Kitabı oku: «Musikdramaturgie im Film», sayfa 9

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1.2.2 Programmmusik oder Ideenkunstwerk?

Auffassungen und Begriffe zur Musikdramaturgie im Film scheinen erheblich von musikästhetischen Auffassungen zur Programmmusik beeinflusst worden zu sein. So haben – wohl in der geschichtlichen Entwicklung der Filmmusik begründet – Ansichten aus dem 19. Jahrhundert offenkundig auf die Filmmusik und Musikdramaturgie im Film eingewirkt.105 Die Ablehnung oder Umdeutung dieser musikästhetischen Positionen zeigte sich dann in neuen Kompositionstechniken (modulare Patterns, Techniken der sogenannten Neuen Musik, Verfremdungstechniken), in der Verwendung kammermusikalischer Besetzungen, verfremdender elektronischer Musikanteile, im Fehlen von Musik an erwartbaren Stellen oder durch das ausgefeilte Unterlegen von Filmen mit existierenden Popsongs (song scoring) anstelle von komponierter Filmmusik. Die Geschichte der Filmmusik geht dabei untrennbar einher mit der Filmgeschichte, d. h. mit Filmen, die andere Themen wählten oder andere Formen für ihre Geschichte gefunden haben. Doch auch hier gilt es, die Koexistenz unterschiedlicher Tendenzen im Auge zu behalten, um Musikgeschichte und Musikästhetik für die Theoriebildung berücksichtigen zu können.106

Die Untersuchung der Ursprünge und Fragen nach einer möglichen Narrativität von Musik ergibt folgendes Bild: Programmmusik ist das Verständnis von Musik in der Zeit des späten 18. und im 19. Jahrhundert, in der den Menschen Erfahrungen über die Welt hauptsächlich über die Literatur zukommen »und die Literatur über eine Sache von kaum geringerer Bedeutung als die Sache selbst ist« (Dahlhaus 2000b/GS1, S. 498). Literarische Texte (aber auch Bilder) können entweder als initiierende Impulse für oder als nachfolgende Reflexe auf den »Inhalt« von Musik angesehen werden.

Die Auffassungen zur Programmmusik sind im 19. Jahrhundert, in welchem die musikästhetische Debatte zu diesem Thema einen Höhepunkt hatte, davon geprägt, dass Musik zwar »beredt sei, […] sich aber dem Begreifen, der Vergewisserung des Inhalts der Musik immer wieder entzog« (Dahlhaus 2000b/GS1, S. 499). Von Narrativität in Programmmusik kann also nur indirekt gesprochen werden, da Musik uns zwar durchaus etwas »erzählt«, jedoch der konkrete Inhalt dieser »Erzählung« in unzählige individuelle Deutungen zerfällt, ja im Verständnis der Musikästhetik des 19. Jahrhunderts vage bleiben soll.

Sobald man den Inhalt von Musik in Worte fasst oder den emotionalen Reflex auf Musik zu beschreiben versucht, verschwindet die Ambivalenz und damit der Wert, den musikalische Programmatik für den Gefühlshaushalt hat. Mit dem, was Worte beschreiben können, werden Empfindungen banalisiert, da sie meist alles drumherum Befindliche ausschließen. Eine »musikalische Erzählung« schließt dagegen unterschiedliche Deutungen mit ein und mit ihr die verwandten Empfindungen einer zentralen Inhaltsidee.

Beispiel: Debussy: Préludes für Klavier

Claude Debussy hat seinen Préludes für Klavier (1910–1913) programmatische Titel nachgestellt. Das Prélude Nr. 6, triste et lent aus dem 1. Band trägt beispielsweise den Untertitel Des Pas Sur La Neige. Nachdem also das Stück gespielt wurde, bietet der Komponist ein Programm an, das sich in einem möglichen Sujet (z. B. Spaziergang durch verschneite Landschaft) zeigt. Der schreitende Rhythmus, das Innehalten, der melancholische Grundton, die spürbare »Stille«, wie sie für Landschaften im Schnee, der akustische Reflexionen »verschluckt«, typisch ist, erscheinen plötzlich als treffende Assoziationen. Welche Facette dieser nur geringen Auswahl an narrativen Implikationen gültig ist, bleibt völlig offen, so offen, dass auch ein anderes Sujet zur selben Musik durch eine Unter- oder Überschrift benannt werden könnte. Für die Préludes Nr. 1, 3, 4, 7 und 8 aus Band 1 sowie Nr. 2, 3, 4, 6, 7, 8, 9, 10 aus Band 2 lassen sich immerhin konkrete außermusikalische Impulse belegen, die aus der Literatur, Sagenwelt, Architektur und Malerei stammen oder sich – wie im Falle von Nr. 6 (Band 2) General Lavine – excentric auf eine konkrete Person (einen amerikanischen Clown, der 1910/12 in Paris auftrat) beziehen.107

