Kitabı oku: «Berge im Kopf», sayfa 2
Zudem waren Berge gefährliche Aufenthaltsorte. Man glaubte, dass Lawinen bereits von so geringfügigen Anlässen ausgelöst werden konnten wie einem Hüsteln, dem Bein eines Käfers oder dem Flügelschlag eines Vogels, der dicht über einen schneebeladenen Hang dahinfliegt. Man konnte in den blauen Schlund einer Gletscherspalte stürzen und erst Jahre später zerschlagen und steif gefroren vom Gletscher wieder ausgespuckt werden. Oder man konnte einem Gott, einem Halbgott oder einem Ungeheuer begegnen, die verärgert waren, weil man ihr Territorium durchquert hatte – Berge galten traditionell als Sitz des Übernatürlichen und Feindseligen. In seinen berühmten Reisen beschreibt Jean de Mandeville den Stamm von Mördern, die, angeführt vom mysteriösen »Alten Mann der Berge«, hoch oben unter den Gipfeln des Elbrus-Massivs leben. In Thomas Morus’ Utopia hausen »im Hochgebirge« die Zapoleten, ein »furchterregendes, wildes und grausames Volk«. Zugegebenermaßen waren Berge in der Vergangenheit ein Ort der Zuflucht für Völker im Belagerungszustand – beispielsweise flohen Lot und seine Töchter ins Gebirge, als sie aus Zoar vertrieben wurden –, aber allgemein waren sie eine Landschaftsform, die es zu meiden galt. Es hieß, dass man Berge um jeden Preis umgehen sollte, und so ging man an ihren Flanken entlang oder, falls absolut notwendig – wie etwa für viele Händler, Soldaten, Pilger und Missionare – durchquerte sie, bestieg aber sicherlich nicht ihre Gipfel.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts suchte man jedoch erstmals die Berge aus anderen Beweggründen auf als aus reiner Notwendigkeit. Und mit der Zeit entwickelte sich ein allgemeines Bewusstsein für die Schönheit der Gebirgslandschaft. 1786 wurde der Gipfel des Mont Blanc erreicht, und das Bergsteigen im eigentlichen Sinn entstand Mitte des 19. Jahrhunderts aus wissenschaftlichem Erkenntnisdrang (in der Frühzeit dieses Sports hätte kein Bergsteiger, der etwas auf sich hielt, einen Gipfel bestiegen, ohne dort oben wenigstens den Siedepunkt von Wasser zu bestimmen), war zweifellos aber auch von der Schönheit inspiriert. Die komplexe Ästhetik von Eis, Sonnenlicht, Fels, Höhe, senkrechten Abbrüchen und klarer Luft – was der englische Schriftsteller und Maler John Ruskin als die »endlose Klarheit des Raumes, die immerwährende Reinheit des ewigen Lichtes« bezeichnete – empfand der Mensch des ausgehenden 19. Jahrhunderts unbestritten als prachtvoll. Die Berge begannen eine starke und oft verhängnisvolle Anziehungskraft auf den menschlichen Geist auszuüben.
»Die Wirkung dieses seltsamen Matterhorns auf die Vorstellungskraft ist tatsächlich so groß, dass selbst die ernsthaftesten Philosophen sich ihr nicht entziehen können«, behauptete Ruskin 1862 stolz von seinem Lieblingsberg. Drei Jahre später wurde das Matterhorn erstmals bestiegen; beim Abstieg stürzten vier der erfolgreichen Erstbesteiger tödlich ab.
Um die Jahrhundertwende waren alle Alpengipfel bestiegen – die der Westalpen hauptsächlich durch Engländer und ihre einheimischen Führer –, und fast alle Alpenpässe auf Karten verzeichnet. Das sogenannte Goldene Zeitalter des Alpinismus war vorüber. Viele hielten die Berge Europas für passé, und das Interesse der Bergsteiger wandte sich dem Höhenbergsteigen zu, bei dem sie sich extremen Anstrengungen und noch größeren Risiken aussetzten, um die Gipfel des Kaukasus, der Anden und des Himalaja zu erreichen: Ushba, Popocatépetl, Nanga Parbat, Chimborazo oder Kasbek, an dem in der griechischen Mythologie Prometheus von Hephaistos an den Fels gekettet wurde.
Die Macht, die diese hohen Berge an der Schwelle zum 20. Jahrhundert auf ihre Bewunderer ausübten, war enorm, und oft wurden sie zum Objekt einer Besessenheit. Der Kangchendzönga, ein Achttausender, der bei gutem Wetter vom hoch gelegenen Darjeeling aus zu sehen ist, fesselte jahrzehntelang die Sahibs und Memsahibs, die im Sommer der Hitze des indischen Tieflands entflohen.
