Kitabı oku: «Der Mann ohne Eigenschaften», sayfa 2
Es war das – in einer Angelegenheit, die ihm im Ernst nicht besonders nahe ging – die bekannte Zusammenhanglosigkeit der Einfälle und ihre Ausbreitung ohne Mittelpunkt, die für die Gegenwart kennzeichnend ist und deren merkwürdige Arithmetik ausmacht, die vom Hundertsten ins Tausendste kommt, ohne eine Einheit zu haben. Schließlich dachte er sich überhaupt nur noch unausführbare Zimmer aus, Drehzimmer, kaleidoskopische Einrichtungen, Umstellvorrichtungen für die Seele, und seine Einfälle wurden immer inhaltsloser. Da war er endlich auf dem Punkt, zu dem es ihn hinzog. Sein Vater würde es ungefähr so ausgedrückt haben: Wen man tun ließe, was er wolle, der könnte sich bald vor Verwirrung den Kopf einrennen. Oder auch so: Wer sich erfüllen kann, was er mag, weiß bald nicht mehr, was er wünschen soll. Ulrich wiederholte sich das mit großem Genuß. Diese Altvordernweisheit kam ihm als ein außerordentlich neuer Gedanke vor. Es muß der Mensch in seinen Möglichkeiten, Plänen und Gefühlen zuerst durch Vorurteile, Überlieferungen, Schwierigkeiten und Beschränkungen jeder Art eingeengt werden wie ein Narr in seiner Zwangsjacke, und erst dann hat, was er hervorzubringen vermag, vielleicht Wert, Gewachsenheit und Bestand; – es ist in der Tat kaum abzusehen, was dieser Gedanke bedeutet! Nun, der Mann ohne Eigenschaften, der in seine Heimat zurückgekehrt war, tat auch den zweiten Schritt, um sich von außen, durch die Lebensumstände bilden zu lassen, er überließ an diesem Punkt seiner Überlegungen die Einrichtung seines Hauses einfach dem Genie seiner Lieferanten, in der sicheren Überzeugung, daß sie für Überlieferung, Vorurteile und Beschränktheit schon sorgen würden. Er selbst frischte nur die alten Linien auf, die von früher da waren, die dunklen Hirschgeweihe unter den weißen Wölbungen der kleinen Halle oder die steife Decke des Salons, und tat im übrigen alles hinzu, was ihm zweckhaft und bequem vorkam.
Als alles fertig war, durfte er den Kopf schütteln und sich fragen: dies ist also das Leben, das meines werden soll? – Es war ein entzückendes kleines Palais, was er da besaß; fast mußte man es so nennen, denn es war ganz so, wie man sich seinesgleichen denkt, eine geschmackvolle Residenz für einen Residenten, wie ihn sich Möbel-, Teppich- und Installationsfirmen vorgestellt hatten, die auf ihrem Gebiete führen. Es fehlte nur, daß dieses reizende Uhrwerk nicht aufgezogen war; denn dann wären Equipagen mit hohen Würdenträgern und vornehmen Damen die Auffahrt emporgerollt, Lakaien wären von den Trittbrettern gesprungen und hätten Ulrich mißtrauisch gefragt: »Guter Mann, wo ist Euer Herr?«
Er war vom Mond zurückgekehrt und hatte sich sofort wieder wie am Mond eingerichtet.
6
Leona oder eine perspektivische Verschiebung
Wenn man sein Haus bestellt hat, soll man auch ein Weib freien. Ulrichs Freundin in jenen Tagen hieß Leontine und war Liedersängerin in einem kleinen Varieté; sie war groß, schlank und voll, aufreizend leblos, und er nannte sie Leona.