Ein Programm, das von Komponisten bei der Entstehung oder Veröffentlichung von Musik herangezogen wird, bleibt in seiner Wirkung auf das Publikum ambivalent, weil nie ganz geklärt werden kann, ob es Impuls oder Reflex auf die Musik oder ihre Rezeption ist. Dies gilt für Tendenzen impressionistischer Kunst ebenso wie für Charakterstücke aus Barock, Klassik und Romantik. Ein Programm kann die Wahrnehmung öffnen und das Verständnis fördern (und damit sowohl der Erkenntnis als auch dem Kunstgenuss dienen), solange es nur hindeutet und nicht versucht, dem Publikum eine einzig gültige Deutung aufzuzwingen und das Werk nicht letztgültig erschließen will.108

Die Sinfonische Dichtung ist eines der prominentesten Beispiele für Gattungen der Programmmusik. Doch auch an dieser Gattung zeigt sich, dass der »Inhalt« von Programmmusik musikalischer und nicht literarischer Natur ist.109 Sieht man das Programm als Impuls einer inneren Empfindung oder als Reflex auf einen äußeren Anlass, ist der außermusikalischen Stoff, das Sujet, nicht der schöpferisch-formende Teil des Werkes, sondern das Musikalische. Selbst bei stereotyper Nutzung von Werken der Programmmusik im Film scheint die »tönend bewegte Form« die schöpferische und ästhetische Kraft zu sein und nicht der Inhalt des Programms.

Gustav Mahler unterschied zwischen einem »inneren« und »äußeren« Programm, wie Dahlhaus zusammenfasst:

»Präsentiert sich das »äußere« Programm als Bilderfolge, so ist das ›innere‹ ein ›Empfindungsgang‹, allerdings einer, der sich dem Zugriff empirisch-psychologischer Kategorien entzieht.« (Dahlhaus 2002/GS4, S. 115).

Der Dirigent und Komponist Gustav Mahler sieht im Musizieren den »ganzen Menschen« sich ausdrücken, der vom Gang seiner Empfindungen in Bezug zu allem, was ihn bewegt, erzählt. In Mahlers Vorstellung sind andere Kunstformen im Musizieren vereinigt. An den Dirigenten Bruno Walter schrieb er:

»Wenn man musizieren will, darf man nicht malen, dichten, beschreiben wollen. Aber WAS man musiziert, ist doch immer der GANZE (also fühlende, denkende, atmende, leidende etc.) Mensch. Es wäre ja auch weiterhin nichts gegen ein ›Programm‹ einzuwenden (wenn es auch nicht gerade die höchste Staffel der Leiter ist) – aber ein MUSIKER muss sich da aussprechen und nicht ein Literat, Philosoph, Maler (alle die sind im Musiker enthalten). [alle H. i. O.]« (Mahler 1982, S. 293)

Gustav Mahler bewegt sich in einem Bereich der metaphysischen Musikästhetik. Das »äußere« Programm lässt sich zwar mit konkreten Bildern und sprachlichen Mitteln beschreiben, aber verbleibt im Bereich der literarischen oder bildenden Kunst. Das »innere« Programm, das Mahler als »Empfindungsgang« sieht, erzählt vom ethos seines Schöpfers und kann vom pathos, das im Illustrativen steckt, unterschieden werden. Die Ganzheit der Gefühls-, Lebens- und Gedankenwelt, die sich im Musizieren und in Musikwerken ausdrücken kann, legt es nahe, von Weltanschauungsmusik oder »Ideenkunstwerk« statt von Programmmusik zu sprechen.110

Fasst man die Diskussion über Programmmusik und sogenannte »absolute« Musik grob zusammen, lässt sich sagen, dass literarische Programme nicht die Substanz des musikalischen Werkes berühren. Sie können zu den Entstehungsbedingungen von Musik gehören, aber nicht das Wesen der Musik darstellen oder erfassen. Aus dieser Sicht bleibt Programmmusik – im Gegensatz zur Illustrationsmusik – autonome Musik. Richard Strauss ging so weit zu sagen, dass es gar keine Programmmusik gäbe.111 Dennoch schuf auch er Werke, die zweifellos schildernd sind, äußere Natur illustrieren oder eine Geschichte musikalisch bebildern. Neben Programmmusik als »hermeneutische Gleichnisreden« (Dahlhaus 2002/GS4, S. 112) existieren auch Abstufungen, die bis hin zur Illustration einer äußeren Erscheinung reichen.