»Klar und sauber zeichnet sich der schneebedeckte Gipfel des Kangchenzönga vor dem dunkelblauen Himmel ab, so ätherisch wie der Geist, weiß und rein im Sonnenlicht […]. Wir sind erbaut«, stimmte Francis Younghusband an, der englische Offizier und Forschungsreisende, der die Briten 1904 bei ihrem Angriff auf Tibet anführte. Ein begieriges Publikum verfolgte 1892 über die Berichte in der Londoner Tageszeitung The Times die Geschicke der gewagten Expedition von Martin Conway zum Gasherbrum im Karakorum. Und der Everest, der höchste und mächtigste Gipfel von allen, verzauberte ganz Großbritannien, das diesen Berg weitgehend als den seinen betrachtete. Unter den Verzauberten war auch George Mallory, dessen Tod am Nordostgrat im Jahr 1924 die Nation schockierte. Ein Zeitungsnachruf für Mallory und Irvine machte voller Bewunderung auf die »enge geistige Verbundenheit zwischen den Menschen daheim und den Gipfelstürmern« aufmerksam.
Edward Lear, Kangchenjunga from Darjeeling, 1879
Die Gefühle und die Einstellungen, von denen die frühen Bergsteiger angetrieben wurden, bestimmen heute noch die Vorstellungen der westlichen Welt, wenn sie nicht sogar noch tiefer verwurzelt sind. Millionen von Menschen huldigen dem Kult der Berge. Das Senkrechte, das Wilde, das Eisige – all diese Landschaftsformen werden mittlerweile verehrt. Ihre Darstellungen durchdringen eine urbanisierte westliche Zivilisation, die immer gieriger nach Wildnis und Wildheit sucht, nach Grenzerfahrungen, selbst wenn es sich dabei nur um solche aus zweiter Hand handelt. Der Bergsport ist eine der am schnellsten wachsenden Freizeitaktivitäten der letzten zwanzig Jahre. Geschätzte 10 Millionen Amerikaner gehen jedes Jahr bergsteigen, 50 Millionen wandern. Rund 4 Millionen Briten halten sich für mehr oder weniger gute Berggänger. Weltweit wird der Umsatz mit Outdoor-Produkten und -Dienstleistungen auf 7,8 Milliarden Euro im Jahr geschätzt, Tendenz steigend.2
Was das Bergsteigen von anderen Freizeitaktivitäten unterscheidet, ist die Tatsache, dass manche seiner Anhänger dabei umkommen. Innerhalb von sieben mörderischen Wochen starben im Sommer 1997 in den Alpen 103 Menschen. Allein im Mont-Blanc-Gebiet ist die durchschnittliche Zahl der Todesfälle pro Jahr fast dreistellig. Es gibt Winter, in denen im schottischen Hochland mehr Menschen umkommen als auf den Straßen ringsum. Als Mallory den Everest anging, war dieser die letzte Bastion der Erde, die sich noch nicht hatte erobern lassen, der »Dritte Pol«. Heute ist er ein gigantischer, geschmackloser, eisiger Taj Mahal, eine kunstvoll mit Zuckerguss glasierte Hochzeitstorte, auf deren Hauptrouten Expeditionsveranstalter jährlich Hunderte von unerfahrenen Kunden hinauf- und hinablotsen. Seine Hänge sind mit Leichen aus der heutigen Zeit übersät: Die meisten liegen in jenem Bereich, der allgemein als Todeszone bezeichnet wird, in einer Höhe, in der sich der menschliche Körper nicht mehr erholt und einem allmählichen, aber unaufhaltsamen Degenerationsprozess unterworfen ist.
Im Verlauf von drei Jahrhunderten hat sich also in der westlichen Welt ein tiefgreifender Wandel in der Wahrnehmung der Berge vollzogen. Jene Eigenschaften, derentwegen die Berge einst gemieden wurden – Steilheit, Einsamkeit, Gefährlichkeit –, wurden nun als ihre größten Attraktionen gepriesen.
