Kitabı oku: «Gefangen im Gezeitenstrom»

Yazı tipi:


Robert Stephan Bolli, 1959 in Schaffhausen (Ostschweiz) geboren und aufgewachsen.

Schulen und Ausbildung zum Landschaftsgärtner in Schaffhausen. 1991 Wechsel zu den Schweizerischen Bundesbahnen in den Bereichen Fahrbahn und Sicherheitsdienst.

Seit 2000 ist der Autor bei der Eidgenössischen Zollverwaltung in den Bereichen Handelswarenverkehr und Schwerverkehrsabgabe (LSVA) tätig.

Der Autor lebt mit seiner Familie in Schaffhausen.

Robert S. Bolli

GEFANGEN IM

GEZEITENSTROM

Roman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Nachwort

Buchempfehlung

1

Ein bitterkalter Wind fegt durch die nackten Baumgerippe des Waldfriedhofs und treibt ein paar wenige einsame Schneeflocken vor sich her. Die grauen Steine wirken noch düsterer, die kahlen Gräber noch trostloser als während der Vegetationszeit. Da gibt es keine weiße und schützende Schneedecke. Eher ein fadenscheiniges Leichentuch bedeckt die sonst schmucklosen Grabreihen und der braune Boden wirkt wie im Permafrost erstarrt.

Ein bescheidener Trauerzug bewegt sich langsam durch den Wald, begleitet vom tristen Klang der Glocke über der Friedhofskapelle. Beinahe verliert das Geläut den Kampf gegen das Heulen des Windes. Der Pfarrer, der dem Zug vorausgeht, steuert zielstrebig ein frisch ausgehobenes Grab an, dessen seitlich deponierte dunkelbraune Erdhügel im sonst geometrisch genau ausgerichteten Gräberfeld wie Fremdkörper scheinen. Der Geistliche begibt sich an das Fußende der Grube und lässt die Trauergesellschaft herantreten. Die Grube ist mit Holzbohlen abgesichert. Darüber befindet sich ein Metallgestell mit einem schlichten Sarg aus lackiertem Kiefernholz darauf. Einen zu Sarkasmus neigenden Betrachter hätte dessen Erscheinung wohl an ein Möbelstück jenes schwedischen Einrichtungshauses für nordisches Wohnen erinnert. Ein einziger Kranz, vorwiegend aus Blautannenreisig gebunden, und ein paar einfache Blumengestecke lassen erahnen, dass hier keine Prominenz beigesetzt wird. Noch erinnert kein Grabstein, kein Holzkreuz an den Verstorbenen.

Der Pfarrer wartet, bis sich alle Trauernden im Halbkreis um das Grab geschart haben. Mit versteinerten Mienen blicken die Anwesenden auf den hellbraunen, mit einem aus roten Rosen bestehenden Arrangement geschmückten Sarg oder lassen, vielleicht als Folge ihrer Betroffenheit, ihre Köpfe hängen und starren auf die Spitzen ihrer Schuhe, mit denen sie gelegentlich im Rundkies des Gehwegs herumscharren. Die Trauergemeinde besteht ausschließlich aus Personen mit älterem Jahrgang. Alle tragen Schwarz. Die Herren vergraben ihre Hände tief in ihren Manteltaschen, diejenigen der Damen stecken in edlen Lederhandschuhen. Der Pfarrer beginnt mit einem Gebet. Anschließend drückt er einen am Metallgestänge angebrachten Knopf, der den Mechanismus zum Absenken des Sarges auslöst. Während dieser lautlos in der Grube verschwindet, spricht der Geistliche ein paar einfühlsame Worte des Trostes. Eine Frau, deren Gesicht hinter einem schwarzen Schleier verborgen ist, schluchzt auf. Ihr Begleiter legt seinen Arm um ihre Taille, zieht die Frau enger an sich heran, sodass sie ihren Kopf an seine Brust schmiegen kann. Der Pfarrer spricht einen Segen und die Anwesenden treten heran und streuen mit einer kleinen Handschaufel bereitliegendes Erdreich auf den makellosen Sargdeckel. Dazu singt der Wind, der durch die kahlen Äste weht, sein Klagelied.

