Kitabı oku: «Amakusa Shiro - Gottes Samurai»
Roland Habersetzer
Amakusa Shirō – Gottes Samurai
Der Aufstand von Shimabara
Historischer Roman
Aus dem Französischen von Frank Elstner
Palisander
Der Verlag dankt Dr. Janett Kühnert, Norbert Wölfel, Dr. Sven Hensel und Jens Regner (Chemnitz) sowie Sascha Germer (Berlin) für die fachliche Unterstützung bei der Redaktion.
Deutsche Erstausgabe
1. Auflage November 2013
Titel der Originalausgabe: Amakusa Shiro, samouraï de Dieu
© 2012 by Edition Amalthée
Deutsch von Frank Elstner
© 2013 by Palisander Verlag, Chemnitz
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Schutzumschlaggestaltung: Claudia Lieb, München
Einbandgestaltung: Claudia Lieb, München
Lektorat: Palisander Verlag
Redaktion & Layout: Palisander Verlag
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
ISBN 9783938305713
Der Autor
Roland Habersetzer, Jahrgang 1942, ist seit 1957 Praktizierender der Kampfkünste. Bereits 1961 erhielt er den 1. Dan und wurde so zu einem der ersten französischen »Schwarzgurte« im Karate. Zu recht wird er sowohl als Spezialist der japanischen Kampfkünste (Budō) als auch der chinesischen (Wushu) angesehen. Nachdem er verschiedene Graduierungen in Frankreich, Japan und China erhalten hatte, wurde Roland Habersetzer im April 2006 in Japan durch O-Sensei Tsuneyoshi Ogura (Schüler von Yamaguchi Gōgen und Gima Makoto) der 9. Dan, Hanshi, sowie der Titel eines Sōke (Meister-Gründer) für seinen eigenen Kampfkunststil »Tengu no michi« (Tengu ryū Karatedō, Kobudō, Hōjutsu) verliehen. Damit wurden seine außerordentlichen Bemühungen bei der Verbreitung der Kampfkünste und die hohe Effektivität seines Wirkens gewürdigt. Nicht zuletzt stellt dies auch die Legitimierung seines eigenen Konzepts der Praxis der Kampfkünste dar, des »Weges des Tengu« (»Tengu no michi«).
Im Jahre 1968 erschien Roland Habersetzers erstes populärwissenschaftliches Buch über die Kampfkünste. Heute besteht sein Werk aus nahezu 80 Büchern, was ihn zum Autor der weltweit bedeutendsten Buchreihe auf diesem Gebiet werden lässt. Seine Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt worden sind, gelten in allen frankophonen Ländern als historisches, technisches und pädagogisches Standardwerk. Auch in vielen anderen Ländern besitzen sie hohes Ansehen.
Sein erster Roman, »Li, le Mandchou«, erschien im Jahre 1976 bei Trévise, in der Folge veröffentlichte er drei weitere Romane mit kampfkunstbezogener Handlung im renommierten französischen Verlag Pygmalion. Ein Band mit Erzählungen über berühmte Samurai und Rōnin wurden 1988 im Verlag Amphora publiziert. Er erschien 2008 in deutscher Übersetzung im Palisander Verlag.
Roland Habersetzer
Centre de Recherche Budo – Institut Tengu
(CRB-IT)
7b, rue du Looch
67530 Saint-Nabor (Frankreich)
Deutsche CRB-Website:
Es hat mir stets gefallen, eine Arbeit zu Ende zu bringen …
Ich habe immer daran geglaubt, dass Versprechen gehalten werden müssen …
Vor langer Zeit habe ich versprochen, dass ich eines Tages all den vergessenen Namen eines der stürmischsten Ereignisse, die das Land der aufgehenden Sonne erlebt hat, neues Leben verleihen würde …
Bewunderung und jugendliche Begeisterung haben mich dieses Versprechen geben lassen …
Das Leben hat mir endlich die Möglichkeit gewährt, es zu erfüllen.