Diese Veränderung war so drastisch, dass sie – aus heutiger Perspektive betrachtet – verdeutlicht, wie stark unsere Reaktion auf Landschaften kulturell geprägt ist. Das heißt: Wenn wir eine Landschaft betrachten, sehen wir nicht das, was dort ist, sondern weitgehend das, was wir dort erwarten. Wir schreiben einer Landschaft Eigenschaften zu, die sie nicht von sich aus besitzt, Wildheit beispielsweise oder Trostlosigkeit, und bewerten sie entsprechend. Mit anderen Worten: Wir lesen Landschaften. Wir interpretieren ihre Formen vor dem Hintergrund unserer eigenen Erfahrung und Erinnerung sowie unseres gemeinsamen kulturellen Gedächtnisses. Obwohl die Menschen die Wildnis traditionsgemäß auch aufsuchten, um der Kultur oder den Konventionen zu entfliehen, haben sie diese Wildnis doch so wahrgenommen, wie alles wahrgenommen wird: nämlich durch einen Filter von Assoziationen. Der Dichter und Landschaftsmaler William Blake hat dies auf den Punkt gebracht. »Der Baum«, schrieb er, »der die einen zu Freudentränen rührt, ist in den Augen anderer nur ein grünes Ding, das im Weg steht.« Dasselbe gilt, historisch betrachtet, für die Berge. Jahrhundertelang galten sie als nutzlose Hindernisse, als »beträchtliche Auswölbungen«, wie Dr. Johnson sie abwertend bezeichnet hat. Nun werden sie zu den erlesensten Formen der Natur gezählt, und es gibt Leute, die aus Liebe zu ihnen bereit sind zu sterben.
Was wir einen Berg nennen, ist also in Wirklichkeit das Zusammenspiel der physischen Erscheinungsformen der Welt und der menschlichen Vorstellungskraft – ein Berg in unserem Kopf. Und wie sich der Mensch gegenüber den Bergen verhält, hat kaum etwas mit den tatsächlichen Objekten aus Fels und Eis zu tun. Berge sind nur geologische Zufallsprodukte. Sie töten nicht absichtlich und wollen auch nicht gefallen. Alle emotional besetzten Eigenschaften, die sie besitzen, werden ihnen von der menschlichen Fantasie zugeschrieben. Wie Wüsten, die arktische Tundra, tiefe Ozeane, Dschungel und all die anderen wilden Landschaften, die wir uns zu Lebewesen romantisiert haben, sind Berge einfach da. Und sie bleiben da, wenn auch ihre physische Form durch die Kräfte der Geologie und der Witterung nach und nach verändert wird, denn sie bestehen jenseits der Wahrnehmung durch den Menschen weiter. Sie sind jedoch auch das Produkt der menschlichen Wahrnehmung; über Jahrhunderte hinweg hat man sich ein Bild von ihnen gemacht. Dieses Buch versucht aufzuzeichnen, wie sich diese Vorstellungen von den Bergen im Lauf der Zeit verändert haben.
Eine Kluft zwischen Vorstellung und Wirklichkeit zeichnet alles menschliche Tun aus, in Bezug auf die Berge ist diese aber besonders stark ausgeprägt. Stein, Fels und Eis fassen sich wesentlich unangenehmer an, als es das geistige Auge erwartet, und die Berge der Welt stellten sich oft als widerspenstiger, auf verhängnisvolle Art realer heraus als die Berge im Kopf. Wie Herzog an der Annapurna und ich am Lagginhorn begriff, sind die Berge, die man bestaunt, über die man liest, von denen man träumt und die man begehrt, nicht diejenigen, die man besteigt. Letztere bedeuten harter, steiler, scharfkantiger Fels und eisiger Schnee, extreme Kälte und eine intensive Ausgesetztheit, die einem den Magen zusammenkrampfen kann und in den Eingeweiden spürbar wird. Sie bedeuten Bluthochdruck, Übelkeit und Erfrierungen – und unbeschreibliche Schönheit.
Es gibt einen Brief von George Mallory, den er während der Erkundungsexpedition zum Everest im Jahr 1921 an seine Frau Ruth schrieb. Die Vorhut der Expedition lagerte mehr als 100 Kilometer vom Berg entfernt, zwischen einem tibetischen Kloster und der Zunge des Gletschers, der vom Fuß des Everest herabzog. Hier brach das Eis, beschrieb Mallory, »wie die riesigen Wellen eines braunen, wütenden Meeres«. Es war ein unwirtlicher Ort, kalt, hoch gelegen und dem Wind ausgesetzt, der sich durch den mitgeführten Schnee und Staub materialisierte und in schmutzigen Wirbeln durch die Felsen fegte. Mallory hatte diesen Tag, den 28. Juni, mit einer ersten Annäherung an den Berg verbracht, an dem er drei Jahre später sterben würde. Es war ein anstrengender Tag für ihn gewesen: Morgens um Viertel nach drei war er aufgestanden und erst nach 8 Uhr abends zurückgekehrt. Nach einem kilometerlangen Marsch über Gletschereis, Moränen und Fels. Zweimal war er in Gletschertümpel gestürzt.