Adorno schreibt in seinem wegweisenden Mahler-Buch: »Nicht Musik zwar will etwas erzählen, aber der Komponist will Musik machen, wie sonst einer erzählt.« (Adorno 1960/1969, S. 86). Dort beschreibt er auch den mimetischen Impuls, den Musik in unterschiedlichem Maße haben kann und der durch die musikalische Formung in eine Wechselbeziehung zum Musikalischen tritt. Mit dieser anschaulichen Formulierung ist nicht die Nachahmung eines Sujets gemeint, sondern seine Verarbeitung.

»Als ausdrucksvolle verhält Musik sich mimetisch, nachahmend, wie Gesten auf einen Reiz ansprechen, dem sie sich im Reflex gleichmachen. Dies mimetische Moment tritt in der Musik allmählich mit dem rationalen, der Herrschaft über das Material zusammen: wie beide aneinander sich abarbeiten, ist ihre Geschichte.« (Adorno 1960/1969, S. 34)112

In der Musikästhetik des späten 19. Jahrhunderts verbirgt sich der seltsame Widerspruch zwischen Nicht-Erfassbarkeit von Gefühl oder Idee und deren Bindungen an außermusikalische Impulse. Der erzählende Gestus und die Perspektive einer künstlerisch sich äußernden Person, die ein Sujet verarbeitet, ist zu einem Merkmal des Kunstsystems Musik geworden. Im Kino trifft es auf ein filmisches Kunstsystem, dem man eine ähnliche Qualität zuschreiben kann, sodass mit den Worten Bachtins von der »Polyphonie der Stimmen« auch im Kino gesprochen werden kann.113 Die vage Existenz eines »ästhetischen Subjekts« (Danuser 1975, S. 15), das sich durch Musik äußert, bildet einen Teil der rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen, die den Einsatz und die Wirkung von Filmmusik beeinflussen.

Die Affinität von Filmschaffenden für die Verwendung der Musik von Wagner und Mahler im Film hängt, so lässt sich mit einer gewissen Sicherheit vermuten, mit der in ihrer Instrumentalmusik schon enthaltenen Wechselwirkung von musikalischer Form mit Ideen- und Gefühlswelt zusammen. Die Gedanken, Ideen und Gefühle, die sich in einem musikalischen Ideenkunstwerk niedergeschlagen haben, können bei zitierter, präexistenter oder an jene Tonsprache angelehnter Musik in die filmische Erzählung integriert werden, z. B. zur Strukturbildung, Sinnstiftung oder Illustration. Bis ins Letzte bestimmbar sind die Ideen jedoch – zumal in einem neuen, tatsächlich narrativen Kontext eines Films, der ihre ideelle Bedeutung allerdings auch einengen kann – nicht.

1.2.3 Narrative Metaphern und Formmodelle für Musik

In der angloamerikanischen Musikwissenschaft wird seit ca. 1990 über Analogien zwischen musikalischen und narrativen Prinzipien nachgedacht. In dazu gehörenden und anderen Untersuchungen zeigen sich unterschiedliche Tendenzen, die von allgemeinen Vergleichen zwischen Handlung, Charakteren usw. und musikalischen Gestalten, Prozessen usw. bis hin zu sehr direkten Vergleichen reichen, die selbst Zeitformen und die Unterscheidung von erster oder dritter Person suchen.114

Fred Maus beruft sich auf Heinrich Schenker (Schenker 1935/1956), dessen Vergleiche zwischen alltäglichen Erfahrungen und deren künstlerischen Übersetzungen die Möglichkeit zulassen, musikalische Ereignisse als Teil einer »musikalischen Handlung« zu verstehen:

»Schenker’s remarks suggest the possibility of a generalized plot structure for tonal music; his list of ›obstacles, reverses, disappointments‹, and so on enumerates, informally, kinds of event in musical plots […].« (Maus 1991, S. 4).