Roland Habersetzer
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Der Autor
Zitat
Vorbemerkung
Zur Geschichte
Teil I – Der Gesandte des Himmels
Teil II – Die Märtyrer
Zurück zur Geschichte
Ein gehaltenes Versprechen
Anhang
Illustrationen
Einige historische Daten zum Aufstand
Die wichtigsten historischen Persönlichkeiten
Glossar
Quellen
Weitere Bücher
Fußnoten
Vorbemerkung
Bereits in meinem Buch »Die Krieger des alten Japan« ist eine Erzählung dem Shimabara-Aufstand gewidmet, jenem sechs Monate dauernden Bürgerkrieg, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts den Süden Japans verheerte. Ein Krieg, der das Potential hatte, das Shōgunat der Tokugawa ins Wanken zu bringen. Mit meinem Roman wollte ich mich den Personen, die darin verwickelt waren, noch weiter nähern, jenen Kriegern, Bauern und Priestern, die sich um ihren jungen charismatischen Anführer scharten, dem sie den Namen Amakusa Shirō verliehen hatten und in dem sie den Boten des Christengottes sahen. Von einigen dieser Helden sind uns die Namen noch heute bekannt, aber die meisten von ihnen bleiben für immer anonyme Akteure in einer menschlichen Tragödie seltenen Ausmaßes. Sie sollen auf den Seiten dieses Buches wieder auferstehen, mit ihrem Glauben, ihrer Kraft, ihren Schwächen, ihren Leidenschaften, ihren inneren Widersprüchen, den Versuchungen, denen sie ausgesetzt waren, ihren Siegen und Niederlagen in einem dramatischen Kampf gegen die Obrigkeit. Sie alle spielen ihre Rolle in diesem Roman, der die Ereignisse trotz gewisser literarischer Freiheiten genauso schildert, wie sie stattgefunden haben. All diese Männer und Frauen zeigten menschliche Größe in ihrem Willen, eine bessere Welt zu errichten, und sei es um den Preis des eigenen Lebens. Ihr Beispiel zeigt, welche Kraft einer Idee innewohnen kann, wenn sie die Menschen beseelt. Das mussten selbst viele der Samurai, Rōnin und Ninja anerkennen, die im Auftrag der Obrigkeit gegen sie kämpften.
Roland Habersetzer, Herbst 2012
Zur Geschichte
Am Ende des 16. Jahrhunderts erlebte Japan einen gewaltigen Kampf um die Herrschaft im Lande. Der junge Tokugawa Ieyasu war entschlossen, den Klan des 1598 verstorbenen Toyotomi Hideyoshi von der Macht zu verdrängen. In der Schlacht von Sekigahara im Jahre 1600 erlitt der Toyotomi-Klan eine vernichtende Niederlage. In der Folge leisteten die unterlegenen daimyō dem Sieger den Treueeid. 1603 ließ Tokugawa Ieyasu sich zum Shōgun ernennen. Dies erscheint als ein gerechter Lohn für seine geschickte Politik, durch die er das Land geeint hatte. Eine schier endlose Reihe von Bürgerkriegen hatte Japan zuvor nicht zur Ruhe kommen lassen. Unter der Herrschaft der Tokugawa begann eine lange Epoche politischer Stabilität. Erst die Meiji-Revolution 1868 beendete die Macht dieses Klans, als der neue Kaiser Mutsuhito die Entscheidung fällte, sein Land in ein modernes Zeitalter zu führen.
Aber 21 Jahre nach dem Tod Tokugawa Ieyasus kam es zu einem kurzen, doch blutigen Zwischenspiel. Einige Monate lang geriet im äußersten Süden des Landes, auf der Insel Kyūshū, die festgefügte Ordnung, die er im ganzen Land etabliert hatte, ins Wanken. Hier, weit entfernt von der Hauptstadt Edo, dem heutigen Tokio, brach ein Aufstand der Christen (kirishitan) aus, der genau genommen eine religionsübergreifende Revolte der gesamten Bauernschaft darstellte, die hier seit Jahrzehnten unbarmherzig unterdrückt und ausgebeutet worden war.
