Kitabı oku: «Das Erwachen der Gletscherleiche»
Roland Weis · Das Erwachen der Gletscherleiche
Dr. Roland Weis, Jahrgang 1958, lebt und arbeitet in Südbaden. Der gelernte Zeitungsredakteur hat mehr als zwanzig Jahre bei Tageszeitungen, Radiostationen und Wochenzeitungen gearbeitet, ehe er 2002 in die Unternehmenskommunikation eines Energieversorgers wechselte, die er heute leitet. 1992 erschien sein erstes historisches Sachbuch „Würden und Bürden“, in dem er die Rolle der katholischen Priester im Dritten Reich untersuchte. 1998 veröffentlichte er seinen ersten Krimi „Der Güllelochmord“, dem bis heute sieben weitere folgten. Der promovierte Historiker hat neben zahlreichen Beiträgen in Fachzeitschriften und Nachschlagewerken inzwischen rund 20 Bücher veröffentlicht, darunter regionalgeschichtliche Untersuchungen, populärwissenschaftliche Sachbücher, Wander- und Urlaubsführer aus dem Schwarzwald sowie einen historischen Roman, der in der kanadischen Wildnis des 18. Jahrhunderts spielt.
Zum Titelbild: Nino Malfatti wurde 1940 in Innsbruck geboren. Er studierte an der Akademie der bildenden Künste in Wien Malerei, Grafik und Restaurierung. An der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe wurde er Meisterschüler von Horst Antes. Seit 1974 lebt er in Berlin, wo er als Gastprofessor an der Universität der Künste Berlin Maltechnik lehrte. Das Gebirge ist Gegenstand seiner Malerei seit den 80er-Jahren. Als Hochgebirgsbergsteiger ist Malfatti viel in seiner Tiroler Heimat unterwegs und fotografiert dort die Bergmassive der Alpen. Nach diesen Aufnahmen entstehen im Atelier seine Landschaftsmalereien.
Roland Weis
Das Erwachen
der Gletscherleiche
Ein Krimi, der vor 5000 Jahren beginnt und in Freiburg seinen Lauf nimmt
für Zurbo
1
Die steifgefrorene Hand ragte zu zwei Dritteln aus dem tropfenden Gletschereis. Bleich und haarig. Der Daumen war nach oben abgespreizt. Es sah aus, als wollte ein Tramper mitgenommen werden. Fast hätte Mona im starken Regen die Hand übersehen. Wer rechnet auch mit einem eingefrorenen Tramper mitten im Hochgebirge? Der Wind trieb milchige Wasserschlieren auf die kleine Wandergruppe, die sich im Schutze einer Gletscherspalte ihren Weg bahnte. Armin, der Idiot! Er war schuld an allem. Nein, er hatte nicht warten können. Am Morgen im Berghaus, da hätten sie noch alle Optionen gehabt: Ausschlafen, das Unwetter abwarten, ins Tal nach St. Moritz zurückkehren. Stattdessen stolperten sie jetzt bei kaum drei Metern Sicht durch kalten Regen über den Gletscher und drohten bei jedem Schritt ins Tal hinunter nach Morteratsch gespült zu werden. Das grandiose Bergpanorama des Engadin blieb den ganzen Tag hinter einer grauen Regenwand verhüllt. Und das im frühen Herbst. Das war doch angeblich die sonnige Wanderzeit.
Ihre Gruppe bestand aus sieben Personen. Mona mit ihrem Freund Armin, davor die vier Amis, zwei Paare aus Iowa. Vorneweg stapfte Bernie, ihr verdrossener Führer. Ein Kerl wie ein Schrank, mit Oberarmen wie Ofenrohre. Er schleppte einen mit Steigeisen, Karabinerhaken und Seilen vollbeladenen Bergrucksack mit sich, mit dem er es bis zum Himalaya schaffen würde. Bernie hatte sie gewarnt, er hatte am Morgen auf der Diavolezza vom Weitermarsch abgeraten. „Herrschafte, mr bliiebe do. Des wird nünt meh hit!“. Und damit es auch die Amerikaner verstanden: „Dätts än räiny morning. Wiee schuddent wook ower the glassijeh!“ Da war das Sauwetter bereits über den Piz Bernina gekrochen und hatte erwartungsfroh die Zähne gefletscht. Doch die beiden Paare hatten die Dollarbündel gezückt, sie wollten unbedingt die Gletschertour zu Ende bringen. Bernie hatte kurz seinen gelben Schnauzbart gezwirbelt, dann war er weich geworden: „Zwi Persone brüüchte mr no. Dennoh däte mrs probiere!“
Die zwei waren schnell gefunden. Armin der Blödmann. Was immer ihr sportiver Freund unternahm, Mona besaß kein Mitspracherecht. Armin plante Kajakfahrten, Drachenfliegen, Go-Kart-Rennen, Mountainbike-Touren und Tauchkurse. Mona wurde nie gefragt. Sie musste mitmachen. So war sie auch in diese idiotische Gletschertour geraten. Jetzt blieb sie stehen und betrachtete diese seltsam weiße Hand. Irre! Über die bläuliche Eiswand des Gletschers, aus der die Pranke herausragte, floss das Regenwasser in Strömen. Deshalb bemerkte Mona den dunklen Schatten nicht gleich, der sich in Fortsetzung der Hand im ewigen Eis verbarg. Zaghaft: „Hey, Armin, warte mal!“ Aber der war schon etliche Meter weiter getrottet, den Blick immer auf die Bergstiefel seines Vordermannes gerichtet, die Ohren hinter der Goretex-Kapuze seines Anoraks hermetisch abgeriegelt. Armin hörte sie nicht. Er vernahm höchstens das Prasseln des Regens und das Gurgeln des Wassers, das in der Gletscherspalte abfloss.