Sie war ihm aufgefallen durch das feuchte Dunkel ihrer Augen, durch einen schmerzlich leidenschaftlichen Ausdruck ihres regelmäßigen, schönen, langen Gesichts und durch die gefühlvollen Lieder, die sie an Stelle von unzüchtigen sang. Alle diese altmodischen kleinen Gesänge hatten Liebe, Leid, Treue, Verlassenheit, Waldesrauschen und Forellenblinken zum Inhalt. Leona stand groß und bis in die Knochen verlassen auf der kleinen Bühne und sang sie mit der Stimme einer Hausfrau geduldig ins Publikum, und wenn dazwischen doch kleine sittliche Gewagtheiten unterliefen, so wirkten sie um so gespenstischer, als dieses Mädchen die tragischen wie die neckischen Gefühle des Herzens mit den gleichen mühsam buchstabierten Gebärden unterstützte. Ulrich fühlte sich sofort an alte Photographien oder an schöne Frauen in verschollenen Jahrgängen deutscher Familienblätter erinnert, und während er sich in das Gesicht dieser Frau hineindachte, bemerkte er darin eine ganze Menge kleiner Züge, die gar nicht wirklich sein konnten und doch dieses Gesicht ausmachten. Es gibt natürlich zu allen Zeiten alle Arten von Antlitzen; aber je eine wird vom Zeitgeschmack emporgehoben und zu Glück und Schönheit gemacht, während alle anderen Gesichter sich dann diesem anzugleichen suchen; und selbst häßlichen gelingt das ungefähr, mit Hilfe von Frisur und Mode, und nur jenen zu seltsamen Erfolgen geborenen Gesichtern gelingt es niemals, in denen sich das königliche und vertriebene Schönheitsideal einer früheren Zeit ohne Zugeständnisse ausspricht. Solche Gesichter wandern wie Leichen früherer Gelüste in der großen Wesenlosigkeit des Liebesbetriebs, und den Männern, die in die weite Langweile von Leontinens Gesang gafften und nicht wußten, was ihnen geschah, bewegten ganz andre Gefühle die Nasenflügel als vor den kleinen frechen Chanteusen mit den Tangofrisuren. Da beschloß Ulrich, sie Leona zu nennen, und ihr Besitz erschien ihm begehrenswert wie der eines vom Kürschner ausgestopften großen Löwenfells.
Nachdem aber ihre Bekanntschaft begonnen hatte, entwickelte Leona noch eine unzeitgemäße Eigenschaft, sie war in ungeheurem Maße gefräßig, und das ist ein Laster, dessen große Ausbildung längst aus der Mode gekommen ist. Es war seinem Entstehen nach die endlich befreite Sehnsucht, die sie als armes Kind nach kostbaren Leckerbissen gelitten hatte; nun besaß es die Kraft eines Ideals, das endlich seinen Käfig zerbrochen und die Herrschaft an sich gerissen hat. Ihr Vater schien ein ehrbarer kleiner Bürger gewesen zu sein, der sie jedesmal schlug, wenn sie mit Verehrern ging; sie aber tat es aus keinem anderen Grund, als weil sie für ihr Leben gern in dem Vorgarten einer kleinen Konditorei saß und vornehm auf die Vorübergehenden blickend in ihrem Eis löffelte. Denn daß sie unsinnlich gewesen sei, hätte man zwar nicht behaupten können, aber sofern es erlaubt ist, wäre zu sagen, daß sie wie in allem so auch darin geradezu faul und arbeitsscheu war. In ihrem ausgedehnten Körper brauchte jeder Reiz wunderbar lange, bis er das Gehirn erreichte, und es geschah, daß mitten am Tag ihre Augen ohne Grund zu zergehen begannen, während sie in der Nacht unbeweglich auf einen Punkt der Zimmerdecke gerichtet waren, als ob sie dort eine Fliege beobachteten. Ebenso konnte sie manchmal mitten in voller Stille über einen Scherz zu lachen beginnen, der ihr da erst aufging, während sie ihn einige Tage zuvor ruhig angehört hatte, ohne ihn zu verstehen. Wenn sie keinen besonderen Grund zum Gegenteil hatte, war sie darum auch durchaus anständig. Auf welche Weise sie überhaupt zu ihrem Beruf gekommen war, war niemals aus ihr herauszubringen. Anscheinend wußte sie es selbst nicht mehr genau. Es zeigte sich bloß, daß sie die Tätigkeit einer Liedersängerin für einen notwendigen Teil des Lebens hielt und alles Große, was sie von Kunst und Künstlern je gehört hatte, damit verband, so daß es ihr durchaus richtig, erzieherisch und vornehm vorkam, allabendlich auf eine kleine, von Zigarrendunst umwölkte Bühne hinauszutreten und Lieder vorzutragen, deren ergreifende Geltung eine feststehende Sache war. Natürlich scheute sie dabei, wie es sein muß, um das Anständige zu beleben, auch keineswegs vor einer gelegentlich eingestreuten Unanständigkeit zurück, aber sie war fest überzeugt, daß die erste Sängerin der kaiserlichen Oper genau das gleiche tue wie sie.