Von den Philippinen aus waren in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts missionierende Jesuiten nach Japan gelangt und hatten erfolgreich damit begonnen, ihren Glauben im Inselreich zu verbreiten. Kaum hatte der erste Tokugawa-Shōgun die Macht ergriffen, erließ er Edikte, die die verstärkte Verfolgung der Anhänger des fremden Glaubens forderten. Ieyasu befahl, die Kirchen zu zerstören, und er verlangte, dass die konvertierten Japaner entweder dazu gebracht würden, ihrem Glauben abzuschwören oder dass sie, wenn sie unbeugsam blieben, hingerichtet würden. Auf diese Weise sollte der Buddhismus, den er als bedroht ansah, zu seiner alten Stärke zurückfinden. Kyūshū, vor allem aber die Halbinsel Shimabara und die Amakusa-Inseln, wurden zum Schauplatz einer unbarmherzigen Christenverfolgung. Zwischen 1614 und 1635 starben nahezu 300 000 Christen, die sich weigerten, abzuschwören, darunter zahlreiche ausländische Jesuiten. Die Bewohner Kyūshūs stumpften allmählich ab unter dem ständigen Schrecken, mit dem sie leben mussten; nur so konnten sie die unaufhörlichen Gewalttaten der Gouverneure von Nagasaki ertragen, die sich geschworen hatten, die fremde Religion auszulöschen. Es durfte in Japan nur einen einzigen Gott geben, den Kaiser, den Tennō, der als Sohn des Himmels galt.
Zahlreiche Christen schworen unter dem Druck der Verfolgungen und den Schrecken der Folter ihrem Glauben ab. Andere zogen sich, seelisch und körperlich geschunden, in entlegene Winkel auf dem Lande zurück, um sich als Landarbeiter durchzuschlagen.
Doch die Steuern, die auf die Ernten erhoben wurden, waren dermaßen hoch, dass das, was den Bauern blieb, oft kaum zum Überleben reichte. Die örtlichen daimyō pressten buchstäblich das Allerletzte aus den armen Insulanern, um die hohen Ausgaben bestreiten zu können, die ihrem Rang entsprachen.
Aber unter diesen Bauern, deren Leben in den Augen der Machthaber nichts galt, verbargen sich zahlreiche Samurai, die ihre Einkünfte und ihre Privilegien als Berufskrieger verloren hatten, weil sie sich unter ihrem christlichen daimyō Konishi Yukinaga, dem einstigen Herrscher über diese Provinzen, zu dessen Glauben bekehrt hatten. Armut und Elend hatten sie bitter im Herzen werden lassen, aber dennoch hatte alles Unglück ihrer Moral nichts anhaben können. Immer noch war die Erinnerung an die Zeit des Ruhmes ihres Lehnsherrn in ihnen lebendig, jene Zeit, in der Disziplin und die Bewahrung der Tradition zu den wichtigsten Dingen in ihrem Leben zählten. Und so verharrten diese tapferen Männer lange Zeit in Stille, bis zu dem Tag, an dem offensichtlich wurde, dass ihnen tatsächlich keine andere Wahl mehr blieb, als zu kämpfen. Als sie dies begriffen, entschlossen sie sich, einen Aufstand zu initiieren. Und so erhob sich, völlig unerwartet für die Herrschenden, die gequälte Bauernschaft in einer gewaltigen Revolte.
Dies war der Aufstand von Shimabara (Shimabara-no-ran). An der Spitze der Erhebung standen fünf Rōnin, ehemals Samurai im Gefolge von Konishi Yukinaga. Ihre Namen lauteten Ashizuka Chūemon (Chidzuka Zenzaemon) – er war der Rangälteste –, Mori Sōi (Sōiken), Ōye Matsuemon, Ōye Genyemon und Yamada Emonsaku (Zenzaemon). Sie waren es, die in jenem schicksalhaften Herbst des Jahres 1637 den erst 17-jährigen Masuda Shirō Tokisada als charismatischen Anführer der Rebellion auswählten. Ihm folgend stürzten sich Zehntausende japanischer Christen in ein Abenteuer, aus dem es kein Zurück geben konnte, da sie es wagten, sich der Macht ihres Shōguns in den Weg zu stellen.
Masuda Shirō Tokisada wurde rasch zum Symbol des Widerstands gegen die Unterdrückung und die Ungerechtigkeit. Tatsächlich aber bleibt er eine höchst geheimnisvolle Persönlichkeit. Niemand weiß, ob er beim Aufstand von Shimabara tatsächlich die Befehlsgewalt innehatte oder ob er nur den Willen der fünf Rōnin vollstreckte, die seine Ausstrahlung für ihre Zwecke nutzen.
