Kitabı oku: «Leben im Sterben», sayfa 2

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Was bedeutet „Sterben“?

… es ist nicht eigentlich das Sterben, was so schwer ist. Für das Sterben braucht man keine Fertigkeiten und keine besondere Einsicht. Jeder bringt es fertig. Zu leben ist schwer – zu leben, bis man stirbt, ob der Tod nun unmittelbar bevorsteht oder weit entfernt ist, ob man selber stirbt oder jemand, den man liebt. 7

Die kürzeste Definition von „Sterben“ lautet: Sterben ist aufhören zu leben. Mit dem Begriff Sterben bezeichnen wir also jene Zeit am Ende eines Lebens, die den Übergang zum Tod darstellt. Sterben, sofern es nicht plötzlich und unerwartet geschieht, ist nach meinen Erfahrungen eine vielschichtige und intensive Phase des Lebens. In der Fachliteratur wird Sterben beispielsweise folgendermaßen definiert:

Biologische Grundlagen von Sterben und Tod. Zellen sterben, sobald ihre Fähigkeit erlischt, sich an Umwelteinflüsse und Schädigungen anzupassen. Der Zelltod ist durch den irreversiblen Funktionsverlust der Zelle gekennzeichnet. Die Zellstrukturen lösen sich auf. Der Übergang von lebender zu toter Zelle ist unscharf, der genaue Zeitpunkt kann nicht bestimmt werden. In vielzelligen Organismen kommt es laufend zum Untergang von Zellen, die aber durch Wachstumsvorgänge erneuert werden. Zellerneuerung und Zelltod befinden sich in einem dynamischen Gleichgewicht. Störungen dieses Gleichgewichtes führen zu Alter und Tod. Ein vielzelliger Organismus stirbt, wenn es als Folge des Absterbens einzelner Zellen zum Funktionsausfall und Untergang ganzer Organe kommt und dieser Funktionsausfall nicht durch andere Organe kompensiert werden kann. Störungen im Wechselspiel von Zellerneuerung und Zelltod können beispielsweise durch Gifte, Infektionen oder hormonelle Fehlsteuerungen bewirkt werden. Aber auch ohne Krankheitsprozess kommt es zur Seneszenz (Alterung, Vergreisung) von Zellen und Organismen und schließlich zum Tod.8

Lebensbedrohende Erkrankung. Darunter versteht man im Allgemeinen eine Erkrankung, die das Leben gefährdet oder mit einem signifikanten Risiko zu sterben verbunden ist oder eine Erkrankung, bei der keine Heilung oder Behandlung mehr möglich ist und die zum Tod führt.9

Aus psychologischer Sicht wird ein sterbender Mensch als jemand beschrieben, der objektiv vom Tod bedroht ist und sich dieser Todesbedrohung so weit bewusst ist, dass sie sein Erleben und Verhalten bestimmt. Als Sterbender im medizinischen Sinn wird ein Mensch bezeichnet, dessen Tod als Folge eines Unfalles, einer nicht behandelbaren Krankheit oder infolge hohen Alters in absehbare Nähe gerückt ist. Die unmittelbare Todesursache ist schon abzusehen, der Tod wird nach ärztlicher Einschätzung innerhalb von Tagen bis Monaten eintreten.10

Wenn wir sterben, wird auf der körperlichen Ebene die gesamte Körperenergie, die vorhanden ist, verlangsamt. Zunächst lässt diese Energie in den Sexualorganen und in den Verdauungsorganen nach, was sich darin äußert, dass der Appetit nachlässt und die Verdauung viel länger braucht. Der sterbende Mensch schläft viel mehr und die Hormonausschüttung wird weniger. Die Arbeit des Nervensystems wird herabgesetzt und Atmung und Herz werden langsamer. Die gesammelte Kraft der Seele sammelt sich im Kopf des Sterbenden, was zu einer erhöhten Bewusstheit führt. 11

Wenn sich ein Sterbender angstfrei auf das Außen einstellen kann und anwesende Angehörige wahrnimmt, dann kann er ganz leicht loslassen und in die andere Dimension gleiten. In dem Moment, wo ein Mensch aus seinem Körper heraus ist, tritt das Bewusstsein durch den Kopf aus. Solange das Bewusstsein aber noch im Kopf vorhanden ist, atmet die Lunge und schlägt das Herz. Wenn wir also vollständig den Körper verlassen haben, d. h. inklusive des Bewusstseins, gehen wir sofort in eine andere Dimension, werden abgeholt und gehen ins Licht.12

Die Silberschnur

In der esoterischen Literatur ist häufig von der „Silberschnur“ die Rede, einem silberfarbenen Energieband, das die Seele mit dem Körper verbindet und beim Eintritt des Todes zerreißt.

