit draußen in der Ferne – tapp, tapp – auf der Landstraße.

Es dauerte eine Weile, ehe wir beide, der Kapitän und ich, unsere volle Besinnung wiedergewannen. Endlich ließ ich sein Handgelenk los, das ich noch umklammert hielt, und er zog seine Hand zurück und blickte scharf in die Handfläche.

„Zehn Uhr,“ rief er, „sechs Stunden! Wir tunken sie schon noch ein!“ und damit sprang er auf.

Doch plötzlich taumelte er, griff sich mit der Hand an die Kehle, schwankte einen Augenblick und mit einem sonderbaren Wehlaut fiel er der Länge lang vornüber zu Boden.

Ich lief sofort zu ihm hin, rief meine Mutter herbei, aber alle Eile war vergeblich; ein Herzschlag hatte ihn getötet.

Merkwürdig ist, daß ich, der ich sicherlich den Mann nie gemocht hatte, obwohl ich ihn in der letzten Zeit bemitleidete, in heftiges Weinen ausbrach, als ich sah, daß er tot war. Es war der zweite Todesfall, den ich erlebte, und der Kummer um den ersten stand noch frisch in meiner Seele.

Viertes Kapitel

Der Kajütenkoffer

Natürlich erzählte ich sofort meiner Mutter alles was ich wußte, und vielleicht hätte ich das längst tun sollen, denn wir sahen uns plötzlich in einer bösen, gefahrvollen Lage. Etwas vom Gelde des Mannes – wenn er überhaupt welches besaß – gehörte zweifellos uns, aber es schien sehr unwahrscheinlich, daß die Schiffskameraden unseres Kapitäns, am wenigsten die beiden Exemplare, die ich gesehen hatte, der schwarze Hund und der blinde Bettler, sich geneigt zeigen würden ihre Beute zur Zahlung der Schulden des Toten zu verwenden. Wenn ich den Befehl des Kapitäns ausgeführt und zu Dr. Livesay geritten wäre, hätte ich meine Mutter allein und schutzlos zurücklassen müssen, woran nicht zu denken war. Es schien tatsächlich unmöglich für uns beide, noch länger hier im Hause zu bleiben. Jedes Geräusch, das Prasseln der Kohle auf dem Küchenrost, sogar das Ticken der Uhr erfüllte uns mit Schrecken, wir glaubten fortwährend jemand heranschleichen zu hören, und wenn ich zur Leiche des Kapitäns, die da am Boden der Gaststube lag, hinsah und an den furchtbaren, blinden Bettler dachte, der in der Nähe herumschlich und bald wiederkommen wollte, ergriff mich eine so entsetzliche Angst, daß ich fühlte, wie mir die Haare zu Berge standen. Ein rascher Entschluß mußte gefaßt werden. Wir kamen schließlich auf den Gedanken zusammen fortzugehen und im benachbarten Dorfe Schutz zu suchen. Gesagt, getan. Barhäuptig liefen wir sofort in den sinkenden Abend und kalten Nebel hinaus.

Das Dörfchen lag ein paar hundert Schritte entfernt, doch so, daß wir es von unserem Gasthause aus nicht sehen konnten auf der gegenüberliegenden Seite der nächsten Bucht, und es beruhigte mich sehr, daß die Richtung jener entgegengesetzt war, aus der der blinde Mann gekommen und die er offenbar auch auf dem Rückwege eingeschlagen hatte. Wir waren nur wenige Minuten unterwegs, trotzdem wir mehrmals stehen blieben, um zu horchen, aber kein ungewohntes Geräusch war zu hören, nur das leise Anschlagen der Wellen am Strande und das Krächzen der Raben im Gehölz.