Bernie hatte den Weg durch diese begehbare Spalte gewählt, weil es oben auf dem glattgespülten Gletscher viel zu gefährlich gewesen wäre. Nach dem Zusammenfluss von Pers- und Morteratsch bahnte sich die gemeinsame Gletscherzunge ihren Weg in steilem Gelände talwärts. Große Klüfte durchzogen hier das Eis. Normalerweise machten die Bergführer einen großen Bogen um diese Spalten. Aber angesichts des sintflutartigen Regens, „mit däm het mr nit rächne chönne“, wählte Bernie einen „Geheimwäg, odder?“ Angeblich nur ihm bekannt.
Mona hegte Zweifel, ob Bernie wirklich ein Bergprofi war. Sie erinnerte sich an einen Fernsehbeitrag, in dem es geheißen hatte, die wirklich professionellen Bergführer gingen niemals bei sich abzeichnendem Unwetter auf Tour. So wie am Morgen die Dollarnoten funktioniert hatten, musste es sich bei Bernie um eine Touristenhure handeln, die bereit war, für Geld auch die blödsinnigsten Touren mitzumachen.
Inzwischen war es früher Nachmittag und sie würden den vermaledeiten Gletscher hoffentlich bald hinter sich lassen und ins Dörfchen Morteratsch absteigen, in den Zug und zurück nach St. Moritz ins Hotel. Warme Dusche, trockene Klamotten, feines Käsefondue mit Rotwein und ab ins Bett. Mona hatte sich den Rest des Tages zurechtgeträumt.
Und nun tauchte diese Hand auf, wie ein Stoppschild mitten auf der Autobahn. Mona schob sich die klatschnassen Haare aus der Stirn und wischte die Augen frei. Es war tatsächlich eine Hand. Und sie gehörte zu einem dunklen Etwas, das im Eis steckte. Der Gletscher spuckte eine Leiche aus.
Sportsmann Armin kehrte mit Bernie zu Mona zurück. „Wo steckst du bloß, du blöde Kuh“, schimpfte er. „Sollen wir ewig im Regen auf dich warten?“
Mona verstand nicht, was er sagte. Sie sah nur, dass er brüllte, mit ausladenden Schritten zu ihr aufstieg und dabei wütend seinen Stock ins Eis hieb. Seine grellgrüne Trekking-Jacke leuchtete durch den Regen wie ein Papagei im Amazonasnebel.
„Hey du Arsch, hast du endlich was gemerkt?“, brüllte Mona durch den Regen zurück. Aber Armin konnte sie ebenso wenig verstehen.
Bernie entdeckte die Hand sofort: „Was isch dös für än Cheib? Iigfrore, odder?” Zu Dritt standen sie um die Fundstelle herum und glotzten. Wasser tropfte von ihren Kapuzen, lief über Nasen und Kinn. Keiner wagte es, das seltsam bleiche Etwas zu berühren.
„S’isch än Maa!“, erkannte Bernie. Er zwirbelte sich den feuchten Bart. Ein Zeichen, dass er nachdachte. „Lecksch mi doch am Füdli!“
Armin zückte sein Handy, um Fotos zu machen. Ganz der Beamte. Erst einmal alles protokollieren. Wenn er gerade nicht auf Abenteuertouren ging oder sportliche Höchstleistungen vollbrachte, saß er als stellvertretender Dezernatsleiter im Landratsamt in Freiburg, wo er Probleme löste, wie er es sah, Probleme auslöste, wie mancher Antragsteller es betrachtete. Jedenfalls brauchte man immer Bilder für die Akten. Also fotografierte Armin die Hand. Mona folgte seinem Beispiel und knipste ebenfalls drauf los. Sie sah es mehr als Fotosouvenir. Schließlich fand man nicht alle Tage so etwas Skurriles im Eis.
