Kitabı oku: «Der Mann ohne Eigenschaften», sayfa 7

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Nicht nur bist Du in einem Alter, wo andere Männer sich schon eine feste Stellung im Leben geschaffen haben, sondern ich kann jederzeit sterben, und das Vermögen, das ich Dir und Deiner Schwester zu gleichen Teilen hinterlassen werde, wird zwar nicht gering sein, unter heutigen Verhältnissen aber doch nicht so groß, daß sein Besitz allein Dir eine gesellschaftliche Position sichern könnte, die Du Dir also vielmehr selbst endlich schaffen mußt. Der Gedanke, daß Du seit Deinem Doktorat nur ganz ungefähr von Plänen sprichst, die sich auf verschiedensten Gebieten bewegen sollen und die Du in Deiner gewohnten Art vielleicht stark überschätzt, nie aber von einer Befriedigung schreibst, die Dir ein Lehrauftrag gewähren würde, noch von einer Fühlungnahme wegen solcher Pläne mit irgendeiner Universität, noch sonst von Fühlung mit maßgebenden Kreisen, das ist es, was mich zuweilen mit schwerer Sorge erfüllt. Ich kann gewiß nicht in den Verdacht kommen, daß ich die wissenschaftliche Selbständigkeit herabsetzen will, der ich vor siebenundvierzig Jahren in meinem Dir bekannten, jetzt in 12. Auflage erscheinenden Werk ›Die Zurechnungslehre des Samuel Pufendorf und die moderne Jurisprudenz‹, die wahren Zusammenhänge ans Licht setzend, als erster mit den diesbezüglichen Vorurteilen der älteren Strafrechtsschule gebrochen habe, allein ebensowenig vermag ich nach den Erfahrungen eines arbeitsreichen Lebens anzuerkennen, daß man sich nur auf sich selbst stelle und die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen vernachlässige, welche der Arbeit des Einzelnen erst den Rückhalt leihen, durch welchen sie in einen fruchtbaren und förderlichen Zusammenhang gerät.

Ich hoffe deshalb zuversichtlich, baldigst von Dir zu hören und die Aufwendungen, welche ich für Dein Vorwärtskommen gemacht habe, dadurch belohnt zu finden, daß Du solche Beziehungen nun nach Deiner Rückkehr in die Heimat anknüpfest und nicht länger vernachlässigst. Ich habe auch in diesem Sinne an meinen langjährigen wahren Freund und Schützer, den ehemaligen Präsidenten der Rechnungskammer und jetzigen Vorsitzenden der Allerhöchsten Familiengerichtspartikularität beim Hofmarschallamt, Exzellenz Grafen Stallburg, geschrieben und ihn gebeten, Deine Bitte, die Du ihm demnächst vortragen wirst, wohlwollend entgegenzunehmen. Mein hochgestellter Freund hatte auch bereits die Güte, mir umgehend zu antworten, und Du hast das Glück, daß er Dich nicht nur empfangen wird, sondern Deinem, ihm von mir geschilderten Werdegang warmes Interesse entgegenbringt. Hiemit ist, soweit es in meiner Kraft und in meinem Ermessen steht und vorausgesetzt, daß Du es verstehst, Seine Exzellenz für Dich einzunehmen und gleichzeitig die Anschauungen der maßgebenden akademischen Kreise über Dich zu befestigen, Deine Zukunft gesichert.

Was die Bitte betrifft, die Du gewiß gerne Seiner Exzellenz vortragen wirst, sobald Du weißt, worum es sich handelt, so ist ihr Gegenstand der folgende:

In Deutschland soll im Jahre 1918, u. zw. in den Tagen um den 15. VI. herum, eine große, der Welt die Größe und Macht Deutschlands ins Gedächtnis prägende Feier des dann eingetretenen 30jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. stattfinden; obwohl es bis dahin noch mehrere Jahre sind, weiß man doch aus verläßlicher Quelle, daß heute schon Vorbereitungen dazu getroffen werden, wenn auch selbstverständlich vorläufig ganz inoffiziell. Nun weißt Du wohl auch, daß in dem gleichen Jahre unser verehrungswürdiger Kaiser das 70jährige Jubiläum Seiner Thronbesteigung feiert und daß dieses Datum auf den 2. Dezember fällt. Bei der Bescheidenheit, die wir Österreicher allzusehr in allen Fragen haben, die unser eigenes Vaterland betreffen, steht zu befürchten, daß wir, ich muß schon sagen, wieder einmal ein Königgrätz erleben, das heißt, daß uns die Deutschen mit ihrer auf Effekt geschulten Methodik zuvorkommen werden, so wie sie damals das Zündnadelgewehr eingeführt hatten, bevor wir an eine Überraschung dachten.