Unweit, ganz im Hintergrund, kaum wahrnehmbar zwischen den Bäumen stehend, beobachte ich die Zeremonie. Ich stecke in meiner dicken, fellgefütterten Pilotenjacke aus braunem Büffelleder und mit den Füßen in einem Paar jener braunen, halbhohen Lederstiefel, wie sie oftmals von Bauarbeitern getragen werden. Die gelbe Banderole um den Stiefelschaft herum mit der schwarzen Aufschrift CATERPILLAR ist jedenfalls deutlich zu sehen. Die Klamotten habe ich mir mit meinem ersten Lehrlingsgehalt an der Baumaschinenmesse in Basel beziehungsweise im Armyshop erworben und ich war mächtig stolz darauf.

Ich friere erbärmlich, trotz der dicken Jacke, und ziehe den Pelzkragen etwas höher. Anschließend vergrabe ich die Hände wieder in den Armstulpen. Eine Kopfbedeckung trage ich nicht. Ich habe sie einfach vergessen oder vielmehr – zu Hause habe ich nicht mit solch kalten Böen gerechnet. Nun aber lässt die kräftige Bise meine dunklen Haare in wirren Strähnen herumflattern.

Als ich zusehen muss, wie die Kiste im Erdloch verschwindet, verkrampft sich augenblicklich mein Herz und meine in der Jacke verborgenen Hände ballen sich zu Fäusten. Ich lehne mich mit dem Rücken an den dicken Stamm einer Buche. Sonst wäre ich in meinem Schmerz vielleicht zusammengebrochen. Ich schließe die Augen und ziehe die kalte Luft tief in die Lunge. Wie Rasierklingen schneidet die Kälte in mein Fleisch. Mein warmer Atem bildet vor dem Mund dicke weiße Wolken, die vom Wind sogleich wieder fortgetragen werden, genauso wie die Hoffnungen zerstreut werden, dass alles wieder gut wird.

Vielleicht ist es auch die scharfe Bise, die meine gereizten Augen zum Tränen bringt. Aber wenn ich – im Nachhinein – ehrlich bin, so muss ich zugeben, dass sich in den Winkeln meiner geschlossenen Augen schwere, bittere Tränen der Trauer sammeln, die nun auf meinen Wangen silberne Rinnsale bilden. Ich wische sie mit den Händen weg, die ich wiederum an den Hosenbeinen trockne. Ich schlage die Augen auf und blicke zum Grab, das nun von der Trauerfamilie verlassen daliegt. Dann verlasse auch ich die Deckung hinter den Bäumen. Ich trete vorsichtig heran und werfe einen Blick auf die Kiste. Die roten Rosen sind nach wie vor unversehrt, aber schon bald werden die Gärtner kommen, das Gestell demontieren, die Grube mit dem lehmigen Erdreich füllen, das für diese Gegend typisch ist, und darüber mit feinerem, humosem Material einen kleinen Hügel formen. Danach ist für sie die Aufgabe vorerst einmal erledigt. Ein Menschenleben ist zu Ende. Die letzten Überreste beseitigt. Game over!