Am Ende dieses Tages lag Mallory erschöpft in seinem beengten, durchhängenden Zelt und schrieb im fleckigen Licht einer Sturmlampe einen Brief nach Hause. Er wusste, dass seine Arbeit am Berg für dieses Jahr wahrscheinlich beendet sein würde, wenn der Brief einen Monat später bei ihr in England eintraf. Den größten Teil nahm der Bericht über die Anstrengungen des vergangenen Tages ein, aber in den letzten Absätzen versuchte Mallory, Ruth zu vermitteln, wie er sich dabei fühlte, an einem solchen Ort zu sein und eine solche Tat in Angriff zu nehmen. »Der Everest hat die steilsten Grate und die furchtbarsten Abgründe, die ich je gesehen habe«, schrieb er. »Liebling – ich kann dir nicht beschreiben, wie sehr er Besitz von mir ergriffen hat.«
Dieses Buch versucht zu erklären, wie das möglich ist: Wie ein Berg so vehement Besitz von einem Menschen ergreifen kann. Wie etwas, das letztendlich nur eine Fels- und Eismasse ist, solch eine außergewöhnliche Anziehungskraft ausüben kann. Aus diesem Grund untersucht es nicht, auf welche Weise die Menschen die Berge bestiegen haben, sondern was sie sich darunter vorgestellt haben, was sie für die Berge empfunden und wie sie die Berge wahrgenommen haben. Daher geht es weniger um Namen, Daten, Gipfel und Höhenangaben, wie in den Standardgeschichten vom Bergsteigen, sondern eher um Eindrücke, Gefühle und Vorstellungen. Es ist eigentlich auch keine Geschichte des Bergsteigens, sondern eine Geschichte der Vorstellungen davon.
»Hohe Berge sind – für mich – eine Empfindung«, erklärt Junker Harold in Lord Byrons Prosagedicht Childe Harold’s Pilgrimage, während er nachdenklich in das ruhige Wasser des Genfer Sees schaut. Die folgenden Kapitel zeichnen in Form einer Genealogie nach, welche emotionalen Beziehungen zu den Bergen aufeinander folgten, wie diese Gefühle jeweils entstanden sind, übernommen wurden, sich veränderten und weitergegeben wurden, bis sie der Einzelne oder ein ganzes Zeitalter annahm. Das Schlusskapitel erörtert, was dazu führte, dass George Mallory so besessen vom Everest war, dass er wegen dieses Berges seine Frau und seine Familie verließ und schließlich von ihm getötet wurde. Mallory ist ein Paradebeispiel für die Themen dieses Buches, da sich in ihm die verschiedenen Empfindungen für die Berge mit ungewohnter und tödlicher Vehemenz vereinigten. Für dieses Kapitel habe ich Mallorys Briefe und Tagebücher um meine eigenen Vermutungen ergänzt, um die drei Everest-Expeditionen der 1920er-Jahre, an denen Mallory teilnahm, spekulativ zu rekonstruieren.
Um einen historischen Abriss der Gefühlsempfindungen zu den Bergen zu entwerfen, müssen wir in der Zeit weit zurückgehen – vor meine ängstliche Querung des steilen Schneehangs in den Alpen, noch vor Herzog, dem auf dem Gipfel der Annapurna die Namen seiner illustren Vorgänger durch den Kopf gehen, noch vor Mallory, der am Fuß des Everest auf seinem Lager einen Brief an Ruth kritzelt, während in der Ecke die Sturmlampe leise surrt. Sogar noch vor jene vier Männer, die im Jahr 1865 von den Felsen des Matterhorns stürzen. Wir müssen zurück in jene Zeit, in der das moderne Repertoire an Empfindungen für die Berge zu entstehen begann. Also zurück in den Sommer 1672. In die für die Jahreszeit ungewöhnliche Kälte auf einem Pass, über den der Philosoph und Geistliche Thomas Burnet seinen jungen aristokratischen Zögling, den Earl of Wiltshire, über die Alpen und hinab in die Lombardei führt. Denn bevor die Berge geliebt werden konnten, musste ihre Entstehung geklärt werden, und dafür stellte sich Burnet als unentbehrlich heraus.