Bernie nestelte am Hochsicherheitsreißverschluss seiner wetterfesten Bergführer-Jacke herum und angelte schließlich ein Funkgerät hervor. Er machte Meldung an eine irgendwo im Nebel befindliche, verrauschte Bergwacht-Einheit. Mona lauschte dem knarrenden Wechsel von Fragen und Antworten, die Bernie im Knattern und Knistern vielfältiger Störgeräusche mit seiner Bodenstation austauschte. Sie verstand nur so viel: Leiche im Eis gefunden, untere Morteratsch-Gletscherzunge, schwer zugänglich, Bergung erst nach Regen möglich. Alle drei ermittelten mit Hilfe ihrer Handys die exakten GPS-Daten der Fundstelle. Bernie zückte sein Bärentöter-Überlebensmesser, um an der Stelle im Eis zu kratzen, wo die Hand herausragte. Er gab den Versuch jedoch gleich wieder auf. „Mr mache en nu abenand!“, klagte er, um gleich zu entscheiden: „Dös lömmer d‘Spezialischte mache!“
Fast bedauerte es Mona, als sie die Fundstelle verließen. Ihr war, als winkte ihr die Hand aus ihrem frostigen Käfig nach. Aber Bernie drängte mit Blick zum Himmel auf den schnellen Abstieg. Sie mussten auch die Amis wieder einholen, die ohne Erlaubnis des Führers alleine weitergegangen waren. Und Armin war inzwischen auch ganz in seinem Element: „Das müssen wir umgehend den Behörden melden.“ Das hätte sie sich denken können.
Sie erreichten das Ende der Gletscherzunge, an einer Stelle, wo der Gletscher eine Art Tor bildete, aus dem gurgelnde Sturzbäche strömten. Hier warteten die vier Amerikaner. Gemeinsam stiegen sie über einen bequemen Wanderpfad zum Tal ab. Bernie erstattete Meldung beim örtlichen Gendarmerie-Posten, während der Rest der Gruppe sich kurz im Hotel-Restaurant Morteratsch aufwärmte. Die Amerikaner quartierten sich hier ein. Mona und Armin fuhren alleine mit dem Zug zurück nach St. Moritz.
Armin war nicht sehr gesprächig. Er spielte mit seinem Smartphone und zappte sich mit eingestöpselten Kopfhörern durch verschiedene Apps. Mona hingegen hatte das dringende Bedürfnis, über den grausigen Fund zu sprechen. Nicht dass der Fund sie geschockt hätte. Sie fand das Ganze einfach nur aufregend. Tote machten ihr gar nichts aus. Wie oft bekam sie es in ihrem Job mit Leichen oder Teilen davon zu tun? Das war Alltag am Freiburger Forschungsinstitut BioGen, wo Mona als wissenschaftliche Assistentin arbeitete. Schließlich galt ihr Chef, Professor Dr. Johannes Emanuel Aschendorffer, als Koryphäe auf dem Gebiet der Gen- und Stammzellenforschung, und der schnitt schon gerne einmal an Leichenteilen herum. Schon während der Zugfahrt, erst recht aber später im Hotelzimmer, geisterte deshalb die Gletscherleiche auch als Objekt wissenschaftlicher Neugierde durch Monas Gedanken. Wie lange mochte sie wohl schon im Eis tiefgefroren sein? War es ein Bergsteiger? Ein Bauer? Ein Soldat? Welches Schicksal stand hinter dem Fund?
Für Armin, obergescheit wie er war, stand längst fest: „Das war jemand, der unvorsichtig in schlechtes Wetter geraten ist. Zack, da fiel er in die Gletscherspalte, wurde eingeschneit und tiefgefroren!“
„Ja, ja, wie unprofessionell, bei schlechtem Wetter auf dem Gletscher herumzuturnen“, spottete Mona.