Doch auch schon in seiner Harmonielehre (Schenker 1906) zeigt sich eine narrative Implikation: Die in einem Ton enthaltene Tendenz zur Hinzufügung der Quinte (gefolgt von der Terz als Ergänzung zum Dreiklang) kann als prozessuale, in die Zukunft gerichtete Analogie gelesen werden. Dagegen wäre die »Inversion« (Schenker 1906, S. 44 ff.) zur Unterquinte bzw. zum Quintfall als »Vergangenheit« des Tons zu verstehen. Damit steht Schenker allerdings einer anderen Tradition entgegen: der Rameau’schen Fundamenttheorie, die sich seine Zeitgenossen Simon Sechter, Anton Bruckner und Arnold Schönberg zu eigen machten, welche genau umgekehrt die Tendenz zum bzw. Auflösung mit einem Quintfall als in die Zukunft gerichtete Erwartung auffasst.

Einige neuere Arbeiten zeigen Versuche, narrative Kategorien möglichst direkt zu übertragen, z. B. die grammatikalischen Fragen nach der ersten oder dritten Person oder dem Vorhandensein verschiedener Zeitformen, insbesondere einer Vergangenheitsform in musikalischen Strukturen.115 Raymond Monelle behauptet, dass harmonisch oder thematisch fest gefügte Abschnitte (insbesondere Themen und Themenblöcke) der Schilderung von Vergangenheit entsprächen, Entwicklungsteile (Überleitung, Modulation, Durchführung, rhythmische oder harmonische Verdichtung) dagegen mit der Schilderung von gegenwärtiger Handlung vergleichbar wären (Monelle 2000, S. 102).

Schon Heinrich Christoph Koch hatte in seinem 1802 veröffentlichten Musikalischen Lexikon den Versuch unternommen, musikalische Logik anhand der Zuweisung von Subjekt und Prädikat fassbar zu machen, nahm davon aber aufgrund der nicht zu leugnenden Beliebigkeit bei der Zuordnung wieder Abstand.116

Musikalische Prozesse könnten zwar nach Auffassung von Nattiez, der immer wieder im Zusammenhang von Narrativität und Musik zitiert wird, die prozessuale Gestalt einer Handlung annehmen, aber nicht mit Bedeutung gefüllt werden:

»If, in listening to music, I am tempted by the ›narrative impulse‹, it is indeed because, on the level of the strictly musical discourse, I recognize returns, expectations and resolutions, but of what, I do not know.« (Nattiez 1990, S. 245)

So blieben nur Metaphern, schlussfolgert Nattiez weiter (Nattiez 1990, S. 257).

Musikalische Narrativität ist in der angloamerikanischen Forschungslinie, die auch von Kanada ausgeht und in Frankreich rezipiert wird und teils das Vokabular der russischen Formalisten aufgreift, durch entweder sehr direkte Analogien zu literarischen Kategorien geprägt oder wird wegen der Begrenztheit dieser Versuche kritisch hinterfragt, besonders wegen der schwer zu klärenden Frage nach Inhalt, Bedeutung oder der Botschaft von Musik und worin musikalische Logik außerhalb der motivisch-thematischen Arbeit begründet sei.

Im deutschsprachigen Raum greifen Markus Bandur117 und Hartmut Fladt118 die Idee auf, Begriffe der Filmtheorie musikwissenschaftlich zu beleuchten. Plot – das englischsprachige Wort für Handlung bzw. Sujet119 – steht bei Bandur allerdings für das, was ich als Fabel bezeichnen würde:

»Der Ausdruck Plot, der in der Literaturwissenschaft und davon ausgehend in der Filmtheorie zur Bezeichnung einer Handlung beziehungsweise ihres Kerns, ihrer kausalen Stimmigkeit und ihrer strukturellen Logik dient, kann dementsprechend in der Musik den in Sprache übersetzbaren ›Angelpunkt‹ oder die umfassende Grundidee eines musikalischen Gebildes bezeichnen, aus dem beziehungsweise der heraus sich seine individuelle Formung verstehen und erklären läßt. […] Wie jeder Beschreibung musikalischer Sachverhalte durch Wortsprache haftet der Herausarbeitung eines Plots in der [musikalischen – R. R.] Analyse dabei der Charakter des Metaphorischen und Analogischen an.« (Bandur 2002, S. 69)