Wir kennen heute zahlreiche Einzelheiten über die Geschehnisse jener Tage, aber die wirkliche Persönlichkeit des jungen Anführers bleibt im Nebel verborgen. Er stammte aus der in der Provinz Higo gelegenen Stadt Udo. Sein Vater war der christliche Bauern-Samurai Masuda Yoshitsugu (Jinbei). Seit er zwölf Jahre alt war, befand sich Shirō häufig in Nagasaki, wo er für chinesische Händler arbeitete und in einer christlichen Familie Unterricht bekam. Wahrscheinlich war es dort, wo er in aller Heimlichkeit getauft wurde und den portugiesischen Namen Jerónimo Machondano Chico (Maxondanoxiro) erhielt. Es heißt, schon in sehr jungen Jahren habe sich seine Begabung für Literatur und für alle Formen der Kunst gezeigt. Und die Legende ergänzt: Er sei fähig gewesen, Vögel dazu zu bringen, sich auf seiner Hand niederzulassen und dort sogar Eier zu legen. Manch einer habe ihn gar über das Meer wandeln sehen, in der Nähe eines glühenden Kreuzes, das aus dem Wasser aufgetaucht sei … Man verlieh ihm messianische Eigenschaften, wie sie erforderlich waren, um die Masse der Bauern, Christen wie Nichtchristen, aus ihrer dumpfen Lethargie herauszureißen. Seine Jugendlichkeit, sein helles Gesicht und seine brennenden Augen trugen das ihre dazu bei: Amakusa Shirō wurde der Engel des Himmels (Tendō), ein neuer Jesus Christus (Yaso Kirishito), der Abgesandte Gottes (Deusu). Seine anziehende Persönlichkeit schlug jeden, der in seine Nähe kam, in den Bann. Seine Botschaft, die er unermüdlich wiederholte, besagte, dass »ein jegliches Ding auf dieser Erde und ein jegliches Wesen, welches auch immer sein Rang sei, denselben Ursprung hätten und von gleicher Natur seien« (Tenchi dōkon banbutsu ittai, issai shujo fusen kisen). Diese großzügige und auf die Gleichheit aller gerichtete Sichtweise fand offene Ohren bei den einfachen Leuten auf den südjapanischen Inseln, die Hunger litten und unter dem unerbittlichen Druck der Tyrannei von einer besseren Welt träumten.
Die fünf Rōnin hatten sich also darauf geeinigt, im Namen Shirōs zu handeln, nicht nur aufgrund seines natürlichen jugendlichen Charismas, sondern auch, weil er keiner der rivalisierenden Gruppierungen angehörte, die einen Anspruch darauf hätten erheben können, in diesem Aufstand die Führung zu übernehmen. Und noch bevor er selbst vor die Augen der Abertausenden Unterdrückten trat, die nur allzu gern daran glauben wollten, was ihnen die Gerüchte zugetragen hatten, begeisterte man sich für einen Plan, der ihm zugeschrieben wurde: Ein Marsch nach Norden, um sich mit ausländischen christlichen Truppen zu vereinen; dann die Festung von Ōsaka einzunehmen und auf Edo zu marschieren. Die verhassten daimyō würden unterwegs gefangengenommen werden. Ein neues Zeitalter würde in Japan erstehen!
Voll Hoffnung drängten sich die Menschen am Anfang jenes Herbstes des Jahres 1637 um die Kohlenbecken, die in die Lehmböden der elenden Hütten eingelassen waren, während sich draußen im Wind und in der Kälte die Geister tummelten und der Mond am Himmel aufstieg und die Wipfel der Bäume und die Silhouetten der Berge in ein bläuliches Licht tauchte …
Alle Ereignisse, die in diesem Buch erzählt werden, wie auch ihr zeitlicher Ablauf und die Namen der Orte, an denen sie sich abspielten, sind historisch belegt. Viele der Personen, die auf diesen Seiten auftreten, haben tatsächlich existiert. Der Leser findet sie im Anhang aufgelistet. Ihre Gespräche und konkreten Verhaltensweisen wurden hingegen vom Autor ersonnen. Das gleiche gilt für »Shirōs Tagebuch«, aus dem im Verlauf der Erzählung immer wieder zitiert wird. Die Tagebucheinträge sind gemäß der japanischen Ära Kan’ei (1624 - 1643) datiert, die der Endzeit der Herrschaft des Kaisers Go-Mizuno-o und dem Beginn der Herrschaft des Meishō-Kaisers entspricht.