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DAS GROSSE BUCH AUS STEIN
»Unsere Phantasien können beeindruckt werden, wenn wir die Berge als Monumente der langsamen Arbeit gewaltiger Naturkräfte durch unzählige Jahrhunderte betrachten.«
LESLIE STEPHEN, 1871
August 1672 – Hochsommer auf dem europäischen Kontinent. In Mailand und Genua schwitzten die Bürger unter der starken europäischen Sonne. Fast 2000 Meter höher fröstelt Thomas Burnet am Simplon-Pass, einem der wichtigsten Übergänge der Alpen. Mit ihm friert der junge Graf von Wiltshire, ein Ur-Ur-Enkel von Thomas Boleyn, dem Vater der unglücklichen Anne, der zweiten Frau König Heinrichs VIII., die er hinrichten ließ. Der Junge brauchte eine Ausbildung, hatte seine Familie entschieden, und Burnet, ein anglikanischer Geistlicher mit außergewöhnlich reicher Vorstellungskraft, hat diese Aufgabe übernommen. Sie sollte zu einem zehnjährigen Bildungsurlaub von seinem Lehrstuhl am Christ’s College in Cambridge führen. Er wird zum Beschützer und Reiseleiter einer ganzen Reihe heranwachsender Aristokraten; der junge Graf ist der Erste von ihnen.
Für Burnet ist es ein Vorwand, den katholischen Kontinent zu besuchen. Die beiden werden mit ihrem mürrischen Führer und seinen wiehernden Maultieren den Simplon-Pass überqueren und danach Richtung Süden reisen, am schillernden Lago Maggiore entlang, dann durch die Obstgärten und Dörfchen der Gebirgsausläufer, schließlich über das grüne Fries der Lombardischen Ebenen bis hinab zu den blassen, erbaulichen Städten Norditaliens, die der Junge sehen muss – an erster Stelle Mailand.
Simplonpass mit Böshorn und Fletschhorn
Doch zunächst steht die Überquerung der Alpen an. Es gibt wenig, was den Simplon-Pass anziehend macht. Am höchsten Punkt des Passes steht eine rudimentäre Herberge, aber sie ist kein angenehmer Ort für eine Übernachtung. Die Kälte dort oben geht einem bis auf die Knochen, und es gibt Bären und Wölfe in der Gegend. Die Herberge selbst ist eigentlich ein Schuppen und wird bewirtschaftet von Savoyarden, Schäfern, die widerwillig auch noch die Gäste betreuen.
Trotz dieser zahlreichen Unannehmlichkeiten ist Burnet glücklich. Denn hier hat er mitten in den Bergen einen Ort entdeckt, der vollkommen anders ist als jeder andere Ort, den er kennt, und der sich so seinen Vergleichsmöglichkeiten entzieht. Für Burnet ist diese Landschaft wahrlich einzigartig auf dieser Erde. Obwohl es Sommer ist, liegt dort Schnee in hohen, vom Wind geformten und hart gefrorenen Verwehungen, denen die Sonne offenbar nichts anhaben kann. Im Sonnenlicht schimmern sie golden, im Schatten sehen sie aus wie das cremige Grauweiß von Knorpel. Felsbrocken so groß wie Gebäude liegen dort verstreut und werfen blaue Schatten. Das Geräusch fernen Donners rollt von Süden heran, doch die einzigen Blitze sind mehr als eintausend Meter unterhalb von Burnet über dem Piemont sichtbar. Er ist entzückt davon, über dem Gewitter zu sein.
Dort unten in Italien sind die berühmten Ruinen von Rom, die der junge Graf als Teil seiner Lektion über die Antike besuchen muss, weiß Burnet. Auch Burnet selbst bleibt nicht unberührt angesichts der Pracht von Roms zerstörten Tempeln und den vergoldeten, weinenden Heiligen in den Nischen der Kirchen. Aber dort oben ist etwas, das er später beschreiben wird als »diese ungeheuren Gebirgsformen« zwischen dem gigantischen Geröll der Alpen, das für Burnet letztendlich viel beeindruckender und überwältigender ist als die Ruinen von Rom. Obwohl Burnet die Berge schon wegen seines Alters als feindlich und abweisend empfinden muss, fühlt er sich auf seltsame Weise von ihnen angezogen. »Sie haben etwas Erhabenes und Würdevolles«, schrieb er nach der Überquerung des Simplon-Passes,
etwas, das den Geist zu großen Gedanken und Leidenschaft inspiriert […]. Wie all jene Dinge, die zu groß sind, um sie begreifen zu können, erfüllen und überfluten sie den Geist durch ihr Übermaß und versetzen ihn in einen angenehmen Zustand von Benommenheit und Vorstellungskraft.