Glücklicherweise wurde meine Befürchtung, die ich eben äußerte, von anderen patriotischen Persönlichkeiten mit guten Beziehungen schon vorweggenommen, und ich kann Dir verraten, daß in Wien eine Aktion im Gange ist, um das Eintreffen dieser Befürchtung zu verhindern und das volle Gewicht eines 70jährigen, segens- und sorgenreichen Jubiläums gegenüber einem bloß 30jährigen zur Geltung zu bringen. Da der 2. XII. natürlich durch nichts vor den 15.VI. gerückt werden könnte, ist man auf den glücklichen Gedanken verfallen, das ganze Jahr 1918 zu einem Jubiläumsjahr unseres Friedenskaisers auszugestalten. Ich bin darüber allerdings nur soweit unterrichtet, als die Körperschaften, denen ich angehöre, Gelegenheit hatten, zu der Anregung Stellung zu nehmen, das Nähere wirst Du selbst erfahren, sobald Du Dich bei Gf. Stallburg meldest, der Dir im vorbereitenden Komitee eine Deine Jugend ehrende Stellung zugedacht hat.

Desgleichen muß ich Dir nahelegen, die Beziehungen zu der Familie des Sektionschefs Tuzzi vom Ministerium des Äußeren und des Kaiserlichen Hauses, die ich Dir schon so lange empfohlen habe, nicht länger in der gleichen, für mich geradezu peinlichen Weise nicht aufzunehmen, sondern sofort seiner Gattin, welche, wie Du weißt, die Tochter eines Vetters der Frau meines verstorbenen Bruders und sonach Deine Kusine ist, Deine Aufwartung zu machen, denn, wie man mir sagt, nimmt sie eine hervorragende Stellung in dem Projekt ein, von dem ich Dir soeben schrieb, und mein verehrter Freund, Graf Stallburg, hatte bereits die überaus große Güte, ihr Deinen Besuch in Aussicht zu stellen, weshalb Du keinen Augenblick zögern darfst, das zu erfüllen.

Von mir ist nichts weiter zu berichten; die Arbeit an der Neuauflage meines besagten Buchs nimmt außer den Vorlesungen meine ganze Zeit in Anspruch und den Rest von Arbeitskraft, über den man im Alter noch verfügt. Man muß seine Zeit gut ausnützen, denn sie ist kurz.

Von Deiner Schwester höre ich nur, daß sie gesund ist; sie hat einen tüchtigen und braven Mann, wenn sie auch niemals eingestehen wird, daß sie mit ihrem Lose zufrieden ist und sich darin glücklich fühlt.

Es segnet Dich Dein Dich liebende

Vater.«

Zweiter Teil
Seinesgleichen geschieht

20

Berührung der Wirklichkeit Ungeachtet des Fehlens von Eigenschaften benimmt sich Ulrich tatkräftig und feurig

Daß Ulrich sich wirklich entschloß, dem Grafen Stallburg seine Aufwartung zu machen, hatte unter verschiedenen Gründen nicht zuletzt den, daß er neugierig geworden war.

Graf Stallburg amtierte in der kaiserlichen und königlichen Hofburg, und der Kaiser und König von Kakanien war ein sagenhafter alter Herr. Seither sind ja viele Bücher über ihn geschrieben worden, und man weiß genau, was er getan, verhindert oder unterlassen hat, aber damals, im letzten Jahrzehnt von seinem und Kakaniens Leben, gerieten jüngere Menschen, die mit dem Stand der Wissenschaften und Künste vertraut waren, manchmal in Zweifel, ob es ihn überhaupt gebe. Die Zahl der Bilder, die man von ihm sah, war fast ebenso groß wie die Einwohnerzahl seiner Reiche; an seinem Geburtstag wurde ebensoviel gegessen und getrunken wie an dem des Erlösers, auf den Bergen flammten die Feuer, und die Stimmen von Millionen Menschen versicherten, daß sie ihn wie einen Vater liebten; endlich war ein zu seinen Ehren klingendes Lied das einzige Gebilde der Dichtkunst und Musik, von dem jeder Kakanier eine Zeile kannte: aber diese Popularität und Publizität war so über-überzeugend, daß es mit dem Glauben an ihn leicht ebenso hätte bestellt sein können wie mit Sternen, die man sieht, obgleich es sie seit Tausenden von Jahren nicht mehr gibt.