Freilich, wenn man es durchaus Prostitution nennen will, wenn ein Mensch nicht, wie es üblich ist, seine ganze Person für Geld hergibt, sondern nur seinen Körper, so betrieb Leona gelegentlich Prostitution. Aber wenn man durch neun Jahre, wie sie seit ihrem sechzehnten Jahr, die Kleinheit der Taggelder kennt, die in den untersten Singhöllen gezahlt werden, die Preise der Toiletten und der Wäsche im Kopf hat, die Abzüge, den Geiz und die Willkür der Besitzer, die Perzente von Speis und Trank aufgemunterter Gäste und von der Zimmerrechnung des benachbarten Hotels, täglich damit zu tun hat, Zank darüber hat und kaufmännisch abrechnet, so wird das, was den Laien als Ausschweifung erfreut, zu einem Beruf, der voll Logik, Sachlichkeit und Standesgesetzen ist. Gerade Prostitution ist ja eine Angelegenheit, bei der es einen großen Unterschied macht, ob man sie von oben sieht oder von unten betrachtet.
Aber wenn Leona auch eine vollkommen sachliche Auffassung der sexuellen Frage besaß, so hatte sie doch auch ihre Romantik. Nur hatte sich bei ihr alles Überschwengliche, Eitle, Verschwenderische, hatten sich die Gefühle des Stolzes, des Neides, der Wollust, des Ehrgeizes, der Hingabe, kurz die Triebkräfte der Persönlichkeit und des gesellschaftlichen Aufstiegs durch ein Naturspiel nicht mit dem sogenannten Herzen verbunden, sondern mit dem tractus abdominalis, den Eßvorgängen, mit denen sie übrigens in früheren Zeiten regelmäßig in Verbindung gestanden sind, was man noch heute an Primitiven oder an breit prassenden Bauern beobachten kann, die Vornehmheit und allerhand anderes, was den Menschen auszeichnet, durch ein Festmahl auszudrücken vermögen, bei dem man sich feierlich und mit allen Begleiterscheinungen überißt. An den Tischen ihres Tingeltangels tat Leona ihre Pflicht; aber wovon sie träumte, war ein Kavalier, der sie durch ein Verhältnis auf Engagementsdauer dessen enthob und ihr gestattete, in vornehmer Haltung vor einer vornehmen Speisekarte in einem vornehmen Restaurant zu sitzen. Sie hätte dann am liebsten von allen vorhandenen Speisen auf einmal gegessen, und es bereitete ihr eine schmerzhaft widerspruchsvolle Genugtuung, gleichzeitig zeigen zu dürfen, daß sie wisse, wie man auswählen müsse und ein auserlesenes Menü zusammenstellt. Erst bei den kleinen Nachgerichten konnte sie ihre Phantasie gehen lassen, und gewöhnlich wurde in umgekehrter Reihenfolge ein ausgebreitetes zweites Abendbrot daraus. Leona stellte durch schwarzen Kaffee und anregende Mengen von Getränken ihre Aufnahmefähigkeit wieder her und reizte sich durch Überraschungen, bis ihre Leidenschaft gestillt war. Dann war ihr Leib so voll vornehmer Sachen, daß er kaum noch zusammenhielt. Sie blickte träg strahlend um sich, und obgleich sie niemals sehr gesprächig war, schloß sie in diesem Zustand gerne rückschauende Betrachtungen an die Kostbarkeiten an, die sie verspeist hatte. Wenn sie Polmone à la Torlogna oder Äpfel à la Melville sagte, streute sie es hin, wie ein anderer gesucht beiläufig erwähnt, daß er mit dem Fürsten oder dem Lord gleichen Namens gesprochen habe.