Japanische Begriffe werden im Text kursiv angezeigt, dies soll es dem Leser erleichtern, sie im Glossar dieses Buches wiederzufinden. Ausgenommen davon sind Begriffe, die heute als weitestgehend bekannt vorausgesetzt werden können oder deren Bedeutung sich eindeutig aus dem Text selbst ergibt.
Was die Personen – seien sie historisch oder nicht – angeht, so werden ihre Namen gemäß dem japanischen Brauch angegeben: Zuerst wird der Familienname genannt und danach der Vorname.
Die beiden Landkarten im Anhang erlauben es, die Ereignisse räumlich einordnen zu können.
Teil I
Der Engel des Himmels
»Nachdem fünfmal fünf Jahre vergangen sein werden, wird ein außergewöhnlicher junger Mann in Japan erscheinen. Ohne etwas studiert zu haben, wird er ein Wissender sein. Dies wird geschehen. Und die Wolken werden glühen, im Westen wie im Osten. Ein toter Baum wird eine Blauregenblüte austreiben. Die Menschen werden auf ihren Häuptern das Zeichen des Kreuzes tragen. Weiße Banner werden auf dem Meer und den Flüssen schwimmen und über den Bergen und den Ebenen schweben. Dann wird die Zeit gekommen sein, Jesus zu huldigen.«
Aus der Hankan-Prophezeiung
1
Arima, Shimabara, Dezember 1637
Und immer wieder dieses Klagen und Schluchzen, das die Stille der Nacht zerriss. Voll Qual und Verzweiflung. Von Zeit zu Zeit, wenn der Wind sich drehte, wurden die peinigenden Laute unterbrochen. Dann klangen sie wieder auf, doch jedes mal ein wenig schwächer. Ein Wesen im Todeskampf.
Im ausgemergelten Gesicht von Kenzō Shibata zuckte kein Muskel, aber seine Fäuste waren geballt. Der Bauer wandte den Kopf leicht in Richtung des Mannes, der sich zu seiner Linken befand, gleich ihm an einen Baumstamm gelehnt. Im Dunkeln waren noch mehr reglose Silhouetten zu erahnen, die mit der Nacht zu verschmelzen schienen. Es herrschte eine Atmosphäre gespannter Aufmerksamkeit.
Mori Sōiken streichelte mit der linken Hand den feingearbeiteten Griff seines Schwertes, der von Zeit zu Zeit im Licht des durch die Äste scheinenden Mondes auffunkelte. Seine Ruhe war unerschütterlich, sein Geist unglaublich präsent. Kenzō Shibata wusste, dass der alte Samurai fähig war, die Klinge jederzeit mit tödlicher Schnelligkeit zu ziehen. Aber dies würde erst im entscheidenden Moment geschehen …
Bald schon. Sobald das grobe Gelächter und die johlenden Gesänge endlich verstummen würden, die die schrecklichen Klagelaute immer wieder übertönten. Hinter den Fenstern des befestigten Wohnsitzes von Nobuyuki Kishi, dem vom daimyō eingesetzten Steuereintreiber, sah man inmitten tanzender Lichter die unförmigen Schatten seiner Leute sich bewegen.
Die kleine Okita würde wohl nicht mehr zu retten sein. Und zweifelsohne war dies besser so. Über all der Scham und all den Schmerzen musste sie längst den Verstand verloren haben. Ja, es wäre besser, wenn sie stürbe. Es ging schließlich nicht nur darum, das Mädchen den Händen der Söldner zu entreißen. Das war genau genommen nur für ihren Vater Yoshio Sato, den shōya von Fukaiemura, von Bedeutung, der die Männer davon überzeugt hatte, ihm auf seinem Pfad der Rache zu folgen. Kenzō Shibata, wie die meisten anderen aus dem Dorf, war noch aus vielen anderen Gründen dabei. Hinter Bäumen oder zwischen Bambusgestrüpp verborgen, warteten sie, Geisterschatten gleich, voll Hass und mühsam beherrschtem Drang zu Gewalttaten, auf ihre Stunde. Wären die anderen dort in dem Haus weniger betrunken, wären sie vermutlich misstrauisch geworden angesichts der sonderbaren Stille, die im Wald herrschte. Kein Tier ließ wie sonst seinen Ruf erschallen. Aber wer würde sich schon vor dem Unvorstellbaren fürchten? Es war für die Leute des Steuereintreibers ein Abend wie jeder andere.