Das erste, was nun geschah, als Ulrich zur kaiserlichen Hofburg fuhr, war, daß der Wagen, der ihn dahin bringen sollte, schon im äußeren Burghof anhielt, und es begehrte der Kutscher abgelohnt zu werden, indem er behauptete, daß er zwar durchfahren, aber im inneren Hof nicht stehenbleiben dürfe. Ulrich ärgerte sich über den Kutscher, den er für einen Schwindler oder einen Hasenfuß hielt, und suchte ihn anzutreiben; aber er verblieb ohnmächtig gegenüber dessen ängstlicher Weigerung, und plötzlich fühlte er in ihr die Ausstrahlung einer Gewalt, die mächtiger war als er. Als er den inneren Hof betrat, fielen ihm darauf die zahlreichen roten, blauen, weißen und gelben Röcke, Hosen und Helmbüsche sehr in die Augen, die dort steif in der Sonne standen wie Vögel auf einer Sandbank. Er hatte bis dahin »Die Majestät« für eine bedeutungslose Redewendung gehalten, die man eben noch beibehalten hat, geradeso wie man ein Atheist sein kann und doch »Grüß Gott« sagt; nun aber strich sein Blick an hohen Mauern empor, und er sah eine Insel grau, abgeschlossen und bewaffnet daliegen, an der die Schnelligkeit der Stadt ahnungslos vorbeischoß.

Er wurde, nachdem er sein Begehren angemeldet hatte, über Treppen und Gänge, durch Zimmer und Säle geführt. Obgleich er sehr gut gekleidet war, fühlte er sich dabei von jedem Blick, dem er begegnete, vollkommen richtig eingeschätzt. Kein Mensch schien hier daran zu denken, geistige Vornehmheit mit wirklicher zu verwechseln, und es verblieb Ulrich keine andere Genugtuung als die durch ironischen Protest und bürgerliche Kritik. Er stellte fest, daß er durch ein großes Gehäuse mit wenig Inhalt gehe; die Säle waren fast unmöbliert, aber dieser leere Geschmack hatte nicht die Bitterkeit eines großen Stils; er kam an einer lockeren Folge einzelner Gardisten und Diener vorbei, die einen mehr unbeholfenen als prunkvollen Schutz bildeten, den ein halbes Dutzend gut bezahlter und ausgebildeter Detektive wirkungsvoller besorgt hätte; und vollends die wie Bankboten grau bekleidete und bekappte Dienerart, die sich zwischen den Lakaien und Garden umtrieb, ließ ihn an einen Rechtsanwalt oder Zahnarzt denken, der Büro und Privatwohnung nicht genügend trennt. »Man fühlt deutlich hindurch,« dachte er »wie das als Pracht dereinst biedermeierische Menschen eingeschüchtert haben mag, aber heute hält es nicht einmal den Vergleich mit der Schönheit und Annehmlichkeit eines Hotels aus und gibt sich darum recht schlau als vornehme Zurückhaltung und Steifheit.«

Als er aber beim Grafen Stallburg eintrat, empfing ihn Se. Exzellenz in einem großen hohlen Prisma von bester Proportion, in dessen Mitte der unscheinbare, kahlköpfige Mann, leicht vorgeneigt und oranghaft geknickt in den Beinen, in einer Weise vor ihm stand, wie eine hohe Hofcharge aus vornehmer Familie unmöglich durch sich selbst aussehen konnte, sondern nur in Nachahmung von irgend etwas. Die Schultern hingen ihm vor, und die Lippe herunter; er glich einem alten Amtsdiener oder einem braven Rechnungsbeamten. Und plötzlich bestand kein Zweifel mehr, an wen er erinnerte; Graf Stallburg wurde durchsichtig, und Ulrich begriff, daß ein Mann, der seit siebzig Jahren der Allerhöchste Mittelpunkt höchster Macht ist, eine gewisse Genugtuung darin finden muß, hinter sich selbst zurückzutreten und dreinzuschaun wie der subalternste seiner Untertanen, wonach es einfach zu gutem Benehmen in der Nähe dieser Allerhöchsten Person und zur selbstverständlichen Form der Diskretion wird, nicht persönlicher auszusehen als sie. Dies scheint der Sinn dessen gewesen zu sein, daß sich die Könige so gern auch die ersten Diener ihres Staates nannten, und mit einem raschen Blick überzeugte sich Ulrich, daß Se. Exzellenz wirklich jenen eisgrauen, kurzen, am Kinn ausrasierten Backenbart trug, den alle Amtsdiener und Eisenbahnportiers in Kakanien besaßen. Man hatte geglaubt, daß sie in ihrem Aussehen ihrem Kaiser und Könige nachstrebten, aber das tiefere Bedürfnis beruht in solchen Fällen auf Gegenseitigkeit.