Armin bemerkte die Ironie nicht, wie er überhaupt selten etwas bemerkte. Subtile Zwischentöne waren ihm so fremd wie thailändische Gewürze. Im Hinblick auf Monas zwischenmenschliche Signale besaß er die dicke Haut eines Elefanten. Wichtiger war ihm, dass die Frisur saß, die Sonnenbrille cool wirkte und man seinen geölten Bizeps bemerkte. Der gleiche Pedant, der er in seinem Behördenjob war, war er auch im Hinblick auf seine äußere Erscheinung. Er ging nur zum angesagtesten Friseur, kaufte keine Schuhe, die unter zweihundert Euro kosteten, ließ sich alle zwei Monate die Zähne polieren, war Mitglied einer ambitionierten Mountain-Bike-Clique, die regelmäßig den Freiburger Windmühlen-Berg Roßkopf unsicher machte, trimmte sich darüber hinaus im Abo im Freiburger Fitness-Gym-Zentrum, und ließ es niemals zu, dass Smartphone, Sonnenbrille, Kugelschreiber oder IPhone älter als ein Jahr wurden. Ja, es stimmte, er sah bei alldem blendend aus. Ein großer, sonnengebräunter Typ Anfang Dreißig, mit welligem hellbraunem Haar, breiten Schultern und schmalen Hüften. Ein Hingucker. Das war der Grund, warum Mona mit ihm zusammen war. Man konnte sich so schön mit Armin schmücken. Ihre Freundinnen beneideten sie. Leider war er als Gesprächspartner ein Totalausfall. Und vor lauter Selbstgefälligkeit entging es ihm meistens, dass andere Menschen auch Wünsche und Emotionen hatten. Speziell bei Mona berührte ihn das nicht. Empathie war ein Fremdwort für ihn. Mona war für Armin keine wirklich gleichberechtigte Partnerin, sondern lediglich ein weiteres schmückendes Accessoire, mit ihrem zarten Mädchengesicht ein ganz besonders hübsches. Sie passte so gut auf den Beifahrersitz in Armins BMW Z4 Roadster. So lange sie schlank blieb und bei seinen sportlichen Aktivitäten halbwegs mithalten konnte, hielt er sie für die geeignete Lebensgefährtin.
Die Zugfahrt verlief also ohne ernstzunehmendes Gespräch. Mona grübelte darüber, ob die Gletscherleiche vielleicht ein Ötzi war. Wenn es nun ein Ötzi war? Eine Leiche aus der Steinzeit? Was würde ihr Professor Aschendorffer dazu sagen? Der Gedanke machte sie ganz zappelig.
Nach der Ankunft in St. Moritz duschten sie, genossen im Hotel-Restaurant ein feines Mahl zu Schweizer Monsterpreisen und drehten vor dem Einschlafen noch eine ziemlich eingeübte Sexrunde. Bei Armin ging das in Richtung asiatischer Kampfsportart. Mona kam dabei eher die Rolle des passiven Sparringspartners zu. Sie ließ die Dinge geschehen. Als Armin sich grunzend auf seine Seite wälzte und zufrieden mit seiner Leistung unverzüglich zu Schnarchen begann, blieb Mona mit geöffneten Augen liegen. Sie konnte nicht einschlafen.
Die Gletscherleiche beschäftigte sie. Im Halbschlaf mischten sich Traum, Fantasie und Erinnerung. Ein großer, haariger Yeti brach aus dem Eis und brüllte sie durch das Prasseln des Regens hindurch an. Seine Schnauze mit Raubtiergebiss verwandelte sich in das kantige Kinn von Armin, der unverwandt weiterbrüllte. Es hörte sich an, als ob jemand eine Schallplatte in der falschen Geschwindigkeit abspielte. Das Gebrüll zog sich zäh in die Länge. Mona wollte davonlaufen. Da packte sie eine Hand, die aus dem Eis herausragte und hielt sie fest. „Was hämmer do für en Cheib?“, echote es mit der Stimme des Bergführers Bernie aus dem Regen.
Schweißgebadet wachte Mona aus ihrem Dämmerschlaf auf. Sie setzte sich im Bett auf. Armin schnarchte selbstzufrieden neben ihr. Der Radiowecker zeigte 0.47 Uhr an. Hatte sie so lange geschlafen? Sie dachte an ihren Chef, Professor Aschendorffer. Wenn der das wüsste! Sie kannte Aschendorffers Interesse an Leichen. Ganz besonders an mumifizierten und eingefrorenen. Die waren sein Steckenpferd. Sie musste ihren Chef anrufen.