Weil das öffentliche Auftreten mit Leona nicht gerade nach Ulrichs Geschmack war, verlegte er ihre Fütterung gewöhnlich in sein Haus, wo sie den Hirschgeweihen und Stilmöbeln zuspeisen mochte. Sie aber sah sich dadurch um die gesellschaftliche Genugtuung gebracht, und wenn der Mann ohne Eigenschaften durch die unerhörtesten Gerichte, die ein Garkoch liefern kann, sie zu einsamer Unmäßigkeit reizte, empfand sie sich genau so mißbraucht wie eine Frau, die bemerkt, daß sie nicht um ihrer Seele willen geliebt wird. Sie war schön und eine Sängerin, sie brauchte sich nicht zu verstecken, und jeden Abend hingen an ihr die Begierden einiger Dutzend Männer, die ihr recht gegeben hätten. Dieser Mensch aber, obgleich er mit ihr allein sein wollte, brachte es nicht einmal fertig, ihr zu sagen: Jesus Maria, Leona, dein A... macht mich selig! und sich den Schnurrbart vor Appetit zu lecken, wenn er sie bloß ansah, wie sie es von ihren Kavalieren gewohnt war. Leona verachtete ihn ein bißchen, obgleich sie natürlich treu an ihm festhielt, und Ulrich wußte das. Er wußte übrigens wohl, was sich in Leonas Gesellschaft gehörte, aber die Zeit, wo er so etwas noch über die Lippen gebracht hätte und seine Lippen noch einen Schnurrbart trugen, lag zu weit zurück. Und wenn man etwas nicht mehr zuwege bringt, das man früher gekonnt hat, es mag noch so dumm gewesen sein, so ist das doch genau so, wie wenn der Schlagfluß in die Hand und in das Bein gefahren ist. Die Augäpfel schlotterten ihm, wenn er seine Freundin ansah, der Speise und Trank zu Kopf gestiegen waren. Man konnte ihre Schönheit vorsichtig von ihr abheben. Es war die Schönheit der Herzogin, die Scheffels Ekkehard über die Schwelle des Klosters getragen hat, die Schönheit der Ritterin mit dem Falken am Handschuh, die Schönheit der sagenumwobenen Kaiserin Elisabeth mit dem schweren Kranz von Haar, ein Entzücken für Leute, die alle schon tot waren. Und um es genau zu sagen, sie erinnerte auch an die göttliche Juno, aber nicht an die ewige und unvergängliche, sondern an das, was eine vergangene oder vergehende Zeit junonisch nannte. So war der Traum des Seins nur lose über die Materie gestülpt. Leona aber wußte, daß man für eine vornehme Einladung auch dann etwas schuldig ist, wenn sich der Gastgeber nichts wünscht, und daß man sich nicht bloß anglotzen lassen dürfe; so stand sie denn, sobald sie dessen wieder fähig war, auf und begann gelassen, aber mit lautem Vortrag zu singen. Ihrem Freund kamen solche Abende vor wie ein herausgerissenes Blatt, belebt von allerhand Einfällen und Gedanken, aber mumifiziert, wie es alles aus dem Zusammenhang Gerissene wird, und voll von jener Tyrannis des nun ewig so Stehenbleibenden, die den unheimlichen Reiz lebender Bilder ausmacht, als hätte das Leben plötzlich ein Schlafmittel erhalten, und nun steht es da, steif, voll Verbindung in sich, scharf begrenzt und doch ungeheuer sinnlos im Ganzen.
7
In einem Zustand von Schwäche zieht sich Ulrich eine neue Geliebte zu
Eines Morgens kam Ulrich nachhaus und war übel zugerichtet. Seine Kleider hingen zerrissen von ihm, er mußte feuchte Bauschen auf den zerschundenen Kopf legen, seine Uhr und seine Brieftasche fehlten. Er wußte nicht, ob die drei Männer, mit denen er in Streit geraten war, sie geraubt hatten oder ob sie ihm während der kurzen Zeit, wo er bewußtlos auf dem Pflaster lag, von einem stillen Menschenfreund gestohlen worden waren. Er legte sich zu Bett, und indes die matten Glieder sich wieder behutsam getragen und umhüllt fühlten, überlegte er noch einmal dieses Abenteuer.