Mit zögernden Schritten verlasse ich die Grabstätte. Kies knirscht unter meinen Füßen, während ich darüber nachdenke, was es braucht, um einen Menschen auszulöschen. Ich meine, nicht einfach einen Mund zum Schweigen, ein Herz zum Stillstand zu bringen, etwas Lebendiges zu töten – nein, ich meine, alles zu vernichten, was irgendwie an die Existenz eines Menschen, an ein Dasein auf Erden erinnert. Ein kalter Schauer läuft über meinen Rücken. Es muss trostlos sein, wenn man so gehen muss. Wenn man nicht die geringste Spur hinterlässt. Und doch, ist es nicht die Mehrheit aller Menschen, die dieses Schicksal miteinander teilt? Stirbt nicht gerade in diesem Moment irgendwo ein Obdachloser, der nichts anderes hinterlässt als eine versiffte Wolldecke und eine leere Schnapsflasche? Was bleibt mehr übrig, wenn ein Kind einen sinnlosen Hungertod stirbt, als bedrückende Erinnerungen an ein Schicksal, das niemals Glück erfahren durfte? Gibt es denn einen sinnvollen Tod? Oder sollte ich vielleicht die Frage anders stellen: Gibt es auch sinnloses Leben? Worin liegt der Sinn, wenn letztendlich alles Lebendige wieder zu Staub zerfällt? Existiert in uns wirklich etwas, das für die Ewigkeit bestimmt ist, etwas, das wir Seele nennen? Wenn ja, kann diese Seele wachsen und sich weiterentwickeln, indem sie einen sterbenden Körper verlässt und sich in einem neugeborenen einnistet? Wenn ja, wozu dieser Aufwand? Kann es sein, dass eine Seele Macht auf ihren Träger ausübt und ihn so beeinflusst, dass daraus ein sogenannter Gutmensch oder eben ein Kotzbrocken wird? Ich denke – und ein Blick in die TV-Nachrichten genügt mir als Bestätigung –, wenn es wirklich so wäre, dann hat die Menschheit einen gigantischen Nachholbedarf. Nach wie vor fällt es mir schwer, an einen Siegeszug des Guten über das Böse zu glauben. Auch glaube ich weder an Götter noch an Reinkarnation, Seelenwanderungen und dergleichen. Das sind doch alles utopische Fantasien, Wunschvorstellungen von einem immerwährenden Paradies, von Philosophen und anderen weltfremden und lebensuntauglichen Spinnern erdacht, ihr eigenes Weltbild einer breiteren Masse zugänglich zu machen. Gerade in Glaubensfragen klaffen zwischen Wunsch und Wirklichkeit riesige Lücken. Ich finde sowieso, dass die Leute weniger beten, dafür mehr Eigenverantwortung übernehmen sollten. Aber Menschen sind eben Menschen, weil sie neugierig sind und Fragen stellen. Auch solche, die man nie gänzlich beantworten können wird. Zum Beispiel Fragen zu unserer Herkunft oder zu unserem Schicksal in ferner Zukunft. Im Extremfall gründen sie Religionen, erklären alles Unerklärbare mit Gott und schon sind sie zufriedengestellt. Dann haben sie jemanden, dem sie danken können, wenn es ihnen gut geht, oder es ist einer da, den sie für alles Negative zur Verantwortung ziehen können. Wie dem auch sei, für mich macht es keinen Unterschied. Der finale Showdown fällt für alle gleich aus. Mit nur einer kleinen Nuance: Die Asche des krepierten Obdachlosen wird dem anonymen Gemeinschaftsgrab beigegeben, der Soldat, der in einem schwarzen Plastiksack aus Afghanistan zurückkehrt, bekommt ein Einzelgrab mit Stein und Inschrift.

Gewiss, Opferbereitschaft und Heldentum ebnen den Weg für einen Eintrag in die Geschichtsbücher. Was aber geschieht mit der großen Masse derer, die zeitlebens nie eine Auszeichnung, eine Medaille erhalten haben? Zum Beispiel jene Menschen also, die mehr oder weniger zufällig da sind, weil zwei sich gepaart und dabei, unter Ausschluss der üblichen Ambitionen für Karriere und Familienplanung, ein Kind gezeugt haben. Zugegeben, auch ich gehöre der Sparte Zufallsprodukte an. Kollateralschaden im Blitzkrieg zweier Zufallsbekanntschaften. Mit sieben Jahren habe ich meine Mutter gefragt, warum sie nie Geschwister für mich haben wollte. Sie antwortete: „Weil ich nicht mehr konnte.“ Ich ahnte schon damals, dass sie gelogen hat. Denn sie hätte sehr wohl noch gekonnt. Aber sie wollte nicht mehr. Die Last einer weiteren Mutterschaft wollte sie sich nicht noch einmal aufbürden. Niemals wieder die Strapazen einer Geburt, und schon gar nicht, wenn diesem Ereignis ein Akt vorausginge, der, ohne die eigene Fantasie übermäßig beanspruchen zu müssen, irgendwo zwischen Pflichterfüllung und Vergewaltigung einzuordnen wäre. Aber auch nie mehr die Erfahrung dieses geheimnisvollen Glücksgefühls, das mit jedem vollbrachten Schöpfungsakt einhergeht.