Ulrich hatte Zeit, sich das zu überlegen, weil er eine Weile warten mußte, ehe Se. Exzellenz ihn ansprach. Der schauspielerische Verkleidungs- und Verwandlungsurtrieb, der zu den Lüsten des Lebens gehört, bot sich ihm ohne den geringsten Beigeschmack, ja wohl ganz ohne Ahnung von Schauspielerei dar; so stark, daß ihm die bürgerliche Gepflogenheit, Theater zu baun und aus dem Schauspiel eine Kunst zu machen, die man stundenweise mietet, neben dieser unbewußten dauernden Kunst der Selbstdarstellung als etwas ganz und gar Unnatürliches, Spätes und Entzweigespaltenes vorkam. Und als Se. Exzellenz endlich eine Lippe von der anderen gehoben hatte und zu ihm sagte: »Ihr lieber Vater ...« und schon steckenblieb, in der Stimme aber doch etwas lag, was die bemerkenswert schönen gelblichen Hände wahrnehmen machte und etwas wie eine gespannte Moralität rings um die ganze Erscheinung, fand Ulrich das reizend und beging einen Fehler, den geistige Menschen leicht begehn. Denn Se. Exzellenz fragte ihn dann, was er sei, und sagte: »So, sehr interessant, an welcher Schule?« als Ulrich Mathematiker geantwortet hatte; und als Ulrich versicherte, daß er mit Schule nichts zu tun habe, sagte Se. Exzellenz: »So, sehr interessant, ich verstehe, Wissenschaft, Universität.« Und das kam Ulrich so vertraut und ordentlich genau so vor, wie man sich ein feines Konversationsstück vorstellt, daß er sich unversehens benahm, als sei er hier zu Hause, und seinen Gedanken folgte, statt dem gesellschaftlichen Gebot der Lage. Es fiel ihm plötzlich Moosbrugger ein. Hier war die Macht der Begnadigung ja in der Nähe, und nichts erschien ihm einfacher als der Versuch, ob man von ihr Gebrauch machen könnte. »Exzellenz,« fragte er »darf ich mich bei dieser günstigen Gelegenheit für einen Mann verwenden, der mit Unrecht zum Tod verurteilt worden ist?«

Bei dieser Frage riß Exzellenz Stallburg die Augen auf.

»Einen Lustmörder, allerdings,« gestand Ulrich zu, aber in diesem Augenblick sah er selbst ein, daß er sich unmöglich benahm. »Ein geisteskranker natürlich« suchte er sich rasch zu verbessern, und »Exzellenz wissen, daß unsere Gesetzgebung aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts in diesem Punkt rückständig ist«, hätte er beinahe hinzugefügt, aber er mußte schlucken und saß fest. Es war eine Entgleisung, diesem Mann eine Erörterung zuzumuten, wie sie Leute, denen an geistigen Umtrieben gelegen ist, oft ganz zwecklos auf sich nehmen. So ein paar Worte, richtig eingestreut, können fruchtbar wie lockere Gartenerde sein, aber an diesem Ort wirkten sie wie ein Häuflein Erde, das einer versehentlich an den Schuhen ins Zimmer getragen hat. Aber nun, da Graf Stallburg seine Verlegenheit bemerkte, bewies er ihm wahrhaft großes Wohlwollen. »Ja, ja, ich erinnere mich,« sagte er, nachdem Ulrich den Namen genannt hatte, mit einiger Überwindung »und Sie sagen also, daß das ein Geisteskranker sei, und möchten diesem Menschen helfen?«

»Er kann nichts dafür.«

»Ja, das sind immer besonders unangenehme Fälle.« Graf Stallburg schien sehr unter ihren Schwierigkeiten zu leiden. Er sah Ulrich hoffnungslos an und fragte ihn, als sei doch nichts anderes zu erwarten, ob Moosbrugger schon endgültig abgeurteilt sei. Ulrich mußte verneinen. »Ach, nun sehen Sie,« fuhr er erleichtert fort »dann hat es ja noch Zeit«, und er begann von »Papa« zu sprechen, den Fall Moosbrugger in freundlicher Unklarheit zurücklassend.