Die drei Köpfe waren plötzlich vor ihm gestanden; er mochte in der spät-einsamen Straße einen der Männer gestreift haben, denn seine Gedanken waren zerstreut und mit etwas anderem beschäftigt gewesen, aber diese Gesichter waren schon vorbereitet auf Zorn und traten verzerrt in den Kreis der Laterne. Da hatte er einen Fehler begangen. Er hätte sofort zurückprallen müssen, als fürchte er sich, und dabei fest mit dem Rücken gegen den Kerl stoßen, der hinter ihn getreten war, oder mit dem Ellenbogen gegen seinen Magen, und noch im selben Augenblick trachten müssen, zu entwischen, denn gegen drei starke Männer gibt es kein Kämpfen. Statt dessen hatte er einen Augenblick gezögert. Das machte das Alter; seine zweiunddreißig Jahre; Feindseligkeit und Liebe brauchen da schon etwas mehr Zeit. Er wollte nicht glauben, daß die drei Antlitze, die ihn mit einemmal in der Nacht mit Zorn und Verachtung anblickten, es nur auf sein Geld abgesehen hatten, sondern gab sich dem Gefühl hin, daß da Haß gegen ihn zusammengeströmt und zu Gestalten geworden war; und während die Strolche ihn schon mit gemeinen Worten beschimpften, freute ihn der Gedanke, daß es vielleicht gar keine Strolche seien, sondern Bürger wie er, bloß etwas angetrunken und von Hemmungen befreit, die an seiner vorübergleitenden Erscheinung hängengeblieben waren und einen Haß auf ihn entluden, der für ihn und für jeden fremden Menschen stets vorbereitet ist wie das Gewitter in der Atmosphäre. Denn etwas Ähnliches fühlte auch er mitunter. Ungemein viele Menschen fühlen sich heute in bedauerlichem Gegensatz stehen zu ungemein viel anderen Menschen. Es ist ein Grundzug der Kultur, daß der Mensch dem außerhalb seines eigenen Kreises lebenden Menschen aufs tiefste mißtraut, also daß nicht nur ein Germane einen Juden, sondern auch ein Fußballspieler einen Klavierspieler für ein unbegreifliches und minderwertiges Wesen hält. Schließlich besteht ja das Ding nur durch seine Grenzen und damit durch einen gewissermaßen feindseligen Akt gegen seine Umgebung; ohne den Papst hätte es keinen Luther gegeben und ohne die Heiden keinen Papst, darum ist es nicht von der Hand zu weisen, daß die tiefste Anlehnung des Menschen an seinen Mitmenschen in dessen Ablehnung besteht. Das dachte er natürlich nicht so ausführlich; aber er kannte diesen Zustand einer ungewissen, atmosphärischen Feindseligkeit, von dem in unserem Menschenalter die Luft voll ist, und wenn sich das einmal plötzlich in drei unbekannten, nachher wieder auf ewig verschwindenden Männern zusammenzieht, um wie Donner und Blitz auszuschlagen, so ist das fast eine Erleichterung.
Immerhin schien er doch angesichts dreier Strolche etwas zu viel gedacht zu haben. Denn als ihn nun der erste ansprang, flog er zwar zurück, da ihm Ulrich mit einem Schlag aufs Kinn zuvorgekommen war, aber der zweite, der blitzschnell danach hätte erledigt werden müssen, würde von der Faust nur noch gestreift, denn inzwischen hatte ein Hieb von hinten mit einem schweren Gegenstand Ulrichs Kopf beinahe zersprengt. Er brach ins Knie, wurde angefaßt, kam mit jenem fast unnatürlichen Klarwerden des Körpers, das gewöhnlich dem ersten Zusammenbruch folgt, noch einmal hoch, schlug in die Wirrnis fremder Körper und wurde von immer größer werdenden Fäusten niedergehämmert.
Da nun der Fehler festgestellt war, den er begangen hatte, und nur auf sportlichem Gebiet lag, eben so, wie es vorkommt, daß man einmal zu kurz springt, schlief Ulrich, der noch immer vorzügliche Nerven besaß, ruhig ein, genau mit dem gleichen Entzücken an den entschwebenden Spiralen des Bewußtseinsverfalls, das er im Hintergrunde schon während seiner Niederlage empfunden hatte.