Was sie tun würden, würde nie vergeben werden. Gegen seinen Herrn und Meister aufzustehen, konnte nur mit dem Sieg oder dem Tod enden, einem Tod, dessen Schrecken jede Vorstellungskraft übersteigen würde.
Wir werden alle sterben, dachte Kenzō Shibata. Sicher nicht an diesem Abend, denn sie hatten den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite. Aber der nächste Tag würde schnell kommen … Er bedauerte nichts. Das, was sie planten, musste endlich getan werden. Das Martyrium, das die kleine Okita durchleiden musste, hatte selbst die Zweifelndsten entschlossen werden lassen. Das Gesicht des alten Bauern verzerrte sich vor Bitterkeit und Hass. Früher oder später hätten die neuen Steuern, die der Bezirksgouverneur ihnen auferlegt hatte, sie ohnehin getötet. Langsam zwar, aber sicherer als jede Krankheit. So, wie sie bereits vielen Kindern und Alten das Leben gekostet hatten, für die es nicht mehr genug zu Essen gegeben hatte. Und Woche für Woche wurden Hunderte – selbst schwangere Frauen und Kinder – Opfer der grässlichsten Foltern durch die Häscher des daimyō, die sich an Einfallsreichtum für ihre Grausamkeiten gegenseitig zu übertrumpfen suchten. Sie labten sich daran, dass die Berichte von ihren Schreckenstaten sich im ganzen Land verbreiteten. Im ganzen Süden Japans machte man Jagd auf jene, die sich geweigert hatten, ihrem christlichen Glauben abzuschwören. Nun – die Zeit war gekommen, sich zur Wehr zu setzen. Sie würden sich nicht mehr wie Schlachtvieh die Kehle durchschneiden lassen. Das war beschlossene Sache. So würden sie vielleicht etwas eher sterben, aber sie würden als Männer den Tod finden. Und nicht in Einsamkeit.
Warum der alte Mori Sōiken wohl mitgekommen war? Als einziger von all den alten Samurai Konishis, die aufgrund der unbarmherzigen Erlasse des Shōguns ihr Dasein heute als einfache hyakushō fristeten. Um dem shōya beizustehen, hatte er gesagt. Aber es musste noch einen anderen Grund geben, den die Leute aus dem Dorf nicht zu ergründen versucht hatten. Bauern pflegten sich zu entfernen, oder sie verbeugten sich tief, wenn ein Krieger sich näherte. Sie stellten ihm keine Fragen … Kenzō wollte es fast so scheinen, als hätte Mori auf eine solche Gelegenheit nur gewartet. Aber wie dem auch sein mochte: Was zählte, war, dass er an diesem Abend an ihrer Seite stand.
Mori gab Kenzō Shibata ein knappes Zeichen mit dem Kopf. Dieser zeigte auf gleiche Weise an, dass er verstanden hatte. Gleich würde es beginnen. Er konnte nicht verhindern, dass er plötzlich am ganzen Leibe zitterte. Sollte bekannt werden, dass er bei diesem Überfall dabei war, dann bedeutete dies das Todesurteil für seine ganze Familie, bis hin zum kleinen Enkelsohn, den seine älteste Tochter gerade erst zur Welt gebracht hatte. Noch könnte er sich zurückziehen, ins Dunkel verschwinden, zurück ins Dorf eilen und am nächsten Tag aufs Feld gehen, als wäre all dies nie geschehen … Ein leichter Wind ließ das Laub in den Bäumen rascheln und trug das kaum noch vernehmbare Wimmern Okitas herbei. Nein, er würde bleiben. Es hatte das Gefühl, dass das Leben des Mädchens gerade erlosch, dort in dem Haus, wo die Schatten der Häscher tanzten, die sie entführt hatten. Ihn durchlief ein eisiger Schauer. Kenzō Shibata wusste wieder genau, warum er sich hier befand mit all den anderen, in diesem Wald, der vielleicht ihr Grab würde. Er dachte an ihre Zusammenkunft beim shōya einige Stunden zuvor.