Ich versuche mir einzureden, dass alles Werden und Vergehen seine Richtigkeit hat. Dass alles irgendwie vorbestimmt ist und sich alles letztlich zum Guten wenden wird. Dann wieder überlege ich mir, ob ich gelegentlich meinen so sehr gehassten Erzeuger aufsuchen und ihm eine Bleispritze ins Hirn verpassen soll. Für all das, was er meiner Mutter und letztlich auch mir angetan hat in der kurzen Zeitspanne, in der sie zusammen waren, jenem Lebensabschnitt also, dem ein lauer Windhauch dessen voranging, das sie einst Liebe nannten, und in dem er ihre Hoffnungen auf ein bisschen Glück im Leben wie Kakerlaken auf der Straße zertreten hat.

Im Geäst einer riesigen Steineiche zankt sich eine Schar Krähen um Beute. Vielleicht hat einer der Vögel eine Maus erwischt, die sich zu leichtsinnig aus ihrem Erdloch hervorgewagt hat. Intuitiv beschleunige ich meinen Schritt und strebe dem Ausgang zu …

2

Draußen regnet es in Strömen – schon seit Tagen. Es ist Mitte Dezember. Ein kalter Wind fegt durch die verwaisten Straßen. Durch das Fenster sehe ich die kahlen Baumkronen sich in den Böen wiegen. Nasses dunkelbraunes Laub klebt auf den Gehsteigen. Die wenigen Menschen, die über die Straße eilen, ziehen die Kragen hoch und die Kapuzen noch weiter ins Gesicht. Sie schimpfen lauthals über dieses miserable Sauwetter. Warum auch nicht. Dazu ist das Wetter schließlich da. Sie tun es auch dann, wenn sie sich gar nicht kennen. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Schicksalsschläge formen aus Gegnern Verbündete. Keinerlei Floskeln suggerieren derart Mitgefühl, Anteilnahme, ja, in gewisser Weise sogar Geborgenheit und Wärme wie das gemeinsame Beschimpfen einer misslichen Situation.

Der Wind pfeift um die Ohren und bläst den Regen direkt ins Gesicht. Es ist kalt. Aber immer noch zu wenig kalt, um den Niederschlag in Schnee zu verwandeln. Das wäre schön: Ein makelloses Weiß, das den Schmutz, den grauen und den braunen Dreck, die Trostlosigkeit und die Tristesse des Alltags einfach zugedeckt hätte. Wenigstens für eine kurze Zeit wäre der ganze unansehnliche Müll, der Morast verschluckt worden. Verschwunden. Aus den Augen, aus dem Sinn. Einfach endloses Weiß, das unter einem stahlblauen Himmel glitzert, lediglich durchbrochen von den in bunten Winterklamotten spielenden und vor praller Lebensfreude jauchzenden Kindern.

Nun hat sich das Leben zurückgezogen. Ist in Deckung gegangen. In die Behausungen, in die Höhlen, in die Nischen. Früher scharten sich die Menschen bei Kälte um ein Feuer, versammelten sich in einem beheizten Raum. Vielleicht in der Küche, vielleicht in der Stube. Eigentlich recht gemütlich, wenn ich mir das so vorstelle.

Heute versammeln sie sich in den riesigen Einkaufszentren. In den Läden und Restaurants rund um die Mall wuselt es nur so von Leben. Besonders in der Vorweihnachtszeit. Da trifft man sie alle wieder, in Eintracht, beim Befriedigen ihrer Süchte. Und alle geben sich die größte Mühe, sich im Stress nichts anmerken zu lassen. Ihre eigene Unzufriedenheit, ihre eigentliche Abscheu, ja, ihre angestaute Frustration über ihr Versagen, dem wirtschaftlichen Diktat wieder nichts entgegengesetzt zu haben. Alle mimen gute Laune, grinsen sich affig an und geben heuchlerische Phrasen von sich, obwohl jeder seinem Gegenüber am liebsten die Faust in die blöde Fresse schlagen möchte. Und jeder denkt, es im nächsten Jahr ganz sicher besser zu machen. Aber was heißt das schon. Was soll denn noch besser werden? Noch mehr Umsatz, noch mehr Gewinn, noch mehr Konsumrausch?