Als er wieder erwachte, überzeugte er sich, daß seine Verletzungen nicht bedeutend waren, und dachte noch einmal über sein Erlebnis nach. Eine Schlägerei hinterläßt immer einen unangenehmen Nachgeschmack, sozusagen von voreiliger Vertraulichkeit, und unabhängig davon, daß er der Angegriffene war, hatte Ulrich das Gefühl, sich unpassend betragen zu haben. Aber unpassend wozu?! Dicht neben den Straßen, wo alle dreihundert Schritte ein Schutzmann den geringsten Verstoß gegen die Ordnung ahndet, liegen andere, die die gleiche Kraft und Gesinnung fordern wie ein Urwald. Die Menschheit erzeugt Bibeln und Gewehre, Tuberkulose und Tuberkulin. Sie ist demokratisch mit Königen und Adel; baut Kirchen und gegen die Kirchen wieder Universitäten; macht Klöster zu Kasernen, aber teilt den Kasernen Feldgeistliche zu. Natürlich liefert sie auch den Strolchen mit Blei gefüllte Gummischläuche in die Hand, um den Leib eines Mitmenschen damit krankzuschlagen, und stellt für den einsamen und mißhandelten Leib hinterdrein Daunenbetten bereit, wie es eines war, das in diesem Augenblick Ulrich umgab, als wäre es mit lauter Hochachtung und Rücksicht gefüllt. Es ist das die bekannte Sache mit den Widersprüchen, der Inkonsequenz und Unvollkommenheit des Lebens. Man lächelt oder seufzt dazu. Aber so war nun Ulrich gerade nicht. Er haßte diese Mischung aus Verzicht und Affenliebe im Verhalten zum Leben, die sich dessen Widersprüche und Halbheiten gefallen läßt wie eine eingejungferte Tante die Flegeleien eines jungen Neffen. Nur sprang er auch nicht gleich aus seinem Bett, wenn es sich zeigte, daß das Verweilen darin aus der Unordnung der Menschheitsangelegenheiten Vorteil zog, denn in mancherlei Sinn ist es ein voreiliger Ausgleich mit dem Gewissen auf Kosten der Sache, ein Kurzschluß, ein Ausweichen ins Private, wenn man für seine Person das Schlechte meidet und das Gute tut, statt sich um die Ordnung des Ganzen zu bemühen. Ja es kam Ulrich nach seiner unfreiwilligen Erfahrung sogar vor, daß es verzweifelt wenig Wert habe, wenn da die Gewehre, dort die Könige abgeschafft werden und irgendein kleiner oder großer Fortschritt die Dummheit und Schlechtigkeit vermindert; denn das Maß der Widerwärtigkeiten und Schlechtigkeiten wird augenblicklich wieder durch neue aufgefüllt, als glitte das eine Bein der Welt immer zurück, wenn sich das andere vorschiebt. Davon müßte man die Ursache und den Geheimmechanismus erkennen! Das wäre natürlich ungleich wichtiger, als nach veraltenden Grundsätzen ein guter Mensch zu sein, und so zog es Ulrich in der Moral mehr zum Generalstabsdienst als zum alltäglichen Heldentum des Guttuns.
Er vergegenwärtigte sich jetzt noch einmal auch die Fortsetzung seines nächtlichen Abenteuers. Denn als er nach der unglücklich verlaufenen Schlägerei wieder zu sich gekommen war, hatte ein Mietwagen nahe am Gehsteig haltgemacht, der Lenker suchte den verwundeten Fremdling an den Schultern emporzurichten, und eine Dame beugte sich mit engelhaftem Gesichtsausdruck über ihn. In solchen Augenblicken tief emporsteigenden Bewußtseins sieht man alles wie in der Welt der Kinderbücher; aber bald hatte diese Ohnmacht der Wirklichkeit Platz gemacht, die Gegenwart einer um ihn bemühten Frau blies Ulrich an, seicht und erweckend wie Kölnisch-Wasser, so daß er allsogleich auch wußte, er könne nicht viel Schaden genommen haben, und in guter Art auf die Beine zu kommen suchte. Es gelang ihm nicht gleich ganz so, wie er es wünschte, und die Dame bot sich besorgt an, ihn irgendwohin zu fahren, damit er Hilfe fände. Ulrich bat, nach Hause gebracht zu werden, und da er wahrhaftig noch verwirrt und hilflos erschien, gewährte es ihm die Dame. Im Wagen hatte er dann rasch zu sich selbst gefunden. Er fühlte etwas mütterlich Sinnliches neben sich, eine zarte Wolke von hilfsbereitem Idealismus, in deren Wärme sich jetzt die kleinen Eiskristalle des Zweifels und der Angst vor einer unüberlegten Handlung zu bilden begannen, während er wieder Mann wurde, und sie füllten die Luft mit der Weichheit eines Schneefalls. Er erzählte sein Erlebnis, und die schöne Frau, die bloß um weniges jünger als er, also vielleicht dreißig Jahre alt zu sein schien, klagte die Roheit der Menschen an und fand ihn entsetzlich bedauernswert.