Die Lichter waren schon angezündet als wir das Dörfchen erreichten, und ich werde nie vergessen, wie sehr mich der freundliche Schein, der aus Türen und Fenstern hervorleuchtete, tröstete und ermutigte. Aber es stellte sich heraus, daß das der einzige Trost war, den wir hier finden sollten, denn – wer würde glauben, daß die Menschen einer solchen Feigheit fähig sein können! – keine Seele wollte mit uns in den „Admiral Benbow“ zurückgehen. Je mehr wir von unseren Sorgen erzählten, desto weniger wollten sie – Männer, Frauen und Kinder – den Schutz ihrer Häuser verlassen. Der Name des Kapitäns Flint, der mir fremd war, war manchem unter ihnen wohlbekannt und schien von Schrecken umgeben. Ein paar Männer, die tagsüber jenseits „Admiral Benbow“ auf Feldarbeit gewesen waren, erinnerten sich überdies mehrere Fremde auf der Straße gesehen zu haben, die sie für Schmuggler hielten und denen sie daher vorsichtig ausgewichen waren. Und einer hatte sogar ein kleines Küstenfahrzeug in einer versteckten Bucht, die das Möwenloch genannt wurde, liegen sehen. Außerdem fürchteten sie sich zu Tode vor den Genossen des schrecklichen Kapitäns. Nach vielem Herumreden zeigte es sich, daß sich zwar mehrere Leute fanden, die gern für uns zu Dr. Livesay reiten wollten, dessen Haus in entgegengesetzter Richtung lag, aber kein Mensch, der uns bei der Verteidigung des Gasthofes hätte beistehen mögen.

Man sagt, daß Feigheit ansteckend sei, andererseits wird man durch Mitteilung freier, und so hielt denn meine Mutter, nachdem jeder seinen Spruch gesagt hatte, eine kleine Rede. Sie werde, erklärte sie, das Geld, das ihrem vaterlosen Jungen gehöre, keinesfalls im Stich lassen. „Wenn keiner von euch sich traut,“ sagte sie, „Jim und ich, wir wagen es. Wir gehen den Weg zurück, den wir gekommen sind, und wenig Dank wissen wir euch, ihr großen, plumpen, kleinmütigen Männer. Wir werden diesen Koffer aufmachen und sollte es uns das Leben kosten. Und Ihnen, Frau Croßley, wäre ich dankbar, wenn Sie mir diese Tasche da borgen würden, damit ich das Geld, das mir gebührt, hineintun kann.“

Selbstverständlich war ich bereit mit meiner Mutter zu gehen, und natürlich schrien alle Zeter und Mordio über unsere Waghalsigkeit. Aber selbst jetzt wollte keiner der Männer mit uns kommen. Das einzige was sie für uns taten war, daß sie mir eine geladene Pistole mitgaben für den Fall, daß wir angegriffen werden sollten, und daß sie versprachen gesattelte Pferde bereitzuhalten, um nachzusetzen, wenn wir auf dem Rückweg verfolgt würden. Ein Bursch werde zu Dr. Livesay reiten, um bewaffnete Hilfe zu holen.

Mein Herz schlug heftig als wir beide uns in der kalten Nacht auf unseren gefährlichen Weg machten. Der Vollmond begann aufzusteigen und beschien rötlich den oberen Rand der Nebelwand und das trieb uns noch mehr zur Eile an, denn es war klar, daß, noch ehe wir zurück sein konnten, die ganze Gegend taghell beleuchtet sein würde und unsere Flucht von jedermann beobachtet werden konnte. Wir schlüpften rasch und geräuschlos die Hecken entlang und sahen und hörten nichts, was unsere Angst hätte vermehren können, bis sich zu unserer großen Erleichterung das Tor des „Admiral Benbow“ hinter uns geschlossen hatte.

Ich legte sogleich den Riegel vor und wir standen keuchend eine ganze Weile im Finstern allein im Haus mit der Leiche des Kapitäns. Dann holte meine Mutter eine Kerze aus dem Schankzimmer und einander die Hände haltend betraten wir die Gaststube. Er lag dort, wie wir ihn verlassen hatten, mit offenen Augen, den Arm ausgestreckt.

„Zieh den Vorhang zu, Jim!“ flüsterte meine Mutter, „sie könnten uns von draußen beobachten. Und nun“, sagte sie, als das geschehen war, „müssen wir diesem da den Schlüssel abnehmen. Aber wer soll ihn anrühren, möchte ich wissen!“ Dabei schluchzte sie vor Angst und Grauen.