Ich denke es immer wieder: Die Menschen sind schon seltsam. Geht es ihnen schlecht, geben sie sich alle solidarisch und stehen einander bei. Geht es ihnen nur schon ein bisschen besser, vergessen sie alle ihre guten Vorsätze, kippen ihr soziales Gewissen über Bord und mutieren zu egoistischen Wesen. Manchmal denke ich, dass eine Katastrophe in dieser Hinsicht auch eine positive Seite hätte. Ich meine natürlich nicht diese 08/15-Katastrophen, wie sie jährlich wiederkehren. Die, die man spätestens nach einem Jahr wieder vergessen hat. Erdbeben im Iran: 50.000 Tote. Tsunami in Japan: 30.000 Tote oder so ähnlich. Mal ehrlich: Wen juckt das hierzulande schon? Ich meine, es müsste schon etwas Handfestes sein. Etwas, das nicht nur ein Land erschüttert, sondern den ganzen Globus zum Taumeln bringt. Also etwas in der Art von „Deep Impact“ oder „Armageddon“. Ein Kometeneinschlag zum Beispiel, das wäre der Hammer. Dann könnten die Überlebenden, mit dem Wissen von heute, nochmals von vorne beginnen. Ohne den ganzen Zivilisationsmüll, der im Grunde niemandem etwas bringt. Ein Alltag, der sich gänzlich auf das Dasein beschränkt. Ein Alltag ohne Reizüberflutung, ohne den gigantischen Informationsmüll, ohne Konsumterror und ohne Vergnügungssucht. Ausgerüstet nur mit etwas Saatgut und Gartenwerkzeug. Einfach eine Erdscholle fruchtbar machen, Feldfrüchte anbauen und neue, einfache Siedlungen gründen, in denen zufriedene Menschen leben würden. Menschen, die mit sich zufrieden sind und mit ihrer Umwelt in Einklang leben.

Und wenn alles Leben ausgelöscht würde? Das wäre auch okay. So lange die Erde sich dreht und die Sonne scheint, kann sich immer wieder neues Leben entwickeln. Auch solches ohne Menschen. Wenn ich Schöpfer wäre, würde ich mir das sowieso nochmals gründlich überlegen – das mit den Menschen. Eine solche Radikalkur wäre schon megakrass. Aber sie hätte drei unbestreitbare Vorzüge: Erstens gäbe es über ein solches Ereignis nicht die geringste Zeitungsmeldung. Zweitens: Man bräuchte nirgends ein Careteam einzusetzen. Und drittens (das Wichtigste): Es gäbe niemanden, der Profit daraus schlagen könnte. Wir alle wären Verlierer. Das ist doch sehr tröstlich. Oder sollte ich vielleicht sagen, dass wir alle Gewinner wären? Jeder wäre der Erste beim großen Showdown, und wie es danach weitergeht, weiß sowieso niemand mit Bestimmtheit. Ich meine, wenn der Mensch so etwas wie eine Seele besäße, was würde mit dieser nach seinem Ableben geschehen, wenn es nirgends mehr eine Heimat gäbe, wo sie Zuflucht und Ruhe finden könnte? Und was wäre, wenn sich am Ende alles nur als ein gigantischer Irrtum herausstellen würde? Letztlich sind wir doch alle aus Sternenstaub entstanden und werden einst in ferner Zukunft in diesen Zustand zurückkehren, ganz unabhängig davon, wie wir unser Dasein auf Erden verbracht haben. Ist damit etwa der göttliche Plan des Ewigen Lebens gemeint?

Also, mal ganz ehrlich: Ich wäre sofort für Plan B – die radikale Variante. Jedoch wie so oft wird auch das von ganz anderer Stelle entschieden. Aber wie gesagt: Es wäre hammermäßig stark und ich wäre erfüllt von tiefster Genugtuung!

Nun jedoch sitze ich am Schreibtisch in meinem Zimmer, starre durch das Fenster, an das unablässig schwere Regentropfen klatschen, und ich lasse in meinen Gedanken die Geschichte nochmals Revue passieren, die ich zu Papier bringen möchte, und betrachte dabei die nackten Baumwipfel, die mal mehr, mal weniger heftig im Wind schaukeln. Ich möchte die Geschichte so detailgetreu wie möglich niederschreiben, sofern dies meine Erinnerungen zulassen. Denn ich weiß, dass ich der Einzige bin, der die ganze Wahrheit kennt, die sich dahinter verbirgt. Nur ich weiß, wie sich damals die Ereignisse wirklich abgespielt haben.