Im Augenblick des Todes zerreißt die Silberschnur, die Seele und Körper miteinander verbindet. Wenn das geschehen ist, kann die Seele nicht mehr in den Körper zurückkehren. 13

Die Seele tritt aus dem Körper aus, mit dem Geist, der in ihr ist. Dieser Loslösungsprozess der Seele vollzieht sich nicht immer einfach. Je mehr ein Mensch an die Materie gebunden ist, umso dichter ist der Verbindungsstrang der Seele mit dem Körper. Die Einstellung zum Tod kann also mit entscheidend sein, wie leicht oder schwer jemand stirbt.14

Phasenmodelle

Schwerkranke, sterbende Menschen müssen sich mit all ihren Ängsten, Verlusten, Hoffnungen, vielleicht Schmerzen, dem drohenden Verfall ihres Körpers, entsprechenden Beeinträchtigungen und der Gewissheit, dass die verbleibende Lebensspanne begrenzt ist, auseinandersetzen.

Sterbeforscher (Thanatologen) untersuchen, ob und wie sich sterbende Menschen mit dem Tod auseinandersetzen. Sie glauben, bestimmte Muster im Sterbeprozess von Menschen erkannt zu haben und beschreiben diese in Form von Phasenmodellen.

Der Psychiater A. Weisman beispielsweise beschreibt drei Phasen, die ein unheilbar Kranker vor dem nahenden Lebensende durchschreitet, der Psychiater, Verhaltens- und Sozialwissenschaftler E. Pattison beschreibt drei „große Abschnitte“ im Sterbeprozess, der Krankenhausseelsorger H. Zielinski bestätigt die Phasen von Kübler-Ross, bezeichnet allerdings nach seinen Erkenntnissen die letzte Phase als religiöse oder metaphysische Phase. Der Arzt A. Kruse vertritt die Ansicht, dass es ganz unterschiedliche Verlaufsformen in der Auseinandersetzung mit dem Sterben gibt, die von der Biografie des Sterbenden mit beeinflusst werden.15

Elisabeth Kübler-Ross

Die internationale Hospizarbeit wurde nachhaltig durch die Arbeit der in der Schweiz geborenen und später in den USA lebenden Psychiaterin Dr. Elisabeth Kübler-Ross beeinflusst. Sie gilt als Begründerin der Sterbeforschung, da ihre Beobachtungen den Grundstein der heutigen Erkenntnisse über die Situation Sterbender darstellen. Ihr Ziel war es, von Sterbenden zu lernen, welche Hilfe sich Sterbende erhoffen und wie man mit ihnen umgehen soll. Zu diesem Zweck führte sie Interviews mit unheilbar kranken Menschen. In diesen Gesprächen wurden die Betroffenen direkt auf ihre Gefühle und Gedanken zu Sterben und Tod angesprochen. Von 200 Patienten nahmen 198 diese Möglichkeit zur Aussprache an. Aus dieser Arbeit entstand 1969 ihr erstes Buch – „Interviews mit Sterbenden“. Sie formulierte darin die „Stadien des Sterbens“ (Verleugnen, Zorn, Verhandeln, Depression, Zustimmung). Die Kernbotschaft von Kübler-Ross an „Begleiter“ in ihren unzähligen Vorträgen und Workshops rund um den Globus war, dass die Helfenden zuerst ihre eigenen Ängste und Lebensprobleme so weit wie möglich klären müssen, ehe sie sich Menschen am Lebensende hilfreich zuwenden können. Für ihre Leistungen zwischen 1974 und 1996 wurden Kübler-Ross 23 Ehrendoktorate an verschiedenen Universitäten und Colleges verliehen, sie erhielt über 70 nationale und internationale Auszeichnungen und wurde 1999 vom Nachrichtenmagazin TIME zu den „100 größten Wissenschaftlern und Denkern“ des 20. Jahrhunderts gezählt. Dr. Kübler – Ross verstarb 78-jährig im August 2004 in Scottsale im US-Staat Arizona.