Ulrich war durch seine Entgleisung einen Augenblick geistesungegenwärtig geworden, aber merkwürdigerweise hatte dieser Fehler auf Exzellenz keinen schlechten Eindruck gemacht. Graf Stallburg war zwar anfangs beinahe sprachlos gewesen, so als ob man in seiner Gegenwart den Rock ausgezogen hätte; dann aber kam ihm diese Unmittelbarkeit an einem so gut empfohlenen Mann tatkräftig und feurig vor, und er war froh, diese zwei Worte gefunden zu haben, denn er war des Willens, sich einen guten Eindruck zu bilden. Er schrieb sie (»Wir dürfen hoffen, einen tatkräftigen und feurigen Helfer gefunden zu haben«) sogleich in das Einführungsschreiben, das er an die Hauptperson der großen vaterländischen Aktion aufsetzte. Als Ulrich einige Augenblicke später dieses Schreiben empfing, kam er sich wie ein Kind vor, das man verabschiedet, indem man ihm ein Stückchen Schokolade ins Händchen preßt. Er hielt nun etwas zwischen den Fingern und nahm Weisungen für einen weiteren Besuch entgegen, die ebensogut ein Auftrag wie eine Bitte sein konnten, ohne daß sich eine Gelegenheit bot, Einspruch dagegen zu erheben. »Das ist ja ein Mißverständnis, ich habe doch nicht im mindesten die Absicht gehabt –« hätte er sagen mögen; aber da war er schon auf dem Weg, zurück durch die großen Gänge und Säle. Er blieb plötzlich stehen und dachte: »Das hat mich ja wie einen Kork gehoben und irgendwo abgesetzt, wohin ich gar nicht wollte!« Er betrachtete neugierig die hinterlistige Einfachheit der Einrichtung. Er durfte sich ruhig sagen, sie mache auch jetzt keinen Eindruck auf ihn; das war bloß eine nicht weggeräumte Welt. Aber welche starke, sonderbare Eigenschaft hatte sie ihn doch fühlen lassen? Zum Teufel, man konnte es kaum anders ausdrücken; sie war einfach überraschend wirklich.

21

Die wahre Erfindung der Parallelaktion durch Graf Leinsdorf

Die wahrhaft treibende Kraft der großen patriotischen Aktion – die von nun an, der Abkürzung wegen und weil sie »das volle Gewicht eines 70jährigen segens- und sorgenreichen Jubiläums gegenüber einem bloß 30jährigen zur Geltung zu bringen« hatte, auch die Parallelaktion genannt werden soll – war aber nicht Graf Stallburg, sondern dessen Freund, Se. Erlaucht Graf Leinsdorf. In dem schönen, hochfenstrigen Arbeitszimmer dieses großen Herrn – inmitten vielfacher Schichten von Stille, Devotion, Goldtressen und Feierlichkeit des Ruhms – stand zu der Zeit, wo Ulrich seinen Besuch in der Hofburg machte, der Sekretär mit einem Buch in der Hand und las Sr. Erlaucht eine Stelle daraus vor, die zu finden er beauftragt gewesen war. Es war diesmal etwas aus Joh. Gottl. Fichte, das er in den »Reden an die deutsche Nation« aufgetrieben hatte und für sehr geeignet hielt. »Zur Befreiung von der Erbsünde der Trägheit« las er vor »und ihrem Gefolge, der Feigheit und Falschheit, bedürfen die Menschen der Vorbilder, die ihnen das Rätsel der Freiheit vorkonstruieren, wie ihnen solche in den Religionsstiftern erstanden sind. Die notwendige Verständigung über sittliche Überzeugung geschieht in der Kirche, deren Symbole nicht als Lehrstücke, sondern nur als Lehrmittel für die Verkündigung der ewigen Wahrheiten anzusehen sind.« Er hatte die Worte Trägheit, vorkonstruieren und Kirche betont, Se. Erlaucht hatte wohlwollend zugehört, ließ sich das Buch zeigen, aber schüttelte dann den Kopf. »Nein,« sagte der reichsunmittelbare Graf »das Buch wäre schon gut, aber diese protestantische Stelle mit der Kirche geht nicht!« – Der Sekretär sah bitter drein wie ein kleiner Beamter, der sich das Konzept eines Akts zum fünftenmal vom Vorstand zurückweisen lassen muß, und wandte vorsichtig ein: »Der Eindruck Fichtes auf nationale Kreise würde aber vorzüglich sein?« – »Ich glaube,« entgegnete Se. Erlaucht »daß wir vorläufig darauf verzichten müssen.« Mit dem zuklappenden Buch klappte auch sein Gesicht zu, mit dem wortlos befehlenden Gesicht klappte auch der Sekretär zu einer ergebenen Verbeugung zusammen und nahm Fichte in Empfang, um ihn abzuservieren und nebenan in der Bibliothek zwischen allen andren philosophischen Systemen der Welt wieder einzureihen; man kocht nicht selbst, sondern läßt das durch seine Leute besorgen.