Mit »Angelpunkt« und »umfassende Grundidee« beschreibt Bandur eigentlich den für die Fabel charakteristischen inneren Zusammenhang, den geeigneten Ausgangspunkt, aber auch das Entwicklungspotenzial des Materials und sich daraus ergebende Beziehungen der Teilelemente untereinander. Der erste zitierte Satz von Bandur ist allerdings ungenau: Plot heißt Handlung, der sogenannte Kern der Handlung wäre die Fabel bzw. story.120 Der frühere musiktheoretische Begriff dafür ist »Anlage« von Heinrich Christoph Koch (Koch 1782/1787/1793), der – wie Hartmut Fladt bemerkt (Fladt 2009, S. 13) – seit Ende des 18. Jahrhundert in Philosophie und Musiktheorie geläufig ist.121

Das Konzept vom »ästhetischen Subjekt« (Danuser 1975, S. 15) überbrückt eine Reihe von Schwierigkeiten bei der Analogiebildung zwischen literarischer und musikalischer »Narrativität«. Es tritt nicht nur als moralische Instanz auf, sondern kann auch ähnlich einer narrativen Instanz musikalische Vorgänge strukturieren und sogar kommentieren.

Beispiel: L. v. Beethoven: Klaviersonate Nr. 17 (op. 31, 2)

Ludwig van Beethovens Musik »kommentiert« die von ihm provozierten Umbrüche – seinen vielzitierten »neuen Weg«122 – zuerst in den Klaviersonaten, dann auch in den Sinfonien. So beginnt z. B. der erste Satz Largo – Allegro in Beethovens Klaviersonate Nr. 17 (op. 31, Nr. 2) mit einem arpeggierten A-Dur-Sextakkord, der die Assoziation an ein Rezitativ weckt. Es ist eine Form innerhalb von Vokalwerken, in der die Figurenrede oder aber der Bericht oder Kommentar eines Erzählers vorgetragen wird. Innerhalb der einleitenden 20 Largo-Takte erklingt die Gestalt des Sextakkordes ein weiteres Mal. Im Übergang zur Durchführung erscheinen in T. 93–98 drei weitere solcher Sextakkorde mit der Rezitativ-Assoziation. In der Reprise kehren die ersten beiden Sextakkorde wieder, nun erweitert durch etwas, das als wortloses, mit dem Klavier »gesungenes« Rezitativ bezeichnet werden kann. Es setzt sich deutlich von der Umgebung ab (T. 143–158) und ist mit con espressione e semplice überschrieben. Spätestens an dieser Stelle ist Raum für die Assoziation zu jenem Gestus, der für die Eröffnung von Rezitativen typisch wäre. Durch das eingefügte Klavier-Rezitativ und die rezitativisch anmutenden Sextakkorde als versetzt eingestreute Begleitakkorde verschafft sich inmitten des musikalischen Prozesses gleichsam ein »Erzähler« Raum und Gelegenheit zum Kommentar. Das scheint auch insofern in diesem Fall notwendig zu sein, da der erste Satz der Sonate die tradierten Auffassungen zur musikalischen Form ignoriert: Die barocke und klassische Idee der Affekteinheit innerhalb eines Satzes, die z. B. noch bei Haydn obligatorisch war, wird negiert, und die Ergänzung musikalischer Teile mit Taktgruppen, die einen Ausgleich von harmonischer und motivisch-thematischer Spannung bewirken, bleibt unvollkommen. In seinem persönlichen Experimentierfeld der Klaviersonate markiert Beethoven somit einen kompositorischen Neuanfang,123 der Außergewöhnliches in seiner musikalischen Dramaturgie offenbart. Im erwähnten Beispiel steht noch relativ deutlich und mit den genannten musikalischen Mitteln markiert das »ästhetische Subjekt« als imaginärer »Erzähler« oder »Moderator« vermittelnd zwischen Publikum und Werk.