Kübler-Ross vertrat die Ansicht, dass der sterbende Mensch verschiedene Phasen durchleben muss, um seine Krankheit und endlich seinen Tod zu begreifen. Sie entwickelte aufgrund ihrer Beobachtungen bestimmter Verhaltensmuster Sterbender ihr berühmtes Fünf-Phasen-Modell, das wohl jedem professionell Pflegenden ein Begriff ist. Demnach durchlaufen sterbende Menschen folgende Phasen im Wechsel:

Die Phase der Verweigerung: „Nein, ich nicht“. Kübler-Ross sagt, Verweigerung ist wichtig und notwendig, denn sie trägt dazu bei, für das Bewusstsein des Patienten die Erkenntnis zu lindern, dass der Tod unvermeidlich ist.

Die Phase von Zorn und Ärger: „Warum ich?“ Zorn ist nach Kübler-Ross nicht nur erlaubt, sondern unvermeidlich. Die Tatsache, dass andere gesund und am Leben bleiben, während er oder sie sterben muss, stößt den Patienten ab. Gott ist ein besonderes Ziel für diesen Zorn. Er wird als derjenige angesehen, der das Todesurteil nach Gutdünken verhängt.

Die Phase des Verhandelns: „Ja, ich, aber … “ Patienten akzeptieren die Tatsache des Todes, versuchen aber, über mehr Zeit zu verhandeln. Meist verhandeln sie mit Gott – sogar jene Menschen, die zuvor nie mit Gott gesprochen haben.

Die Phase der Depression: „Ja, ich“. Zuerst trauert der Sterbende um Vergangenes, dann tritt er in ein Stadium der „vorbereitenden Trauer“ ein und bereitet sich auf die Ankunft des Todes vor.

Die Phase der Hinnahme: „Meine Zeit ist nun sehr kurz, aber das ist in Ordnung so“. Kübler-Ross beschreibt dieses endgültige Stadium als „nicht ein glückliches Stadium, aber auch kein unglückliches. Es ist ohne Gefühle, aber es ist keine Resignation, es ist vielmehr ein Sieg“.16

Der Tod schockiert uns nicht, solange wir darüber nur in einem Buch lesen oder ihn philosophisch vom bequemen Sessel aus diskutieren. Die Gefühle der Machtlosigkeit und Isolierung entspringen unserem ganzen Wesen und nicht bloß unseren intellektuellen Vorstellungen. Das Problem des Todes erreicht im Allgemeinen nicht das Zentrum unseres Seins. Nur wenn es „mein“ bevorstehender Tod oder der bevorstehende Tod von jemandem ist, den ich liebe, spüre ich den schmerzenden Stich des „Hungers nach Leben“. Die Seele dessen, der von seiner Anhänglichkeit ans Leben gefoltert wird, liegt in Qualen; diese Foltern gehen durch unser ganzes Sein und lassen uns in der einen Minute bis ins Herz erschauern und im nächsten Moment in Fieberschweiß ausbrechen. Das ist unser verzweifelter Kampf: uns am Leben festzuklammern, während wir über den Rand des Todes gleiten. Hier liegt das Selbst im Kampf mit dem Nicht-Selbst. Die konkrete Möglichkeit unseres eigenen unmittelbar bevorstehenden Todes ist ein derartiger Schock, dass unsere erste Reaktion das Verleugnen sein muss. 17

Phasenmodelle erscheinen plausibel, keines von ihnen liefert allerdings immergültige Regeln. Die Modelle können Pflegenden und Sterbebegleitern zum grundlegenden Verständnis von Abläufen dienen, denn Sterben ist in jedem Fall als individuell zu betrachten. Elemente der Phasenlehren können aber sehr gut genutzt werden, um Sterbende und ihre Bedürfnisse besser verstehen zu können.