*
Bei Professor Dr. Johannes Emanuel Aschendorffer klingelte das Handy um 0.50 Uhr. Er war noch wach. Aschendorffer war fast immer wach. Er schlief drei oder vier Stunden. Höchstens. Ansonsten las er. Jede Nacht las er ein Buch, manchmal auch zwei. Es gehörte zu den vielen phänomenalen Fähigkeiten des Professors, dass er Bücher im Schnelldurchlauf lesen konnte. Er schlug eine Seite auf, ließ den Blick einmal von links oben nach rechts unten wandern und blätterte um. In maximal drei Stunden war er durch. Was er einmal gelesen hatte, das blieb in seinem Gedächtnis gespeichert wie in einem Computer. Er vergaß nichts. Bei der Lektüre war er nicht wählerisch. Bevorzugt nahm er sich große Schinken der Weltliteratur vor. Zwischendurch verspeiste er politische Biografien, Sachbücher zur Weltgeschichte, Ratgeber, Kochbücher, Reiseführer, theologische Schriften, naturkundliche Werke, ganze Lexika, naturwissenschaftliche Lehrbücher, indizierten Schweinekram, kurzum, alles, was ihm in die Finger kam. Nach „Feynmans Vorlesungen über Physik, Band 1, Mechanik, Strahlung und Wärme“, das er gestern mit Begeisterung beendet hatte, steckte er heute mitten in Tolstois „Krieg und Frieden“. Soeben erschoss Pierre den Draufgänger Dolochow, da klingelte das Telefon. Der Professor strich sich genervt durch sein farbloses, struppiges Haar. Sein Blick, trübe wie eine undurchsichtige Regenpfütze, wanderte verwirrt durch das unordentliche Wohnzimmer, das er behauste. Das Telefon klingelte aufdringlich unter einem Stapel von großformatigen Computerausdrucken, die mit endlosen Zahlenkolonnen übersät waren. Aschendorffer wühlte mit seinen dünnen Stubenhockerärmchen darin herum, wie eine andalusische Bäuerin im Brotteig. Er schichtete den Papierstapel um, vergrößerte damit das Chaos, das ohnehin schon auf dem Wohnzimmerboden herrschte. Wie Inseln im Meer, so lagerten auf dem ausgetretenen Teppich verschiedene Stapel von Akten, Büchern, Folien, Zeitschriften und Computerfahnen. Letztere rollten sich zu abenteuerlichen Achterbahnen, die sich Girlanden gleich um die verschiedenen Papierberge wanden. Jede dieser gestapelten Inseln verkörperte ein Forschungsthema. Der Professor pflegte sich mit jeweils einem halben Dutzend und mehr Forschungsthemen gleichzeitig zu umgeben. Ansonsten bestand das Wohnzimmer aus heillos überladenen Bücherregalen an jeder Wandseite, einem großen Arbeitssessel und einem ringsum von Büchern und Folianten zugebauten Schreibtisch, auf dessen im Papier ertrinkender Arbeitsfläche ein Notebook aufgeregt blinkte.
Besucher hätten diesen Raum zweifellos beim ersten Anblick als die Behausung eines Messies identifiziert. Die Wohnung verfügte noch über ein mit Büchern vollgestelltes Schlafzimmer, eine spartanisch eingerichtete Küche von der Größe eines Campingwagens und eine Toilette, die der Hauseigentümer einst mitsamt einer Duschkabine in einen ehemaligen Putzschrank hineingebaut hatte.
Der Professor verdiente – ohne Vortrags- und Autorenhonorare – ungefähr eine Viertel-Million Euro im Jahr. Die hochdotierten Preise, die es so regelmäßig hagelte, dass man darauf beruhigt eine Hypothek hätte aufnehmen können, nicht mitgerechnet. Locker hätte Aschendorffer sich eine Villa in der Wiehre oder in Herdern leisten können, dort, wo traditionell die Freiburger Professoren wohnten oder deren arbeitsscheue Kinder und Kindeskinder. Aber Aschendorffer dachte gar nicht daran, sein Geld in einer Immobilie anzulegen. Es strömte unablässig auf sein Konto bei der Sparkasse Freiburg-Nördlicher Breisgau und brachte höchstens die dortigen Vermögensberater zur Verzweiflung, weil sie nicht damit spielen durften. Johannes Aschendorffer war weltlichen Verlockungen gegenüber in einem Maße gefeit wie die Menschheit es seit Diogenes nicht mehr erlebt hatte. Er besaß kein eigenes Auto, nicht einmal einen Führerschein, trug Kleidung aus dem Hause C&A, ernährte sich aus der Dose und mithilfe diverser Pizza- und Döner-Bringdienste, besaß weder Schmuck noch technisches Spielzeug – nicht einmal einen Fernsehapparat –, und er leistete sich nie einen Urlaub. Dafür war ihm die Zeit zu schade.