Ich heiße Oliver. Oliver Ambühl. Ich bin siebzehn Jahre alt. Im kommenden Sommer werde ich das dritte und letzte Jahr meiner Ausbildung zum Maurer in Angriff nehmen. Der Job ist ganz in Ordnung. Okay, manchmal ist es schon Knochenarbeit, aber ich hatte Glück und bin in einer guten Bude untergekommen. Ein richtiger Familienbetrieb, in dem noch der Patron das Sagen hat. Das Domizil befindet sich in der Gewerbezone am östlichen Stadtrand. Im Großen und Ganzen befriedigt mich die Arbeit, denn ich kann abends sehen, was ich tagsüber geleistet habe. Ich arbeite gerne draußen. In einem Büro würde ich auf die Dauer verkümmern. Die Mannschaft ist auch ganz okay, und auf dem Bau bin ich sowieso selten der einzige Azubi. Da ist zum Beispiel mein Unterstift. Er heißt Noah Stemmler. Wieso Noah? Das weiß nicht einmal er selbst. Vielleicht wollen seine Alten, dass er einmal eine Arche baut. Aber dann hätte er besser den Zimmermannsberuf erlernen sollen. Egal, er ist ein prima Kerl, auch wenn er das Arbeiten nicht gerade erfunden hat. Aber er kann zupacken, wenn man ihn darauf aufmerksam macht. Tja, ich kenne das. Man hat es nicht leicht, so nach neun Schuljahren zum ersten Mal „im Stollen“. Ich meine, so richtig, mit schwerem Gerät, und das bei Wind und Wetter.

Was ich nach der Grundausbildung mache, weiß ich noch nicht so genau. Zuerst einmal einfach abhauen. Einfach weg von hier. Fort aus diesem Zirkus, der sich Familie nennt.

Mein Zimmer ist nicht besonders groß. Etwa vier auf drei Meter. Eine bessere Besenkammer. Aber es gehört mir. Ein Bett, ein Schrank, der Schreibtisch, an dem ich jetzt sitze, und ein Regal mit ein paar auserwählten Büchern, denn ich lese oft und sehr gerne, anstatt meine Zeit vor der Glotze zu verschwenden. Seit meiner Kindheit lese ich Bücher. Zuerst waren es Abenteuergeschichten – Indianer, Cowboys, Piraten und so. Dann kamen Archäologie und Astronomie dazu. Später auch Philosophisches und gelegentlich Romane. Beim Lesen konnte ich wenigstens temporär wegtauchen. Ich bereiste fremde Länder, entdeckte ferne Welten, die mir sonst für immer und ewig verborgen geblieben wären.

Dafür wurde ich in der Schule als Langweiler gehandelt. Oft schnappte ich mir etwas aus der Stadtbücherei und zog mich in eine ruhige Ecke zurück – meistens in mein Zimmer, während die Kids draußen spielten. Von niemandem wurde ich vermisst. Die Bücher offenbarten mir eine Welt voller Wunder und Magie. Damit war mein Dasein als Außenseiter genügend entschädigt.

Einen Computer gibt es bei uns keinen. Unsereiner kann sich so was nicht leisten und meine Alten, besonders Opa, halten die Anschaffung zivilisatorischer Errungenschaften, wie zum Beispiel Unterhaltungselektronik, die etwas mehr bietet als analoges TV, für so ziemlich das Sinnloseste, was der Mensch braucht. Alles, was über das Festnetztelefon (am besten noch mit Wählscheibe) hinausgeht, ist für ihn völlig überflüssig und hochgradig dekadent. Mir soll’s recht sein. Brauchten wir für die Schulaufgaben einen Rechner mit Internetzugang, half mir mein gleichaltriger Schulfreund Charly und wir benutzten gemeinsam die Kiste seines Vaters. Im Übrigen bin ich seit Neuestem stolzer Besitzer eines Smartphones – wow! Na ja, auch unsereiner, der der „Working Class“ angehört, will gelegentlich mit der Zeit gehen.

An den Wänden habe ich Poster einiger Rockbands, zum Beispiel Avenged Sevenfold, Wolfmother oder von den Foo Fighters, denn ich stehe auf alle Arten von Rock bis Metal. Mehr geht nicht rein in mein Zimmer.