»Ich habe euch stets so gut verteidigt, wie ich es vermocht habe … Heute bin ich es, der euch darum bittet, mich zu verteidigen.« Yoshio Sato, der Dorfvorsteher von Fukaiemura, verstummte. Er blickte zu Boden, das Gesicht verzerrt vom Schmerz, der ihn von innen her auffressen wollte. Um ihn versammelt hockten die Männer des Dorfes. Sie waren in seine bescheidene Lehmhütte geeilt und schwiegen nun unbehaglich. Die Luft war geschwängert vom Rauch des Kohlenbeckens am Boden der Hütte.
Schließlich sprach der shōya weiter, mit knappem Atem und verstörtem Blick: »Ihr wisst alle, was sie mit ihr gemacht haben. Okita. Ich habe nur noch sie … Habt ihr eine Ahnung davon, was die Söldner von Nobuyuki Kishi meinem Kind angetan haben?« schrie er plötzlich, wobei er aufsprang, so dass die Männer, die direkt vor ihm hockten, zurückschreckten, als wären sie von einer Lanze bedroht worden. –»Berichte, Sakai!« fuhr er mit grollender Stimme fort, die plötzlich an das Knurren eines großen Hundes erinnerte. Der Hass krümmte seinen Körper.
Mit kaum vernehmbarer Stimme bestätigte daraufhin Sōjurō Sakai das, was die Leute befürchtet hatten, als der kleine Trupp Soldaten das Dorf verlassen hatte, mit der Tochter des shōya als Geisel, da die Gemeinde nicht in der Lage gewesen war, die neuen Steuern aufzubringen. Einer der Folterknechte, berauscht von sake, war aus dem Kerker, in den man das Mädchen verschleppt hatte, gekommen und Sakai begegnet, der gerade schwer mit einem Bündel aus dürrem Holz beladen auf dem Weg in sein Dorf war. Der Betrunkene brüstete sich vor ihm über die »Behandlung«, die sie dem Mädchen angedeihen ließen. Als er sah, wie der Bauer sich von ihm mit entsetztem Gesichtsausdruck abwandte und trotz der schweren Last auf seinen Schultern wie ein Hase davoneilte, brach er in rohes Gelächter aus und ging wieder zurück ins Haus des Steuereintreibers. Er genoss die Wirkung, die seine vulgären Worte und die obszönen Gesten, mit denen er sie begleitet hatte, erzeugt hatten. Er war sicher, dass seine Beschreibung der hinter den Mauern des Hauses begangenen Missetaten nun sehr rasch im Dorf die Runde machen würde, bei diesem Gesindel, das in die Schranken gewiesen werden musste.
»Sie … sie haben sie nackt angebunden … und sie haben sich an ihr vergangen … Sie haben sie mit glühendem Holz gefoltert und ihr kochendes Wasser in die Wunden gegossen«, brachte Sōjurō Sakai hervor.
Die Versammelten waren niedergeschlagen und zutiefst verletzt beim Gedanken an ihre kleine Okita. Sie sahen sie vor sich mit ihrem Kinderlächeln, ihrer weichen Haut, ihrem grazilen Gang … Es war nicht nur sie, die die Männer des Gouverneurs geschändet und beschmutzt hatten; es waren sie alle, das ganze Dorf. Ihnen allen war vor Augen geführt worden, dass sie nichts als Sklaven waren. Ob es sich um neue Steuern auf die Ernten oder um den Kampf gegen die letzten Anhänger der fremden Religion handelte, alles war den allmächtigen daimyō und ihren Handlangern recht, um im Namen des Kaisers und des Shōguns selbst ihre schlimmsten Missetaten zu rechtfertigen, und dies bereits seit Jahren. So viele Männer, Frauen und Kinder waren bereits gestorben durch Entbehrungen und Misshandlungen, oder sie waren niemals wiedergesehen worden, nachdem die Söldner sie entführt hatten. Wie lange konnten die Menschen das alles noch hinnehmen?
»Und morgen?« fragte Yoshio Sato unvermittelt. »Wer ist da an der Reihe? Deine Frau vielleicht, Sanji? Deine Töchter, Daigo? Und du, Atsuo, vielleicht brennen sie dir auch eines Tages die Haut vom Leibe, weil du mit deinen Steuern im Rückstand bist, oder sie nehmen dir das Augenlicht wie dem ehrwürdigen Shashi Kizaemon! – Der Tag wird kommen, an dem sie uns alle heimsuchen.«
Der anklagende Zeigefinger des shōya wies auf einen nach dem anderen. Die Männer sanken noch mehr in sich zusammen, und ihre Augen wichen seinem Blick aus. Was sollte es bringen, sich gegen den Lehnsherrn zur Wehr zu setzen? Seit Jahrhunderten hatte es immer wieder Revolten gegeben, und jede war im Blut erstickt worden.