Und so wohnte er eben in dieser viel zu engen, unkomfortablen Etagenwohnung unter dem Dach eines Acht-Familien-Hauses in Freiburgs fadestem Wohnbezirk, im Stadtteil Brühl-Beurbarung. Für diese Standortwahl gab es nur einen Grund: die Wohnung lag ziemlich nahe am Forschungsinstitut BioGen im Industriegebiet Nord, so dass der Professor jeden Morgen zu Fuß zur Arbeit gehen konnte. Jetzt kraxelte Aschendorffer auf allen Vieren über einen seiner Papierhaufen und versuchte, das Telefon hervorzuziehen, ohne das labile Papierkonstrukt aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Architektur des Stapels besaß nämlich eine chronologisch-inhaltliche Logik, und die wäre zunichte, würde Aschendorffer einfach alles umwerfen, um an sein Telefon zu kommen.
Er schaffte es schließlich ohne Kollateralschäden. Die Stimme seiner Assistentin meldete sich: „Professor, endlich gehen Sie dran! Hier ist Mona! Ich rufe aus dem Urlaub an. Es ist wichtig. Wir haben eine gefrorene Leiche gefunden.“
Die Stimme seiner hübschen Assistentin weckte in Aschendorffer unverzüglich unsittliche Gedanken. Niemals hätte er es gewagt, das „Fräulein Mona“, wie er sie nannte, im Institut auch nur andeutungsweise anzubaggern. In den dortigen Laboren stierte er ihr lediglich nach, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Aber zu Hause in seinen vier Wänden, insbesondere vor dem Einschlafen im Bett, da brachen alle in seinen 35 Lebensjahren angestauten sexuellen Fantasien über ihn herein, und in ihrem Mittelpunkt stand Mona, insbesondere ihre primären und sekundären Geschlechtsmerkmale. Das war sein ganzes Sexualleben. Eigentlich war der Professor noch Jungfrau. Weder hätte er es gewagt, aktiv nach einem weiblichen Wesen Ausschau zu halten, noch es anzusprechen. Seine Verklemmtheit reichte so weit, dass er den Blick bereits verschämt niederschlug, wenn eine Frau auch nur den gleichen Raum betrat.
Dienstlich konnte Professor Aschendorffer allerdings Frauen gegenüber herrisch und kühl auftreten, selbstbewusst bis zur Arroganz, weil er ein künftiger Nobelpreisträger war.
Und dieser Anruf mitten in der Nacht erwies sich als ein dienstlicher. „Erzählen Sie!“, forderte Aschendorffer seine Assistentin auf. Sie erzählte die Geschichte von der Tour über den Morteratsch-Gletscher. Einzelheiten über die Route und über das Verhalten des Bergführers interessierten den Professor nicht. Hingegen zog er Mona jedes Detail über die Beschaffenheit des Eises, das Aussehen der Hand und über die noch im Eis steckenden Hauptbestandteile der Leiche aus der Nase. Und ganz spezifisch interessierte er sich für die Wetterverhältnisse und die Pläne der schweizerischen Bergwacht, die Leiche aus dem Gletscher zu bergen. „Wir müssen ihnen zuvorkommen!“, flüsterte er einmal ergriffen. Professor Dr. Dr. Johannes Emanuel Aschendorffer war ein eingefleischter Fan tiefgefrorener Leichen. Gelegentlich besorgte er sich welche über die Gerichtsmedizin. Unter dem Vorwand, Auftragsobduktionen durchzuführen, eine Kunst, in welcher der Professor es zu unerreichter Meisterschaft brachte, schwätzte er den Amtsbehörden hin und wieder einen vermeintlichen Selbstmörder, eine Baggerseeleiche oder einen Verkehrstoten ab. Meistens aber musste er sich mit Tierkadavern begnügen. Im privaten Forschungsinstitut BioGen, dessen wissenschaftlicher Leiter Aschendorffer war, wusste niemand so genau, an was der Professor nun eigentlich forschte, wenn er Organe sezierte, Stammzellen züchtete, an Genen herummanipulierte und wässrige Kulturen durch Zentrifugen jagte. Zwischendurch schnippte er mit den Fingern – und schwupps, hatte er ein neues, wirkungsvolles Arzneimittel gegen Kopfschmerzen aus dem Reagenzglas gezaubert. Das reichte, um ein Jahresbudget des Instituts locker zu finanzieren.
Das reichte auch seinem aufgeblasenen Chef, dem kaufmännischen Geschäftsführer und Institutsleiter Jens-Merten Föllstiegel, einer ahnungslosen, selbstgefälligen Niete, um den Professor machen zu lassen. Hauptsache Geld kam herein.
Seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Labor verehrten und bewunderten den Professor wie die Jünger ihren Messias. Aber ganz sicher verstanden sie nicht die Hälfte von dem, was er tat. Dabei war Aschendorffer durchaus von einer Riege hochkarätiger Wissenschaftler umgeben, die alle selbst denken konnten. Da waren seine Stellvertreterin, Dr. Frederike Biesthal, Biochemikerin, eine kalte Schönheit, emanzipiert wie ein Haifisch, Dr. Murji Amresh, der Molekularbiologe aus Indien, die Doktoren Schröder (Onkologie und funktionelle Genetik) und Westphal (vaskuläre Biologie und Entwicklungsbiologie), und selbst Assistentin Fräulein Mona blickte auf ein – wenn auch abgebrochenes – Studium der Humanbiologie zurück.
Nun schickte sie per Mail einige der Handyaufnahmen, die sie im Gletscher von der Hand im Eis gemacht hatte. Aschendorffer beugte sich über den Bildschirm seines Laptops und studierte jede Einzelheit, zoomte die Härchen und die Poren heran, als wollte er Fingerabdrücke nehmen.
Als Nächstes mailte Mona auf Geheiß des Professors die GPS-Daten von der Fundstelle.
„Bleiben sie dran!“, kommandierte Aschendorffer, ehe er an seinem Bildschirm Landkarten aufrief, Google-Earth bemühte, alles über den Gletscher und seine Geschichte las und nebenbei eifrig Notizen machte.
„Professor, was ist los? Was sagen Sie?“, fragte Mona nach längerer Wartezeit. Das Telefon lag auf dem Fußboden. Der Professor hatte Mona vor lauter Begeisterung glatt vergessen. Irgendwann, nach einer oder zwei Stunden, wäre sie ihm wieder eingefallen. Dann hätte er wieder in den Telefonhörer gesprochen und sich gewundert, wenn sie bereits aufgelegt hätte. Das hätte er für völlig unangemessen gehalten und bei nächster Gelegenheit gebührend gerügt. So aber machte sie sich selbst laut bemerkbar: „Professor! Was ist los?“
Aschendorffer wollte antworten, da vernahm er durch den Hörer die verschlafene Stimme von Monas Freund Armin: „Hey, was brüllst du denn so herum? Du weckst ja das ganze Hotel auf.“
„Pschcht, nicht so laut“, besänftigte Mona.
„Wer ist hier laut? Mit wem telefonierst du eigentlich?“
Aschendorffer hörte alles mit. Er griff ein: „Fräulein Mona? Ja? Ist das Ihr Freund, der da redet? Was weiß er?“
„Keine Sorge Herr Professor, er schläft gleich wieder ein.“
„Mit wem telefonierst du da. Dein Chef? Ist das etwa der verrückte Professor?“, dröhnte Armins wütende Stimme aus dem Hörer.
„Sei doch still!“
„Wieso soll ich still sein? Du telefonierst doch in einer Lautstärke herum ...“
„Hören Sie, Fräulein Mona“, flüsterte Aschendorffer. „Gehen Sie auf die Toilette. Nehmen Sie das Telefon mit. Ich möchte nicht, dass Ihr Freund alles mithört, was ich Ihnen sage.“
Bettzeug raschelte.
„Wo willst du hin?“
„Aufs Klo! Siehst du doch!“
Eine Tür klapperte. Ein Schlüssel wurde umgedreht.
„So, ich habe mich eingeschlossen. Er kann uns nicht mehr hören.“
„Gut so!“, lobte der Professor. „Jetzt passen Sie gut auf, was ich Ihnen sage. Und zu keinem Menschen ein Wort darüber. Zu niemandem! Haben Sie verstanden?“
„Ja, ja! Aber ...?“
Aschendorffer setzte ihr seinen Plan auseinander. Der wichtigste Satz lautete: „Ich schicke Herrn Kaymal. Er soll die Leiche bergen.“
*
Meslut Kaymal war der Chef einer türkischen Putz- und Hausmeisterfamilie, die im Institut die Büros und Labors reinigte und den Schlüsseldienst versah. Ganz genau wusste man das nicht, aber die Familie bestand aus mindestens drei Ehefrauen und sieben Töchtern. Söhne gab es keine, dafür aber ein schier unüberschaubares Heer von Brüdern, Cousins, Onkeln und weiteren ferneren Verwandten. Je nach Bedarf wurden sie in den Betrieb mit eingespannt. Aschendorffer und die anderen Institutsmitglieder hatten es aufgegeben, Verwandtschaftsbeziehungen zu ergründen. Da hätte man gleich ein anatolisches Sippenverzeichnis in Auftrag geben können.