Während seines zehnjährigen Aufenthalts auf dem Kontinent hat Thomas Burnet zusammen mit verschiedenen jungen Zöglingen mehrmals die Alpen und den Apennin überquert. Der mehrmalige Anblick dieser »wilden, großen, unverdauten Haufen aus Steinen und Erde« ließ in Burnet den Wunsch reifen, den Ursprung dieser fremden Landschaft verstehen zu können. Warum sind diese Felsen so weit verstreut? Und warum hatten die Berge so eine starke seelische Wirkung auf ihn? Die Berge beschäftigten Burnets Fantasie und seine Forscherinstinkte so stark, dass er befand, sich nicht mehr wohlfühlen zu können, bevor er nicht eine akzeptable Erklärung dafür gefunden habe, »wie es zu diesem Durcheinander in der Natur gekommen ist«.
Und so begann Burnet an seinem kunstvollen, apokalyptischen Meisterwerk zu arbeiten, dem ersten Buch, das den Bergen, den zeitlosesten aller Objekte, eine Vergangenheit zuschrieb. Burnet schrieb in einer Zeit, die man in Europa als bedrohlich empfand. In den Jahren 1680 und 1682 wurden ungewöhnlich grelle Kometen am Himmel beobachtet. Edmond Halley hatte bei seinen Himmelsbeobachtungen von der Spitze eines Vulkans seinen eigenen glühenden Boten ausgemacht, ihn nach sich selbst benannt und seine Rückkehr im Jahre 1759 korrekt vorausgesagt. In ganz Europa wurden Tausende von Flugblättern gedruckt, die bevorstehende Katastrophen für die zivilisierten Länder ankündigten: den Tod von Königen, die Ernte zerstörende Stürme, Dürrekatastrophen, Schiffsuntergänge, Pest und Erdbeben. In dieser von Anzeichen und Omen gesättigten Atmosphäre erschien 1681 Thomas Burnets The Sacred Theory of the Earth, das zuerst in Latein in einer bescheidenen Auflage von 25 Exemplaren erschien und eine kleine, kecke Widmung an den König trug, die auf die Dummheit seiner Majestät verwies. Burnets Buch befasste sich nicht mit zukünftigen Katastrophen, sondern mit dem größten Unglück aller Zeiten, der Sintflut. Sein Buch erschütterte den biblisch-orthodoxen Glauben an das seit Urzeiten unveränderte Antlitz der Erde, und es prägte entscheidend die Art und Weise, wie man sich damals die Berge vorstellte und sie wahrnahm. So verdanken wir es zum Teil Burnets jahrzehntelangem Nachdenken über Zerstörung, dass wir uns heute überhaupt vorstellen können, dass Landschaften eine Vergangenheit haben, eine eigene, lange Entwicklungsgeschichte.
Vor Burnet fehlte den Vorstellungen von der Erde eine vierte Dimension, die Zeit. Was, so dachte man, könnte denn beständiger sein als die Berge, und was könnte länger existieren als sie? Sie wurden von Gott in ihrer gegenwärtigen Form geschaffen und würden nun für immer und ewig so bleiben. Vor dem 18. Jahrhundert bestimmte die biblische Erzählung der Schöpfungsgeschichte, wie man sich die Vergangenheit der Erde vorzustellen hatte, und laut Bibel war die Erde erst vor relativ kurzer Zeit entstanden. Im 17. Jahrhundert gab es mehrere geniale Versuche, aus den in der Bibel enthaltenen Informationen ein Ursprungsdatum der Erde zu berechnen. Der bekannteste Versuch stammte von James Ussher, dem Erzbischof von Armagh, dessen zweifellos gewissenhafte Berechnung zum Ergebnis hatte, dass die Geburtsstunde der Erde am Montag, den 26. Oktober im Jahre 4004 vor Christus um 9 Uhr morgens war. Usshers Chronologie für die Erschaffung der Erde stammt aus dem Jahre 1650 und wurde als Fußnote noch in den englischen Bibeln des frühen 19. Jahrhunderts abgedruckt.