»Wir können nichts tun, Yoshio Sato …«
»Was sollen wir denn ihren Schwertern und ihren Lanzen entgegensetzen?«
Der shōya erwiderte: »Greift zu euren Dreschflegeln, euren Sicheln, euren Mistgabeln und euren Stöcken! Es gibt tausend Möglichkeiten, ihnen den Tod zu bringen!«
»Aber nach ihnen kommen andere, viele andere, nicht wahr? Sie werden das Dorf dem Erdboden gleich machen!«
»Wir werden nicht einmal ein Grab haben …«
»So versteht doch, Yoshio-san, ich weiß, dass wir alle für dieses neue Unglück verantwortlich sind, aber diesmal waren die Abgaben wirklich zu hoch! Das Jahr war zu trocken. Wir konnten unmöglich genügend Reis ernten. Uns bleibt nichts, aber auch gar nichts …«
»So wollt ihr also lieber Hungers sterben in euren Hütten?« fragte Yoshio Sato entmutigt.
»Uns verhungern zu lassen nützt ihnen doch überhaupt nichts! Wer soll denn dann die Felder bestellen? Der Herr Matsukura braucht schließlich seine vierzigtausend koku Reis.«
Mori Sōiken erhob sich und trat in den Lichtkreis. Alle Blicke richteten sich erwartungsvoll auf ihn. Man schätzte ihn als den echten Samurai, der er einst gewesen und der er im Bewusstsein der Bauern stets geblieben war. Er war kein Bauer wie die anderen. In seiner Familie betete man noch immer offen zu dem fremden Gott, und seine Kinder wurden in Ehrfurcht vor der Tradition erzogen. Mori Sōiken hatte seine Söhne in der Kunst des Schwertkampfes unterrichtet, so, wie er sie einst praktiziert hatte im Dienste des großen Konishi Yukinaga, den er auf seinem Korea-Feldzug begleitet hatte. »Der shōya hat recht«, sagte er. »Warum darauf warten, dass der Tod uns im Schlaf holt? Ich werde Yoshio-san mit meinen Söhnen begleiten!«
Sofort standen zwei junge Männer auf und stellten sich, ohne ein Wort zu sagen, neben ihn. Der alte Krieger ließ seinen kalten Blick über die noch Zaudernden gleiten.
»Können wir denn nicht erst einmal versuchen, den Herrn Matsukura zu bitten …«, warf jemand mit zögerlicher Stimme ein.
Mori Sōiken fiel ihm ins Wort. »Es ist zu spät dafür. Wie weit wollt ihr euch noch erniedrigen lassen?«
»Wir müssen zu Yaso beten …«
Der Rōnin wandte sich einem kleinen Bauern zu, der zum Zeichen der Demut mit der Stirn den Boden berührte. Mit einem spöttischen Lächeln, das der Mann nicht sehen konnte, sagte er: »Und tatenlos das Martyrium erwarten? Auch ich weiß zu beten. Man darf nie aufhören zu beten. Aber jetzt ist der Moment gekommen, unseren Glauben zu verteidigen!«
Seine Stimme war laut geworden. Unruhe entstand unter den Versammelten, man hörte Gemurmel.
»Wenn Mori-san bei uns ist, werden auch andere Samurai folgen. Er hat recht, wir sind doch keine Hunde. Gott wird mit uns sein!«
»Wir werden sie überrumpeln!«
»So ist es, sie werden nicht das geringste ahnen …«
Mori Sōiken stand reglos, das ernste, hagere Antlitz belebt von dem Spiel aus Schatten und Licht, das von den Flämmchen, die im Kohlenbecken flackerten, herrührte. Er glich einer steinernen Skulptur, unerschütterlich, Zuversicht spendend. Endlich sagte er: »Gut. Wir werden also Yoshio Sato folgen, sobald die Nacht anbricht. Kommt nicht mit leeren Händen …«