»Es bleibt also,« sagte Graf Leinsdorf »vorderhand bei den vier Punkten: Friedenskaiser, europäischer Markstein, wahres Österreich und Besitz und Bildung. Danach müssen Sie das Rundschreiben abfassen.« Se. Erlaucht hatte in diesem Augenblick einen politischen Gedanken gehabt, und in Worte gebracht bedeutete er ungefähr: Sie werden von selbst kommen! Er meinte jene Kreise seines Vaterlands, die sich weniger diesem angehören fühlten als der deutschen Nation. Sie waren ihm unangenehm. Hätte sein Sekretär ein passenderes Zitat gefunden, um ihrem Empfinden zu schmeicheln (denn dazu war Joh. Gottl. Fichte ausgewählt worden), so wäre die Stelle auch niedergeschrieben worden; aber im Augenblick, wo eine störende Einzelheit das hinderte, atmete Graf Leinsdorf befreit auf.

Se. Erlaucht war der Erfinder der großen vaterländischen Aktion. Ihm war, als die aufregende Nachricht aus Deutschland kam, zuerst das Wort Friedenskaiser eingefallen. Es hatte sich sofort damit die Vorstellung eines 88jährigen Herrschers verknüpft, eines wahren Vaters seiner Völker, und einer 70jährigen ununterbrochenen Regierung. Diese beiden Vorstellungen trugen wohl natürlich die ihm vertrauten Züge seines kaiserlichen Herrn, aber die Glorie, die auf ihnen lag, war nicht die der Majestät, sondern der stolzen Tatsache, daß sein Vaterland den ältesten und am längsten regierenden Herrscher der Welt besaß. Unverständige könnten sich nun versucht fühlen, darin bloß die Freude an einer Rarität zu erblicken (etwa wie wenn Graf Leinsdorf den Besitz der viel selteneren quergestreiften Sahara mit Wasserzeichen und einem fehlenden Zahn höher gestellt hätte als den eines Greco, was er auch in Wahrheit tat, wenngleich er beide besaß und die berühmte Bildersammlung seines Hauses nicht ganz außer acht ließ), aber sie verstehen eben nicht, welche bereichernde Kraft ein Gleichnis selbst noch vor dem größten Reichtum voraus hat. In diesem Gleichnis von dem alten Herrscher lag für Graf Leinsdorf zugleich sein Vaterland, das er liebte, und die Welt, der es ein Vorbild sein sollte. Große und schmerzliche Hoffnungen bewegten Graf Leinsdorf. Er hätte nicht sagen können: war es mehr Schmerz über sein Vaterland, das er nicht ganz den Ehrenplatz »in der Familie der Völker« einnehmen sah, der ihm gebührte, oder war, was ihn bewegte, Eifersucht auf Preußen, das Österreich von diesem Platz hinabgestoßen hatte (im Jahre 1866, durch Heim-Tücke!), oder erfüllten ihn einfach Stolz auf den Adel eines alten Staats und das Verlangen, ihn vorbildlich zu beweisen; denn die Völker Europas trieben nach seiner Meinung alle im Strudel einer materialistischen Demokratie dahin, und es schwebte ihm ein erhabenes Symbol vor, das ihnen zugleich Mahnung und Zeichen der Einkehr sein sollte. Es war ihm klar, daß etwas geschehen müsse, was Österreich allen voranstellen sollte, damit diese »glanzvolle Lebenskundgebung Österreichs« für die ganze Welt »ein Markstein« sei, somit ihr diene, ihr eigenes wahres Wesen wiederzufinden, und daß dies alles mit dem Besitz eines 88jährigen Friedenskaisers verknüpft war. Mehr oder Genaueres wußte Graf Leinsdorf in der Tat noch nicht. Aber es war sicher, daß ihn ein großer Gedanke ergriffen hatte. Nicht nur entflammte dieser seine Leidenschaft – wogegen ein streng und verantwortlich erzogener Christ immerhin hätte mißtrauisch bleiben müssen –, sondern mit heller Evidenz ergoß sich dieser Gedanke unmittelbar in so erhabene und strahlende Vorstellungen wie die des Herrschers, des Vaterlands und des Weltglücks. Und was diesem Gedanken noch an Dunkel anhaftete, vermochte Se. Erlaucht nicht zu beunruhigen. Se. Erlaucht kannte sehr wohl die theologische Lehre von der contemplatio in caligine divina, der Beschauung im göttlichen Dunkel, das in sich unendlich klar ist, aber für den menschlichen Intellekt Blendung und Finsternis; und im übrigen war es seine Lebensüberzeugung, daß ein Mann, der Großes tut, gewöhnlich nicht weiß warum – sagt doch schon Cromwell: »Ein Mann kommt nie weiter, als wenn er nicht weiß, wohin er geht!« Graf Leinsdorf gab sich also befriedigt dem Genuß seines Gleichnisses hin, dessen Unsicherheit ihn, wie er fühlte, kräftiger erregte als Sicherheiten.