Daher war zu Burnets Zeit die orthodoxe christliche Vorstellung fest verankert, dass die Erde keine Geschichte habe. Man glaubte damals, dass sie nicht älter als 6000 Jahre und in dieser Zeit nicht erkennbar gealtert sei. Keine Landschaft besaß eine interessante Vergangenheit, denn die Erdoberfläche hatte immer gleich ausgesehen. Berge waren wie alles auf der Welt in jener ersten Woche der fieberhaften Schöpfung entstanden, die in der Genesis beschrieben wird. Sie wurden am dritten Tag geschaffen, also am selben Tag, an dem die Polarzonen vereist und die Tropen aufgeheizt wurden. Seither hatte sich ihr Erscheinungsbild kaum verändert, abgesehen vom kosmetischen Effekt des Flechtenwuchses und einer leichten Verwitterung. Sogar die Sintflut hatten sie ohne Folgen überstanden.
Das entsprach der damaligen allgemeinen Sichtweise. Thomas Burnet war jedoch überzeugt davon, dass der Bibeltext über die Schöpfungsgeschichte, so wie er damals verstanden wurde, das Erscheinungsbild der Welt nicht erklären konnte. Vor allem beschäftigte Burnet die Strömungstheorie der Sintflut. Er wollte wissen, wo auf der Erde denn das Wasser zu finden sein sollte für eine Sintflut, die so hoch war, dass sie, wie die Bibel beschrieb, die »höchsten Berggipfel bedecken konnte«.
Burnet berechnete, dass für eine globale Überschwemmung dieser Tiefe das Wasser »von acht Ozeanen« erforderlich gewesen wäre. Die in der Genesis beschriebenen vierzig Regentage hätten aber höchstens für einen Ozean gereicht. Nicht einmal genügend Flüssigkeit, um auch nur die Füße der meisten Berge zu benetzen. »Wohin sollen wir denn gehen, um mehr als sieben Ozeane mit Wasser zu finden, die wir noch brauchen«, fragte Burnet. Er kam zu dem Schluss, dass es, wenn es nicht genügend Wasser gegeben hatte, weniger Erde gegeben haben musste. So entwickelte er seine Theorie vom »Mundane Egg«, dem Weltenei. Demnach war die Erde sofort nach ihrer Erschaffung ein ovaler Kugelkörper mit gleichmäßigen Formen gewesen, also ein Ei. Es war makellos in seiner Erscheinung und gleichmäßig in seiner Beschaffenheit, ohne Hügel oder Täler, die seine liebliche Form unterbrochen hätten. Unter der porzellanähnlichen Oberfläche verbarg sich jedoch eine komplizierte Innenarchitektur. Das »Eigelb« im Herzen der Erde war mit Feuer gefüllt und umgeben von mehreren Ringen, die in einander steckten wie die verschiedenen Puppen einer russischen Matrjoschka. Und das »Eiweiß,« Burnet war beharrlich in der Anwendung seiner Metaphern – war demnach ein mit Wasser gefüllter Abgrund, auf dem die Erdkruste trieb. So war die Burnetsche Erde beschaffen.
Burnet führte weiter aus, dass die Oberfläche des jungen Globus bei seiner Geburt zwar makellos gewesen sei, aber nicht unantastbar. Im Laufe der Jahre wurde die Kruste von der Sonneneinstrahlung ausgetrocknet und bekam Risse und Brüche. Von unten begann das Wasser immer stärker gegen die geschwächte Kruste zu drücken, bis es dann, dem Willen des Schöpfers entsprechend, zu »dieser großen, fatalen Überschwemmung« kam, der Sintflut. Die inneren Wassermassen und Feuerschlote brachen schließlich die Erdkruste auf. Einzelne Abschnitte der Kruste fielen in den frisch aufgerissenen Abgrund und die aufbrausenden Fluten überschwemmten die restlichen Landmassen. Sie bildeten einen »großen, ohne Grenzen oder Ufer in der Luft kreisenden Ozean«, wie Burnet auf anschauliche Weise beschrieb. Die physikalischen Bestandteile der Kruste, eine Mischung aus Fels und Erde, wurden weggeschwemmt. Und als sich die Wassermassen wieder zurückzogen, hinterließen sie Chaos. In Burnets Worten: »[E]ine Welt, die in ihrem Schutt lag.«
Burnets Theorie bedeutete nichts anderes, als dass der Globus, so wie er und seine Zeitgenossen ihn kannten, nichts anderes war als »das Bild oder Abbild eines großen Untergangs« und ein sehr schlechtes Abbild noch dazu. Als Bestrafung für die Gottlosigkeit der menschlichen Rasse hatte Gott mit einem einzigen Schlag »den Rahmen der alten Welt gesprengt und auf deren Ruinen eine neue entstehen lassen, die wir nun bewohnen«. Die Berge, die chaotischsten und charismatischsten aller Landschaftsformen, waren also nicht ursprünglich von Gott erschaffen worden. Sie waren nur die Überbleibsel nach dem Rückzug der Flut, nämlich Fragmente der Erdkruste, die von den kolossalen Kräften der Flut herumgewirbelt und aufeinander getürmt worden waren. Die Berge waren folglich nichts anderes als gigantische Andenken an die menschliche Sündhaftigkeit.