Natürlich begann nun er das Geschehene lebhaft zu verteidigen und erklärte der überraschten mütterlichen Schönheit an seiner Seite, daß man solche Kampferlebnisse nicht nach dem Erfolg beurteilen dürfe. Ihr Reiz liegt auch wirklich darin, daß man in einem kleinsten Zeitraum, mit einer im bürgerlichen Leben sonst nirgendwo vorkommenden Schnelligkeit und von kaum wahrnehmbaren Zeichen geleitet, so viele, verschiedene, kraftvolle und dennoch aufs genaueste einander zugeordnete Bewegungen ausführen muß, daß es ganz unmöglich wird, sie mit dem Bewußtsein zu beaufsichtigen. Im Gegenteil, jeder Sportsmann weiß, daß man schon einige Tage vor dem Wettkampf das Training einstellen muß, und das geschieht aus keinem anderen Grund, als damit Muskeln und Nerven untereinander die letzte Verabredung treffen können, ohne daß Wille, Absicht und Bewußtsein dabei sein oder gar dareinreden dürfen. Im Augenblick der Tat sei es dann auch immer so, beschrieb Ulrich: die Muskeln und Nerven springen und fechten mit dem Ich; dieses aber, das Körperganze, die Seele, der Wille, diese ganze, zivilrechtlich gegen die Umwelt abgegrenzte Haupt- und Gesamtperson wird von ihnen nur so obenauf mitgenommen, wie Europa, die auf dem Stier sitzt, und wenn dem einmal nicht so sei, wenn unglücklicherweise auch nur der kleinste Lichtstrahl von Überlegung in dieses Dunkel falle, dann mißlinge regelmäßig das Unternehmen. – Ulrich hatte sich in Eifer geredet. Das sei im Grunde, – behauptete er nun – er meine, dieses Erlebnis der fast völligen Entrückung oder Durchbrechung der bewußten Person sei im Grunde verwandt mit verlorengegangenen Erlebnissen, die den Mystikern aller Religionen bekannt gewesen seien, und es sei sonach gewissermaßen ein zeitgenössischer Ersatz ewiger Bedürfnisse, und wenn auch ein schlechter, so immerhin einer; und das Boxen oder ähnliche Sportarten, die das in ein vernünftiges System bringen, seien also eine Art von Theologie, wenn man auch nicht verlangen könne, daß das schon allgemein eingesehen werde.
Ulrich hatte sich wohl auch ein wenig aus dem eitlen Wunsch so lebhaft an seine Gefährtin gewandt, sie die klägliche Lage, in der sie ihn gefunden hatte, vergessen zu machen. Es war unter diesen Umständen schwer für sie, zu unterscheiden, ob er ernst spreche oder spotte. Jedenfalls konnte es ihr im Grunde durchaus natürlich erscheinen, daß er die Theologie durch den Sport zu erklären suchte, was vielleicht sogar interessant war, da der Sport etwas Zeitgemäßes ist, die Theologie dagegen etwas, wovon man gar nichts weiß, obgleich es doch unleugbar wirklich noch immer viele Kirchen gibt. Und wie dem auch sei, sie fand, daß ein glücklicher Zufall sie einen sehr geistvollen Mann hatte retten lassen, und zwischendurch fragte sie sich allerdings auch, ob er nicht etwa eine Gehirnerschütterung erlitten habe.
Ulrich, der nun etwas Verständliches sagen wollte, benützte die Gelegenheit, um beiläufig darauf hinzuweisen, daß ja auch die Liebe zu den religiösen und gefährlichen Erlebnissen gehöre, weil sie den Menschen aus den Armen der Vernunft hebe und ihn in einen wahrhaft grundlos schwebenden Zustand versetze.
Ja, – sagte die Dame – aber Sport sei doch roh.
Gewiß, – beeilte sich Ulrich, es zuzugeben – Sport sei roh. Man könne sagen, der Niederschlag eines feinst verteilten, allgemeinen Hasses, der in Kampfspielen abgeleitet wird. Man behaupte natürlich das Gegenteil, Sport verbinde, mache zu Kameraden und dergleichen; aber das beweise im Grunde nur, daß Roheit und Liebe nicht weiter von einander entfernt seien als der eine Flügel eines großen bunten stummen Vogels vom andern.
Er hatte den Ton auf die Flügel und den bunten, stummen Vogel gelegt, – ein Gedanke ohne rechten Sinn, aber voll von einem wenig jener ungeheuren Sinnlichkeit, mit der das Leben in seinem maßlosen Leib alle nebenbuhlerischen Gegensätze gleichzeitig befriedigt; er bemerkte nun, daß seine Nachbarin das nicht im geringsten verstand, dennoch war der weiche Schneefall, den sie im Wagen verbreitete, noch dichter geworden. Da wandte er sich ihr ganz zu und fragte, ob sie vielleicht eine Abneigung habe, von solchen körperlichen Fragen zu sprechen? Das körperliche Treiben komme ja wirklich schon zu sehr in Mode, und im Grunde schließe es ein grauenvolles Gefühl ein, weil der Körper, wenn er ganz scharf trainiert sei, das Übergewicht habe und auf jeden Reiz ohne zu fragen, mit seinen automatisch eingeschliffenen Bewegungen so sicher antworte, daß dem Besitzer nur noch das unheimliche Gefühl des Nachsehens bleibt, während ihm sein Charakter mit irgendeinem Körperteil gleichsam durchgeht.