Von Gleichnissen abgesehn, hatten seine politischen Anschauungen aber eine außerordentliche Festigkeit und jene Freiheit eines großen Charakters, die nur durch die vollkommene Abwesenheit von Zweifeln ermöglicht wird. Er war als Majoratsherr Mitglied des Herrenhauses, aber weder politisch aktiv, noch bekleidete er ein Amt am Hofe oder im Staate; er war »nichts als Patriot«. Aber gerade dadurch und durch seinen unabhängigen Reichtum war er zum Mittelpunkt aller anderen Patrioten geworden, die mit Besorgnis die Entwicklung des Reichs und der Menschheit verfolgten. Die ethische Verpflichtung, nicht ein gleichgültiger Zuschauer zu sein, sondern der Entwicklung »von oben helfend die Hand zu bieten«, durchdrang sein Leben. Er war vom »Volk« überzeugt, daß es »gut« sei; da nicht nur seine vielen Beamten, Angestellten und Diener von ihm abhingen, sondern in ihrem wirtschaftlichen Bestehen zahllose Menschen, hatte er es nie anders kennengelernt, ausgenommen die Sonn- und Feiertage, wo es als freundlich buntes Gewimmel aus den Kulissen quillt wie ein Opernchor. Was nicht zu dieser Vorstellung stimmte, führte er deshalb auf »hetzerische Elemente« zurück; es war für ihn das Werk verantwortungsloser, unreifer und sensationssüchtiger Individuen. Religiös und feudal erzogen, niemals im Verkehr mit bürgerlichen Menschen dem Widerspruch ausgesetzt, nicht unbelesen, aber durch die Nachwirkung der geistlichen Pädagogik, die seine Jugend behütet hatte, zeitlebens gehindert, in einem Buch etwas anderes zu erkennen als Übereinstimmung oder irrende Abweichung von seinen eigenen Grundsätzen, kannte er das Weltbild zeitgemäßer Menschen nur aus den Parlaments- und Zeitungskämpfen; und da er genug Wissen besaß, um die vielen Oberflächlichkeiten in diesen zu erkennen, wurde er täglich in seinem Vorurteil bestärkt, daß die wahre, tiefer verstandene bürgerliche Welt nichts anderes sei, als was er selbst meine. Überhaupt war der Zusatz »der wahre« zu politischen Gesinnungen eine seiner Hilfen, um sich in einer von Gott geschaffenen, aber ihn zu oft verleugnenden Welt zurechtzufinden. Er war fest überzeugt, daß sogar der wahre Sozialismus mit seiner Auffassung übereinstimme; ja es war von Anfang an seine persönlichste Idee, die er sogar sich selbst noch teilweise verbarg, eine Brücke zu schlagen, auf der die Sozialisten in sein Lager marschieren sollten. Es ist ja klar, daß den Armen zu helfen eine ritterliche Aufgabe ist und daß für den wahren Hochadel eigentlich kein so großer Unterschied zwischen einem bürgerlichen Fabrikanten und seinem Arbeiter bestehen kann; »wir alle sind ja im Innersten Sozialisten« war ein Lieblingsausspruch von ihm und hieß ungefähr so viel und nicht mehr, wie daß es im Jenseits keine sozialen Unterschiede gibt. In der Welt hielt er sie aber für notwendige Tatsachen und erwartete von der Arbeiterschaft, wenn man ihr bloß in den Fragen des materiellen Wohlbefindens entgegenkomme, daß sie von unvernünftigen, in sie hineingetragenen Schlagworten abstehn und die natürliche Weltordnung einsehn werde, wo jeder in dem ihm bestimmten Kreis Pflicht und Gedeihen findet. Der wahre Adelige erschien ihm darum so wichtig wie der wahre Handwerker, und die Lösung der politischen und wirtschaftlichen Fragen lief für ihn eigentlich auf eine harmonische Vision hinaus, die er Vaterland nannte.