Meslut Kaymal saß am Steuer, neben ihm ein dunkler, schnauzbärtiger Typ mit grimmigem Blick und furchterregenden Augenbrauen, und rechts außen im Führerhaus des Lieferwagens saß der Professor. Gegen fünf Uhr am Morgen hatte Kaymal ihn vor dessen Wohnung abgeholt. Ungeduldig hatte Aschendorffer dort schon gewartet: „Herr Kaymal, Sie haben über vier Stunden gebraucht, einen Lieferwagen zu organisieren. Das kenne ich nicht von Ihnen.“ Meslut Kaymal blickte den Professor mit seinen schwarzen Dackelaugen unterwürfig an: „Isse abber nicht normale Lieferwage! Isse Eiswage!“
„Ein Eiswagen?“, der Professor runzelte die Stirn.
„Gefrierewage“, verbesserte Kaymal. „Kannsch du mache Kühlschrank hinte drinne.“ Er klopfte stolz auf die seitliche Schiebetür. Dort prangte ein großer rotblau auflackierter Schriftzug „bofrost“. Darunter war das Foto eines in viele leckere Scheiben zerschnittenen Rollschinkens abgebildet, ungefähr so groß wie ein komplettes Mastschwein. Über allem stand der Slogan: „Frische und Genuss – tief gekühlt direkt ins Haus.“ Der Professor nickte anerkennend: „Ein Kühlfahrzeug! Hervorragend. Wo hast du den Wagen so schnell mitten in der Nacht herbekommen?“
Kaymal lächelte bescheiden, wie stets, wenn ihm großartige logistische Leistungen gelungen waren: „Habe ich Bruder, der wo isse Fahrer von kalte Wage.“
„Aha, ausgeliehen!“, kombinierte der Professor. Er wollte es nicht genauer wissen, weil er ahnte, dass jedes Hinterfragen eine Reihe zweifelhafter, höchstwahrscheinlich gesetzeswidriger Handlungen ans Licht brächte.
„Und wer ist das da?“, fragte Aschendorffer, als er einsteigen wollte und auf dem Mittelplatz im Führerhaus bereits der Schnauzbart saß.
„Isse andere Bruder.“
Die Antwort reichte dem Professor nicht. Er ließ seinen fragenden Blick auf „andere Bruder“ ruhen und schnarrte: „Und? Wozu brauchen wir ihn?“ Es gefiel ihm nicht, dass noch weitere Personen in sein Vorhaben eingeweiht wurden.
Kaymal grinste und entblößte dabei unter der von einem fadendünnen Schnäuzer gesäumten Oberlippe eine Reihe unglaublich gelber großer Zähne. Ein Eckzahn trug eine protzige Goldkrone. Sie funkelte im Morgenlicht. Kaymal erklärte: „Bruder isse Cheffe von Bergewachtposte auf die Feldberg obe.“ Als sei dort der Gipfel, zeigte er zur Bekräftigung mit seinem dicken Zeigefinger himmelwärts.
„Bergwacht Feldberg?“ Der Professor blickte skeptisch drein. Kaymals „anderer Bruder“ saß unschuldig wie ein kurdischer Flüchtling auf seinem Platz und machte den Eindruck, als verstünde er kein Wort von dem, was gesprochen wurde.
Kaymal schob eine Erklärung nach: „Kann er fahre Ski-Doo-Schlitte!“
„Ski-Doo was?“
Mit dem Daumen deutete Kaymal hinter sich Richtung Lieferwagen: „Ski-Doo! Isse so kleine Schlitte zum Fahre über Schnee und Eiseberg!“ Zur Bekräftigung schürzte er die Lippen und machte ein Gesicht, das Aschendorffer an dem Türken schon kannte. Es drückte in etwa aus: Mach dir keine Sorgen, alles wird gut.
Der Professor wanderte um den bofrost-Lieferwagen herum und zerrte hinten an der Luke. Kaymal kam ihm zu Hilfe und stemmte die Tür auf. Arktische Kälte schlug ihnen entgegen. Der Laderaum des Lieferwagens war fast leer. Keine tiefgefrorenen Leckerbissen. Stattdessen stand im hinteren Teil des Transporters eine große, verschlossene Blechkiste und davor ein gelber Motorschlitten, der mit einer Pritsche zum Transport von havarierten Wintersportlern ausgestattet war. Der Schlitten trug vorne auf der Nase die Aufschrift „Bergwacht“.