Sofort war ich niedergekniet. Auf dem Fußboden neben seiner Hand lag ein kleines, rundes Stück Papier, dessen eine Seite geschwärzt war. Ich konnte nicht zweifeln, daß dies der „schwarze Fleck“ war, und als ich es aufhob, las ich auf der andern Seite, die mit sehr guter, klarer Schrift geschriebene kurze Mitteilung: „Bis heute zehn Uhr Abend hast du Zeit!“

„Bis zehn Uhr haben sie ihm Zeit gegeben, Mutter“, sagte ich, und gerade in diesem Augenblick begann unsere alte Uhr zu schlagen. Dieses plötzliche Geräusch erschreckte uns furchtbar, doch brachte es gute Botschaft, denn es war erst sechs.

„Nun, Jim,“ sagte sie, „den Schlüssel!“

Ich untersuchte seine Taschen, eine nach der anderen. Ein paar kleine Münzen, ein Fingerhut, etwas Zwirn und eine große Nadel, ein Päckchen Tabak, das Taschenmesser mit dem krummen Griff, ein kleiner Kompaß und ein Feuerzeug, das war alles, was zum Vorschein kam, und ich war nahe daran zu verzweifeln.

„Vielleicht hat er ihn um den Hals“, meinte meine Mutter.

Ich bezwang meinen starken Widerwillen, riß sein Hemd am Hals auf und richtig hing er da an einem Stück geteerten Bindfadens, den ich rasch durchschnitt. Dieses Gelingen erfüllte uns mit Hoffnung. Ohne Zögern eilten wir hinauf in das kleine Zimmer, wo er so lange gewohnt hatte und wo seit seiner Ankunft der Koffer stand.

Er sah von außen wie irgendein anderer Matrosenkoffer aus, oben war der Buchstabe „B“ mit einem heißen Eisen eingebrannt, die Ecken waren wie von langer, rücksichtsloser Benützung verbeult und abgebrochen.

„Gib mir den Schlüssel!“ sagte meine Mutter, und trotzdem das Schloß schwer ging, hatte sie ihn im Augenblick umgedreht und den Deckel geöffnet.

Ein starker Tabak- und Teergeruch stieg aus dem Innern auf, aber oben war nichts zu sehen als ein sehr sorgfältig gebürsteter und zusammengelegter Anzug, der, wie meine Mutter sagte, nie getragen worden war. Darunter begann das Durcheinander: Ein Quadrant, ein paar Päckchen Tabak, zwei Paar sehr schön gearbeitete Pistolen, ein Stück ungemünztes Silber, eine alte spanische Uhr und noch eine Menge ziemlich wertlosen Krams meist ausländischen Ursprungs, einige Kompasse, die mit Bronze montiert waren und fünf oder sechs merkwürdige westindische Muscheln. Noch später habe ich oft darüber nachgedacht, warum er wohl die Muscheln auf seinem unsteten, verbrecherischen und gejagten Leben mit sich geführt haben mag.

Inzwischen hatten wir an Wertgegenständen nur das Silber und die Kleinigkeiten gefunden und alles das war nicht unser Fall. Darunter lag ein alter Matrosenmantel, der vom Anreiben an manch einer von Seesalz zerfressenen Hafenbarre gebleicht war. Meine Mutter hob ihn ungeduldig auf und da lagen vor uns die letzten Gegenstände, die der Koffer enthielt: ein Bündel, in Wachstuch eingeschlagen, das anscheinend Papiere enthielt und ein Sack aus Segeltuch, bei dessen Berührung das Klirren von Gold zu hören war.

„Ich werde diesen Schurken zeigen, daß ich eine ehrliche Frau bin,“ sagte meine Mutter, „ich will das, was er mir schuldig ist, und nicht einen Heller mehr. Halte Frau Croßleys Tasche auf!“ und sie begann den Betrag der Zechschuld des Kapitäns aus dem einen in den anderen Sack hinüberzuzählen.