Für musikalische Formen wurden vonseiten der Musiktheorie und Musikwissenschaft immer wieder Analogien zu den narrativen Künsten hergestellt. Ein durch narrative Metaphern124 gestütztes Formdenken wirkte wiederum auf den musikalischen »Inhalt« und seinen »Sinn« zurück. Um die Funktions- und Konstruktionsprinzipien musikalischer Teilmomente sowie den Zusammenhalt von Musik zu beschreiben oder – wie Dahlhaus formulierte – um »das Bleibende im Transistorischen der Musik« (Dahlhaus 2001c/GS3, S. 609) zu fassen, entlehnte man als Metaphern immer wieder Begriffe aus Rhetorik und Poetik. Analogien zur sprachlichen Syntax, Figurenlehre bzw. Rhetorik und zur Dramentheorie waren am nachhaltigsten.

Die Analogiebildungen zwischen sprachlicher und musikalischer Syntax dienten vor allem der Differenzierung der gliedernden musikalischen Mittel und führten 1787 bei Heinrich Christoph Koch zum Begriff der »interpunctischen Form«.125 Zur Abstufung unterschiedlich stark gliedernder Kadenzen oder melodischer Formeln wurde der Vergleich mit den Satzzeichen und Sinneinheiten der geschriebenen Sprache bzw. dem Sprechen gezogen (so auch mit dem Heben oder Senken der Stimme bei Fragen oder Aussagen). Auch verglich schon 1739 Johann Mattheson (und in der Folge einige andere Musiktheoretiker) die Gesamtstruktur eines Musikstückes mit Strukturen und Wirkungsmechanismen der allseits geläufigen Rhetorik.126 Dies führte speziell zum Vergleich musikalischer Abschnitte und Mittel mit dem Aufbau und den Mitteln der antiken Gerichtsrede (Mattheson 1739/1999, S. 349f.). Der seit Nikolaus Harnoncourt wieder genutzte Begriff der »Klang-Rede« (Harnoncourt 1982) versucht dies zu erfassen und steht seit den 1980er Jahren für ein Musikverständnis, das sich einer historisch informierten Aufführungspraxis zuwendet.127

Um zu belegen, dass Komponisten und Theoretiker im 18. Jahrhundert »rhetorisch dachten und fühlten (sie hatten in der Regel das Fach ›Rhetorik‹ im Rahmen ihres Latein-Unterrichts)« (Fladt 1998/2000, S. 458), soll ein Zitat aus Matthesons Abhandlung Der Vollkommene Capellmeister von 1739 deutlich machen, wie grundlegend Rhetorik und Dichtkunst bei der theoretischen und praktischen Beschäftigung mit Musik war: Um »bis auf den Mittelpunct« der Musik durchzudringen,

»müssen wir uns die Mühe geben, die liebe Grammatic sowol, als die schätzbare Rhetoric und werthe Poesie auf gewisse Weise zur Hand zu nehmen: denn ohne von diesen schönen Wissenschafften vor allen die gehörige Kundschaft zu haben, greifft man das Werck, ungeachtet des übrigen Bestrebens, doch nur mit ungewaschenen Händen und fast vergeblich an.« (Mattheson 1739/1999, S. 279)

Noch deutlicher – wie Dahlhaus bemerkt – zeichnet sich der Zusammenhang von musikalischem Formendenken und rhetorischer Konzeption eines Vortrages oder einer Rede bei Johann Nikolaus Forkel ab, der 1788 in der Einleitung seiner Allgemeinen Geschichte der Musik schreibt:

»Die Hauptempfindung, der Hauptsatz, das Thema … muss vorzüglich genau bestimmt werden; daher bedient man sich 1) der Zergliederung, um sie auf allen möglichen Seiten zu zeigen; 2) passender Nebensätze, um sie damit zu unterstützen; 3) möglicher Zweifel, das heißt im musikalischen Sinn, solcher Sätze, die der Hauptempfindung zu widersprechen scheinen, um durch die darauf folgende Widerlegung derselben den Hauptsatz desto mehr zu bestimmen; und endlich 4) der Bekräftigung durch Vereinigung, oder nähere Zusammenstellung aller Sätze, die vereint dem Hauptsatze die stärkste Wirkung verschaffen können.« (Zitiert nach Dahlhaus 2001c/GS3, S. 612)

Obwohl die Rhetorik zu einem Großteil als Rechtfertigung für die nicht von einem Text bestimmte Formbildung in der Instrumentalmusik herangezogen wurde und damit ihrer Emanzipation von der Vokalmusik diente, wird doch deutlich, wie gemeinsame Wesensmerkmale von sprachlichem Vortrag und musikalischer Gliederung bzw. Verlauf benannt werden können. Die Anordnung und Unverrückbarkeit der Teile, ihre Funktion mit Hinblick auf eine zu erzielende Wirkung zeigen dabei in der Musik eine abstrakte Form von Narrativität und eigene Art der musikalischen Dramaturgie in »autonomer« Musik.