Im Regal bewahre ich unter anderem zwei menschliche Totenschädel auf. Wunderschöne, vollständig erhaltene Objekte, die ich vor ein paar Jahren meinem ehemaligen Schulfreund Nik abgeschnorrt habe, dessen Vater bei der Friedhofsverwaltung angestellt ist. Nik hat mir den Tipp gegeben, dass sie ein altes Gräberfeld aufheben würden. Aber man wisse nie im Voraus, was dabei herauskommt. So war es eine kleine Sensation, als die Arbeiter einige sehr gut erhaltene Skelette freilegten. Niks Vater hat gesagt, die Leute seien mit etwa siebzig Jahren gestorben und beigesetzt worden. Darum sind Schädel mit allen Zähnen drin äußerst selten. Ich wusste sofort, dass ich mindestens einen dieser Köpfe haben musste. Das war so eine fixe Idee von mir. Ich war völlig überrumpelt, als Nik gleich zwei dieser Dinger, schon fein sauber gereinigt, in einer Kartonschachtel verpackt in die Schule brachte. Dafür gab ich ihm eine von Opas Eisenbahnermützen und eine grün-weiße Abfertigungskelle. Ich war hin und weg. Der Schultag war gelaufen. Ich konnte mich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Gleich nach der Glocke stürmte ich nach Hause und drapierte die Schädel zuerst auf einem Silbertablett aus Mamas Hausrat auf meinem Nachttischchen. Ihren gellenden Schrei, als sie zum ersten Mal in die beiden Augenhöhlenpaare blickte, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Sie hat mir angedroht, nie wieder mein Bett zu machen, wenn ich dieses Horrorkabinett nicht sofort verschwinden lassen würde. Ich habe ihr dann in bestmöglicher Coolness gesagt: „Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir bleiben – alle drei – oder wir gehen zusammen – alle drei!“

Wir einigten uns auf die Unterbringung der Schädel im Regal. Dann müsse sie sich beim Bettenmachen wenigstens nicht so anstarren lassen. Das Silbertablett wollte sie nie mehr zurückhaben. Okay, ich habe meiner Mama noch versprechen müssen, dass ich damit keinen Okkultismus betreibe, und sie sagte mir, dass Skelette oder Teile davon kein Spielzeug seien. Man müsse auch Toten gegenüber jenen Respekt zeigen, den sie zu Lebzeiten schon verdient hätten.

„Alles klar, Mama“, habe ich gesagt. „Ich hatte auch nie vor, mit den beiden zu spielen!“

Seit diesem Tag genießen die beiden Schädel – sie heißen nun Fred und Barney (wie die Hauptfiguren aus der „Familie Feuerstein“) – bei mir im Regal ihre vorletzte Ruhe. Nik hatte mir noch gesagt, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach, aufgrund der ebenfalls entfernten Grabinschriften, um männliche Exponate handeln würde, aber so genau wisse er es nicht mehr, da sie sich schlecht voneinander unterscheiden lassen. Gelegentlich nehme ich sie hervor, entferne den Staub, poliere ihre Schädeldecken auf Hochglanz und bestaune immer wieder ihre wunderbare naturgegebene Struktur. Ich nehme an, dass ich damit genügend Respekt zeige.

Es ist nicht so, dass ich persönlich Todessehnsüchte hege. Aber ich liebe das Morbide, das Vergängliche. Alles Leben entsteht aus Dreck und Schlamm. Aus steriler Reinheit kann nichts Schlaues entstehen. Es ist doch so, dass gerade menschliches Leben sich aus Schleim entwickelt, und wenn wir sterben, verbreiten wir einen so gotterbärmlichen Gestank, dass sogar die meisten Tiere einen großen Bogen um uns herum schlagen würden, wenn es nicht die Arbeit der Totengräber gäbe.

Aber wie gesagt: Alles, was mich an die Endlichkeit des Lebens und letztlich an meine eigene Vergänglichkeit, ja meine eigene Unvollkommenheit erinnert, übt auf mich eine geradezu magische Faszination aus, der ich mich kaum entziehen kann. Und ich liebe diese Dinge, weil sie einen wunderbaren Kontrast zu unserer allgegenwärtigen, zur Perfektion neigenden Glanz-und-Gloria-Gesellschaft setzen.