Die Illustration zeigt drei aufeinanderfolgende Stadien des Absinkens der Erdkruste in den Abgrund aus Wasser [1]. Das untere und letzte Bild zeigt die Entstehung der Berge [2] und Inseln [3].
Die englische Übersetzung von Burnets Buch im Jahre 1684 löste eine ganze Reihe hastiger Veröffentlichungen aus. Viele waren irritiert von seiner Annahme, dass die Erde in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht vollkommen sei, und auch davon, dass er die konventionelle Interpretation der Heiligen Schrift infrage stellte. Sie versuchten, seine ehrwürdige Theorie zu widerlegen. Die Kontroverse führte dazu, dass sich Burnets Ideen und die Gegenargumente in intellektuellen Kreisen rasch verbreiteten. Sowohl die Verteidiger als auch die Kritiker sprachen nur noch von der »Theorie«, wenn sie sich auf The Sacred Theory of the Earth bezogen, und bei nicht genauer erläuterten Bezügen zum »Theoretiker« war stets Burnet gemeint. Stephen Jay Gould, der amerikanische Wissenschaftler, Autor und Humanist, geht davon aus, dass The Sacred Theory das am weitesten verbreitete und meistgelesene Geologiebuch des 17. Jahrhunderts war.
So kam es, dass zum ersten Mal die intellektuelle Vorstellungskraft gefragt war beim Postulieren von Thesen über die Vergangenheit der wilden Landschaften der Erde. Durch die Burnet-Kontroverse wurde die Aufmerksamkeit auf das Erscheinungsbild der Berge gelenkt. Jetzt waren sie nicht mehr nur Tapete oder Hintergrund, sondern Objekte, die verdienten, dass man sie genauer betrachtete. Wichtig ist dabei auch, dass Burnet damals dafür sorgte, dass seine Nachfolger die Berge als furchtbar und aufregend zugleich wahrnahmen: Samuel Taylor Coleridge wurde beispielsweise von Burnets Prosa so aufgewühlt, dass er vorhatte The Sacred Theory in Blankverse zu übertragen. Und die Theorien des Erhabenen von Joseph Addison und Edmund Burke waren ebenfalls von Burnets Werk geprägt. Burnet sah und vermittelte das Großartige einer Berglandschaft und legte damit den Grundstein für eine ganz neue Betrachtungsweise der Berge.
Frontispiz zur zweiten Auflage von Burnets The Sacred Theory of the Earth (1691). Die sieben Erdkugeln stehen – chronologisch im Uhrzeigersinn – für die Stadien der Erdgeschichte, so wie sie in Burnets Buch beschrieben werden.
Doch Burnet hatte wegen seiner Brillanz auch zu leiden. Cambridge hatte einen Cordon Sanitaire, einen Sperrgürtel, aufgebaut, um das Eindringen von schädlichen oder gegenläufigen Ideen zu verhindern. Burnet hatte aber mit der Infragestellung der Heiligen Schrift diese Sicherheitszone durchbrochen. Nach der Glorious Revolution (1686–1688), jenen Vorgängen, die zur Absetzung von König James II. und zur Krönung von William III. und Mary II. einschließlich der Verabschiedung der Bill of Rights führten, wurde Burnet gezwungen, seine Ämter am Hof niederzulegen und wurde bei der Vergabe des Amtes des Erzbischofs von Canterbury übergangen. Seine Reputation als Autor war aber nachhaltiger als seine vagen Verdienste als anglikanischer Geistlicher. Mit seiner These, das Antlitz der Erde müsse nicht immer gleich ausgesehen haben, löste Burnet die noch heute anhaltende Erforschung der Erdgeschichte aus. Im Vorwort seines Buches brüstet er sich damit, dass er »eine Welt wieder hervorgeholt habe, die seit Tausenden von Jahren in Vergessenheit geraten war!«. Er hatte allen Grund, sich damit zu brüsten, denn Burnet war der erste geologische Zeitreisende – ein Eroberer des entlegensten aller Länder: der fernen Vergangenheit.