An ausgewählten Metaphern, die für die Theorie der Sonatenform verwendet wurden, kann exemplarisch gezeigt werden, welche Akzente für Pragmatik und Ästhetik der Musik gesetzt und welche narrativen Implikationen in »autonomer« Musik musiktheoretisch schon erörtert wurden. Interessant an diesen Deutungs- und Erklärungsansätzen für musikalische Form ist insbesondere, dass sie unterschiedlich mit dem Phänomen der Wiederholung umgehen.

Wiederholungsstrukturen besitzen zweifellos dramaturgische Relevanz. Dieser Sachverhalt ist auch für die Musikdramaturgie im Film bedeutsam. Musikwissenschaftlich sind Fragen nach der Funktion und Wirkung von Wiederholungen als Teil der Formenlehre thematisiert worden. Wiederholungen aber auch andere in der Zeit sich entfaltende Phänomene wie Rhythmisierung des Ablaufs, Tempoempfinden, Verdichtungsprozesse u. Ä. sind in ihrer Wirkung im Kino durch das Aufeinandertreffen der beiden ästhetischen Systeme Musik und Film geprägt und durch die Kontinuität der Zeitachse als Schnittstelle aufeinander bezogen.

Antonín Reicha hat 1826 den Sonatenhauptsatz mit dem Aufbau eines Dramas verglichen. Reichas Auffassung geht von dem in der Mitte liegenden Teil des Sonatenhauptsatzes, der Durchführung, aus. Er trennt mit einem Schnitt (coupe) am Ende der Exposition den Sonatenhauptsatz in zwei große Teile und spricht vom »zweiteiligen Drama«.128 Diese Mitte markiert das Ende der »Exposition«, welche die zwei »Mutterideen« (idée mère) enthält, und ist zugleich der Beginn der Durchführung. Der Schnitt kündigt den dramaturgischen Kulminationspunkt an, vergleichbar mit dem im Drama ebenfalls ungefähr in der Mitte oder spätestens am Ende des zweiten Drittels liegenden Handlungsumschlag (Peripetie). Die Durchführung wäre demnach beim Vergleich mit der aristotelischen Dramaturgie die Stelle der »äußersten Steigerung« (Aristoteles 2008, S. 25; Kap. 18,1455b25). Eindeutig auf die Terminologie von Lessing und Aristoteles zurückgreifend verwendet Reicha die Begriffe »Intrige« (intrigue, nach Lessing) bzw. »Knoten« (nœud bzw. Verwicklung, nach Aristoteles).129 Die heute als Durchführung (französisch: développement, englisch: development) bezeichnete erste Passage des zweiten Teils enthält demnach die Intrige oder die Schürzung des Knotens. Die heute im Deutschen Reprise, im Englischen recapitulation bezeichnete zweite Passage des zweiten Teils »entknotet« demnach die in der Durchführung aufgebaute Spannung:

»La première partie de cette coupe est l’exposition du morceau; la première section [de la deuxième partie] en est l’intrigue, ou le nœud; la seconde section en est le dénoûement« (Zitiert nach Dahlhaus 2001c/GS3, S. 610)

Eine aus dramaturgischer Sicht notwendige Kritik dieser Dramen-Analogie Reichas setzt an der Übersetzung des aristotelischen Begriffs an: In der neuen Übersetzung der Poetik von Arbogast Schmitt (Schmitt 2008) heißt es »Verwicklung« anstelle von »Knoten«, wie auch schon Carl Czerny in seiner Übersetzung von Antonín Reichas Kompositionslehre schreibt:

»Der erste Theil dieses Rahmens [des Formmodells der großen zweiteiligen Form, R. R.] ist die Exposition des Stückes; Die erste Unterabtheilung des zweiten Theils desselben [mit heutiger Terminologie: Durchführung, R. R.] ist die Verwicklung (die Intrigue) oder der Knoten; Die zweite Unterabtheilung desselben [mit heutiger Terminologie: Reprise, R. R.] ist die Entwicklung oder Entschürzung.«; siehe: (Reicha 1824–26, S. 1162 – 10ter Theil).