In unserer Stadt, gleich hinter dem Bahnhof, gibt es ein Tattoostudio. Als Schulkind war mir der Laden nie geheuer. Opa hat mir erklärt, dass dort nur Seefahrer, Kriminelle und Huren verkehren. Ich habe mich oft gefragt, warum Opa die Seefahrer und Kriminellen in den gleichen Topf wirft. Sind denn alle Seefahrer gemeingefährlich? Oder anders gefragt: Was haben sie gemeinsam? Ich brauchte einige Jahre der Reifung, bis ich zur Erkenntnis gelangt bin, dass es die unterschiedlichen Lebensphilosophien der Menschen sind, die im Bewusstsein ihrer eigenen Individualität einen Lebensweg einschlagen, der sich so sehr vom breit getrampelten Pfad der Masse abhebt und letztlich mit der Flucht aus dem ausgeleierten Tretrad der Banalitäten endet.

Nur mit Charly zusammen brachte ich den Mut auf, jeweils nach Schulschluss dieses sonderbare Lokal aufzusuchen. Wir drückten meist vergebens unsere Nasen an den abgedunkelten Schaufenstern platt. Wenn dann gelegentlich die Tür offen stand – und der Tattoomeister uns einmal nicht mit Schimpf und Schande eingedeckt in die Flucht trieb –, erhaschten wir einen kurzen Blick ins Innere des Studios und waren zunächst einmal erstaunt darüber, keinen Vorhof zur Hölle vorgefunden zu haben. Klar, als zartes Jüngelchen ohne jegliche Lebenserfahrung reagierte ich mit gemischten Gefühlen, zwischen kindlicher Neugierde, Ekel und Faszination hin- und hergerissen. Das Gruselkabinett umfasst auch heute noch alles, von Totenschädel (menschlichen und tierischen Ursprungs) über weiteres Anschauungsmaterial, Fachliteratur, Zeichnungen, Fotos sowie – besonders beeindruckend – diverse Airbrush-Darstellungen von HR Gigers Biomechanoiden, die die Wände des Studios zieren.

Das waren die ersten Kontakte mit den Schöpfungen dieses eigenwilligen Künstlers. Natürlich kannte ich „Alien“, obwohl mir meine Mutter untersagte, diesen Film anzuschauen. Ich sei noch zu jung, begründete sie. Okay, damals war ich zwölf. Aber wie bereits erwähnt, halfen mir Charly und sein Computer weiter. Damit war meine Neugierde kaum mehr zu bändigen. Schnell konnten mich die Bilder aus dem Internet nicht mehr befriedigen, weshalb ich mich entschloss, mein Glück in der Stadtbücherei zu suchen, und prompt auch fündig wurde. Von einem schweren Bildband mit großformatigen Fotos fühlte ich mich besonders angesprochen. Sehr zum Erstaunen der Büchereileiterin musste ich das Werk sicher ein halbes Dutzend Mal ausleihen, bis ich es durchgearbeitet hatte. Aber so konnte ich wenigstens die horrenden Kosten für die Neubeschaffung eines solchen Buches umgehen.

Gigers Bilder habe ich sprichwörtlich in mich hineingefressen. Seine gynäkologischen Landschaften versetzten mich in fremde extraterrestrische Welten, besser als es jeder Science-Fiction-Film geschafft hätte. Besonders angetan war ich von seinen albtraumhaften larvalen Kreaturen, die mich in meiner Kindheit tatsächlich gelegentlich in meinen Träumen – und ich hatte damals öfters höchst bizarre Träume – heimsuchten.

Erst viel später begann ich den Sinn und die Botschaft dieser Darstellungen zu verstehen. So entdeckte ich zum Beispiel in unserem Garten eine potthässliche Raupe, die sich über Opas Salatköpfe hermachte. Anstatt sie zu vernichten, bewahrte ich sie, zusammen mit etwas Grünzeug, in einem leeren Einmachglas auf und präsentierte sie Charly, wo wir uns ausgiebig über Sinn und Zweck von Metamorphosen unterhielten.

„Stell dir einmal vor“, begann ich zu philosophieren, „wenn sich dieses hässliche Ding einmal verpuppt und daraus ein wunderschöner Schmetterling entsteht – welch wundervolles Geschöpf müsste dann erst aus dem Menschen hervorgehen, wenn dereinst sein Körper, diese unvollkommene, nackte und anfällige Larve, stirbt und zu Staub zerfällt?“