Se. Erlaucht hätte nicht anzugeben vermocht, was davon er während der Viertelstunde seit dem Abgang seines Sekretärs gedacht hatte. Vielleicht alles. Der mittelgroße, etwa sechzigjährige Mann saß reglos vor seinem Schreibtisch, die Hände im Schoß verschränkt, und wußte nicht, daß er lächelte. Er trug einen niederen Kragen, weil er Anlage zu einem Blähhals hatte, und einen Knebelbart entweder aus dem gleichen Grund oder weil er damit ein wenig an die Bilder böhmischer Aristokraten aus der Zeit Wallensteins erinnerte. Ein hohes Zimmer stand um ihn, und dieses war wieder von den großen, leeren Räumen des Vorzimmers und der Bibliothek umgeben, um welche, Schale über Schale, weitere Räume, Stille, Devotion, Feierlichkeit und der Kranz zweier geschwungenen Steintreppen sich legten; wo diese in die Einfahrt mündeten, stand in schwerem, tressenbeladenem Mantel, seinen Stab in der Hand, der große Türhüter, er sah durch das Loch des Torbogens in die helle Flüssigkeit des Tags, und die Fußgänger schwammen vorbei wie in einem Goldfischglas. An der Grenze dieser beiden Welten zogen sich die spielerischen Ranken einer Rokokofassade hoch, die unter den Kunstgelehrten nicht nur wegen ihrer Schönheit berühmt war, sondern auch weil sie höher war als breit; sie gilt heute als der erste Versuch, die Haut eines breit bequemen Landschlößchens über das auf bürgerlich beengtem Grundriß hochgeratene Gerüst des Stadthauses zu spannen, und damit als einer der wichtigsten Übergänge von der feudalen Grundherrlichkeit zum Stil der bürgerlichen Demokratie. Hier ging die Existenz der Leinsdorfs kunstbücherlich beglaubigt in den Weltgeist über. Wer das aber nicht wußte, sah so wenig davon wie der vorüberschießende Wassertropfen von der Wand seines Kanals; er bemerkte nur das weiche grauliche Torloch in der sonst festen Straße, eine überraschende, fast erregende Vertiefung, in deren Höhle das Gold der Tressen und des großen Knopfes am Türhüterstab erglänzten. Bei schönem Wetter kam dieser Türhüter vor die Einfahrt; dann stand er dort wie ein bunter, weit sichtbarer Edelstein, in eine Häuserflucht eingesprengt, die in niemandes Bewußtsein tritt, obgleich es erst ihre Wände sind, die das zahl- und namenlos vorbeitreibende Gewimmel zur Ordnung einer Straße erheben. Es ist zu wetten, daß ein großer Teil des »Volks«, über dessen Ordnung Graf Leinsdorf besorgt und unablässig wachte, mit seinem Namen, wenn er fiel, nichts als die Erinnerung an diesen Türsteher verband.

Aber Se. Erlaucht hätte darin keine Zurücksetzung erblickt; eher dürfte ihm schon der Besitz derartiger Türhüter als die »wahre Selbstlosigkeit« vorgekommen sein, die einem vornehmen Mann ansteht.

22

Die Parallelaktion steht in Gestalt einer einflußreichen Dame von unbeschreiblicher geistiger Anmut bereit, Ulrich zu verschlingen

Diesen Grafen Leinsdorf hatte Ulrich nach dem Wunsch des Grafen Stallburg aufsuchen sollen, aber er hatte beschlossen, es nicht zu tun; dagegen nahm er sich vor, seiner »großen Kusine« den ihm von seinem Vater empfohlenen Besuch zu machen, weil ihm daran gelegen war, sie einmal mit eigenen Augen zu sehn. Er kannte sie nicht, aber er hatte schon seit einiger Zeit eine ganz besondere Abneigung gegen sie, weil es wiederholt vorkam, daß ihm Leute, die von seiner Verwandtschaft wußten und es gut mit ihm meinten, rieten: »Diese Frau müßten gerade Sie kennenlernen!« Es geschah immer mit jener besonderen Betonung des Sie, die gerade den Angeredeten als ausnehmend geeignet zum Verständnis eines solchen Juwels hervorheben will und ebensogut eine aufrichtige Schmeichelei bedeuten kann wie ein Versteck für die Überzeugung, daß man der rechte Narr für eine solche Bekanntschaft sei. Er hatte sich deshalb schon oft nach den besondren Eigenschaften dieser Frau erkundigt, aber niemals darauf befriedigende Antwort erhalten. Es hieß entweder: »Sie hat eine unbeschreibliche geistige Anmut« oder: »Sie ist unsere schönste und gescheiteste Frau«, und manche sagen einfach: »Sie ist eine ideale Frau!« – »Wie alt ist denn diese Person?« fragte Ulrich, aber niemand wußte es, und gewöhnlich war der Befragte darüber erstaunt, daß er selbst noch nicht darauf gekommen sei, sich das zu fragen. »Und wer ist denn nun eigentlich ihr Geliebter?« fragte Ulrich schließlich ungeduldig. »Ein Verhältnis?« Der nicht unerfahrene junge Mann, zu dem er so sprach, staunte. »Sie haben ganz recht. Kein Mensch käme auf diese Vermutung.« »Also eine geistige Schönheit,« sagte sich Ulrich; »eine zweite Diotima.« Und von diesem Tag an nannte er sie in Gedanken so, nach jener berühmten Dozentin der Liebe.

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