Während »Knoten« sehr punktuell wirkt, zeigt das Wort Verwicklung die langwierige, vorbereitende Arbeit. Die »Entknotung« ist die Phase der »fallenden Handlung« (Freytag 1863) und erzeugt Spannung, weil in der Auflösung der Verwicklung die weit reichende bzw. psychologisch tief liegende Begründung der Verwicklung deutlich wird und die Lösung umso befriedigender erscheinen lässt. So entsteht ein Widerspruch innerhalb der Analogie, da im dramaturgischen Sinne die »Entknotung« spannungssteigernd funktioniert. Die Reprise als harmonisch ausgeglichene Wiederkehr der Exposition, in der auch widersprüchliche Identitäten durch die gemeinsame Tonart versöhnt erklingen, widerspricht dem. In der musikalischen Realität wird in der Reprise die durch thematische Verwicklung und harmonische Prozesse aufgebaute Spannung ausgeglichen und durch meist überschaubare Interventionen, die Redundanzen verhindern sollen, auf einem notwendigen Level gehalten. Sie als dénoûement zu bezeichnen, ist im engeren Sinne dramaturgisch gesehen falsch, weil im Drama die Spannung während der »fallenden Handlung« durch »Entknotung« erheblich steigt, dagegen im konventionellen Sonatensatz die Wiederkehr von »eingerichteten« musikalischen Strukturen in der Reprise das Moment des Wiedererkennens darstellt und ein Signal für den Abschluss des Satzes nach dessen Entwicklungsteil (der Durchführung) gibt.

Wie Dahlhaus erläutert, hat sich Carl Czerny der Sicht seines Lehrers Reicha wenig später angeschlossen und interpretierte aus scheinbar gesteigertem Interesse an dessen Theorie die Sonatenform in einem nunmehr offensichtlichen Widerspruch zum musikalischen Sachverhalt der meisten Beispiele, wie Dahlhaus ausführt:

»Die Metapher ›dénoûement‹, die für die Wiederherstellung der Thematik in der Reprise nach den Verwicklungen in der Durchführung sinnvoll und angemessen sein mag, solange die Erinnerung an die Dramentheorie schattenhaft bleibt, verfehlt allerdings den musikalischen Sachverhalt, wenn man wie Czerny den Vergleich mit dem Drama presst und vom Anfang der Reprise als einer ›überraschenden Katastrophe‹ spricht.« (Dahlhaus 2001c/GS3, S. 610)

Das Ereignis »Reprise«, die Wiederkehr von Bekanntem als fundamentales musikalisches Gestaltungsprinzip, wird in der zugespitzten Interpretation Czernys kaum gewürdigt. Dennoch kann die Metapher der Sonatenhauptsatzform als Drama nachvollziehbare Analogien zwischen den musikalischen und den dramatischen Identitäten sowie den Prozessen der Verarbeitung von Material und Konflikten herstellen. Insbesondere die Akzentuierung des Widersprüchlichen, Dynamischen und Prozessualen wäre ein wichtiges Merkmal der Dramen-Analogie für den Sonatenhauptsatz.130 Mit Hinblick auf die Finalkonzeptionen vieler Sinfonien des (späteren) 19. Jahrhunderts ließe sich die Dramentheorie eventuell doch wieder als Analogie aufgreifen. Sie müsste dann aber auf Abfolge und Konzeption aller Sätze und nicht auf den Haupt- oder Kopfsatz bezogen werden. Die in romantischen Sinfonien über die Teilsätze hinweg ausgelegten musikalischen Gedanken, deren Verarbeitung und Aufgehen in einer Schlusswirkung bei gleichzeitiger Spannungssteigerung zum Ende hin passen nicht selten zu den erläuterten Konzepten der Dramentheorie.

Eine andere, bisher noch nicht musikwissenschaftlich untersuchte Analogie aus der Dramentheorie, die produktiv auf die musikalische Komposition angewendet werden kann, ist das »retardierende Moment«.131 Es ist ein musikalischer Abschnitt, der vom Innehalten, vom Anhalten der zuvor in Gang gesetzten Prozesse vor dem letzten, auf Schlusswirkung abzielenden Abschnitt eines Werkes geprägt ist. Das retardierende Moment liefert eine bisher unberücksichtigte Sicht auf Geschehen und Konflikte.

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