Es schien in der Tat, daß diese Frage die junge Frau tief berührte; sie zeigte sich erregt von diesen Worten, atmete lebhaft und rückte vorsichtig ein wenig ab. Ein ähnlicher Mechanismus wie der soeben beschriebene, ein Hochatmen, ein Erröten der Haut, Klopfen des Herzens, und vielleicht noch einiges andere schien in ihr in Bewegung gekommen zu sein. Aber gerade da hatte der Wagen vor Ulrichs Wohnung gehalten. Er konnte nur noch lächelnd um die Adresse seiner Retterin bitten, damit er ihr seinen Dank abstatte, aber zu seinem Erstaunen wurde ihm diese Gunst nicht gewährt. Also schlug das schwarze, schmiedeeiserne Gitter hinter einem verwunderten Fremdling zu. Vermutlich waren danach noch die Bäume eines alten Parks hoch und dunkel in dem Licht elektrischer Lampen aufgewachsen, Fenster entbrannt, und die niederen Flügel eines boudoirhaft kleinen Schlößchens über kurz geschorenem, smaragdhaftem Rasen hatten sich ausgebreitet, man hatte ein wenig von den Wänden gesehen, die mit Bildern und bunten Bücherreihen bedeckt waren, und der verabschiedete Wagengefährte wurde von einem unerwartet schönen Dasein aufgenommen.
So hatte es sich ereignet, und während Ulrich noch überlegte, wie unangenehm es gewesen wäre, wenn er seine Zeit wieder für eines dieser Liebesabenteuer hätte hergeben müssen, deren er längst satt war, wurde ihm eine Dame gemeldet, die ihren Namen nicht nennen wollte und tief verschleiert bei ihm eintrat. Es war sie selbst, die ihren Namen und ihre Wohnung nicht genannt hatte, aber auf diese romantisch-charitative Weise unter dem Vorwand, sich um sein Befinden zu sorgen, das Abenteuer eigenmächtig fortsetzte.
Zwei Wochen später war Bonadea schon seit vierzehn Tagen seine Geliebte.
8
Kakanien
In dem Alter, wo man noch alle Schneider- und Barbierangelegenheiten wichtig nimmt und gerne in den Spiegel blickt, stellt man sich oft auch einen Ort vor, wo man sein Leben zubringen möchte, oder wenigstens einen Ort, wo es Stil hat, zu verweilen, selbst wenn man fühlt, daß man für seine Person nicht gerade gern dort wäre. Eine solche soziale Zwangsvorstellung ist nun schon seit langem eine Art überamerikanische Stadt, wo alles mit der Stoppuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andre; man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den andern, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten eine Synkope, eine Pause, eine kleine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung angesaugt und hineingerissen, spricht hastig in den Intervallen dieses allgemeinen Rhythmus miteinander ein paar Worte. Fragen und Antworten klinken ineinander wie Maschinenglieder, jeder Mensch hat nur ganz bestimmte Aufgaben, die Berufe sind an bestimmten Orten in Gruppen zusammengezogen, man ißt während der Bewegung, die Vergnügungen sind in andern Stadtteilen zusammengezogen, und wieder anderswo stehen die Türme, wo man Frau, Familie, Grammophon und Seele findet. Spannung und Abspannung, Tätigkeit und Liebe werden zeitlich genau getrennt und nach gründlicher Laboratoriumserfahrung ausgewogen. Stößt man bei irgendeiner dieser Tätigkeiten auf Schwierigkeit, so läßt man die Sache einfach stehen; denn man findet eine andre Sache oder gelegentlich einen besseren Weg, oder ein andrer findet den Weg, den man verfehlt hat; das schadet gar nichts, während durch nichts so viel von der gemeinsamen Kraft verschleudert wird wie durch die Anmaßung, daß man berufen sei, ein bestimmtes persönliches Ziel nicht locker zu lassen. In einem von Kräften durchflossenen Gemeinwesen führt jeder Weg an ein gutes Ziel, wenn man nicht zu lange zaudert und überlegt. Die Ziele sind kurz gesteckt; aber auch das Leben ist kurz, man gewinnt ihm so ein Maximum des Erreichens ab, und mehr braucht der Mensch nicht zu seinem Glück, denn was man erreicht, formt die Seele, während das, was man ohne Erfüllung will, sie nur verbiegt; für das Glück kommt es sehr wenig auf das an, was man will, sondern nur darauf, daß man es erreicht. Außerdem lehrt die Zoologie, daß aus einer Summe von reduzierten Individuen sehr wohl ein geniales Ganzes bestehen kann.