Es war ein langes, schwieriges Geschäft, denn die Münzen stammten aus aller Herren Länder und waren vom verschiedensten Wert – Dublonen, Guineen, Louisd’ors und ich weiß nicht was noch alles – willkürlich durcheinandergeworfen. Die Guineen waren fast am seltensten, und nur mit ihnen verstand meine Mutter zu rechnen.

Als wir etwa zur Hälfte fertig waren, faßte ich sie plötzlich am Arm, denn ich hörte durch die stille, klare Winternacht einen Ton, der mir das Blut in den Adern gerinnen machte – das Tappen des Stockes des blinden Mannes auf der gefrorenen Straße! Es kam näher und näher und wir saßen mit angehaltenem Atem. Dann schlug man stark an das Tor, wir hörten wie die Türklinke niedergedrückt und am Riegel gerüttelt wurde, dann war es lange drinnen und draußen still. Endlich fing das Tappen des Stockes wieder an und erstarb zu unserer unaussprechlichen Erlösung langsam in der Ferne.

„Mutter,“ sagte ich, „nimm das Ganze und schauen wir, daß wir fortkommen.“ Denn ich war sicher, daß das verriegelte Tor Argwohn erregt haben mußte und uns das ganze Hornissennest auf den Hals jagen würde. Wie froh ich trotzdem war, daß ich zugeriegelt hatte, kann niemand ermessen, der dem furchtbaren blinden Mann nie begegnet ist.

Aber meine Mutter, trotzdem sie voll Angst war, wollte dennoch keinen Pfennig mehr nehmen, als was ihr gebührte und bestand eigensinnig darauf, daß es auch keinesfalls weniger sein dürfte. Es sei noch lange nicht sieben, sagte sie, sie kenne ihr Recht und wolle es haben. Während sie noch mit mir herumstritt, hörten wir einen dünnen, leisen Pfiff ein gutes Stück entfernt vom Hügel her. Das war genug und mehr als genug für uns beide.

„Ich nehme, was ich habe“, sagte sie, aufspringend.

„Und ich nehme das da, um die Rechnung glattzustellen“, sagte ich, und nahm das Wachstuchpaket.

Im nächsten Augenblick tasteten wir uns beide die Treppe hinunter, da wir die Kerze bei dem leeren Koffer zurückgelassen hatten und eine Minute später waren wir draußen und in vollem Rückzug. Wir waren keinen Moment zu früh aufgebrochen. Der Nebel teilte sich rasch und schon beschien der Mond die Raine an beiden Seiten der Straße, und nur ganz am Grunde des Tales und rund um das Wirtshaus hing noch ein dünner Nebelschleier, der die ersten Schritte unserer Flucht deckte. Lange ehe wir den halben Weg zum Dorfe zurückgelegt hatten, mußten wir hinaus in das helle Mondlicht. Aber nicht genug daran. Der Klang mehrerer Schritte schlug an unser Ohr, und als wir in die Richtung blickten, sahen wir ein hin und her schwankendes Licht näherkommen. Es war klar, daß das nur eine Laterne sein konnte, die einer der Herannahenden trug.

„Liebling,“ flüsterte meine Mutter plötzlich, „nimm das Geld und lauf, ich kann nicht weiter, ich werde ohnmächtig!“

Das war unser beider sicheres Ende. Wie ich da die Feigheit der Nachbarn verfluchte, wie ich meiner armen Mutter grollte wegen ihrer Ehrlichkeit und ihrer Habsucht, ihrer früheren Tollkühnheit wegen und ihrer jetzigen Schwäche! Wir waren zum Glück eben zu einer kleinen Brücke gekommen und ich half der Wankenden zum Uferrand hinunter, wo sie mit einem Seufzer ohnmächtig an meine Schulter sank.

Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm, sie zu tragen und ich fürchte, ich habe es nicht sehr zart gemacht, aber immerhin schleppte ich sie die Böschung hinunter und ein Stückchen unter den Brückenbogen. Weiter konnte ich sie nicht bringen, denn die Brücke war zu niedrig, so daß ich nur hineinkriechen konnte. Dort mußten wir bleiben, meine Mutter fast ganz unbeschützt, und wir beide in Hörweite vom Gasthofe.