Herr P. – Ein langer Kampf

Es ist 18.45 Uhr. Ich sitze aufgewühlt, müde und doch gleichzeitig hellwach am Bett von Herrn P., der vor wenigen Momenten verstorben ist. Ich bin noch gar nicht in der Lage, die vielen Eindrücke dieses für mich sehr anstrengenden Arbeitstages, der größtenteils der Begleitung von Herrn P. gewidmet war, zu erfassen. An meinen Armen sind viele Abdrücke von den Fingernägeln meines Patienten zu sehen. Er hatte sich an diesem Tag, dem letzten seines Lebens, mehrmals aufgebäumt, sich mit aller Kraft in meinen Armen und Schultern festgekrallt und seine Fingernägel dabei tief in mein Fleisch gegraben. Die Abdrücke sind inzwischen ein bisschen angeschwollen, rot und die verletzte Haut brennt.

Ich denke nach. Heute war ein eigenartiger Tag in meinem Leben als Hospizschwester, denn Herr P. ging auf für mich ungewöhnliche Art mit seinem Sterben um. Er hat heute stundenlang verbissen, kraftvoll und stumm gekämpft, mit all seiner körperlichen Kraft, die er noch zur Verfügung hatte. Ich weiß aber nicht, ob er für oder gegen seinen Tod gekämpft hat. Ein solches Sterben hatte ich noch nicht miterlebt. Ich kann es noch gar nicht richtig begreifen, dass er wirklich gerade gestorben ist und bleibe daher noch einige Minuten an seinem Bett sitzen. Das Gesicht von Herrn P. wirkt jetzt endlich entspannt, so als hätte er nun seinen Frieden gefunden. Ich betrachte dieses Gesicht, das von schweißnassen Haaren umrahmt ist, während seine Hände noch in meinen ruhen. Nach einigen Minuten stehe ich auf, öffne die Vorhänge und die Tür zum Garten. Diese Handlung ist für mich symbolisch – die Seele ist nun frei und kann den Raum verlassen. Danach wasche ich ein letztes Mal das Gesicht von Herrn P. und kämme seine verklebten und verschwitzten Haare, ein letztes Mal lagere ich seinen ausgemergelten Körper, dann muss ich gehen. Mein Dienst ist gleich zu Ende und ich sollte schon seit einigen Minuten die Dienstübergabe an meine Nachtdienstkollegin machen. Eigentlich hatte ich um halb sieben meine Arbeit auf der Station beendet und wollte nur noch rasch die Pflegedokumentationen fertig schreiben, bevor ich die Dienstübergabe mache. Ich weiß nicht, warum ich dann doch noch einmal in das Zimmer von Herrn P. ging. Wahrscheinlich sollte es einfach so sein, dass er in meinem Beisein verstarb, nachdem wir diesen ganzen Tag miteinander durchgestanden hatten. Jetzt schiebe ich den Medikamentenwagen vor mir her und gehe über den langen Gang zu unserem Dienstzimmer, dabei treffe ich meine Kollegin vom Tagdienst. Sie ist völlig überrascht, als ich ihr sage, dass Herr P. gerade verstorben ist. Wir gehen gemeinsam mit der Kollegin, die Nachtdienst hat, nochmals in das Zimmer des gerade Verstorbenen und betrachten sein friedliches Gesicht. Wir sehen uns an und wissen, ohne es auszusprechen, dass wir erleichtert sind, dass Herr P. endlich sterben konnte.

Loslassen

Wenn ich festhalte,

bin ich gefangen, gelähmt,

erstarrt, energielos, blockiert

unfrei, ständig im Gestern und

dem Leben immer ferner.

Wenn ich loslasse,

bin ich gereinigt, befreit,

lebendig, voller Energie, offen,

zugänglich, im Jetzt, spontan

und so mitten im Leben. 18

Da ich Herrn P. während des ganzen Tages viele Stunden lang begleitet habe, rufe ich seine Ehefrau an, um ihr vom Tod ihres Mannes zu berichten. Sie weiß seit Wochen, dass „es“ jeden Tag soweit sein konnte, trotzdem bricht sie unter der Last meiner Worte fast zusammen. Ich spüre förmlich ihre Ohnmacht, ihre Fassungslosigkeit, ihren großen Schmerz und höre ihr hemmungsloses Weinen. Sie ist gerade bei Freunden, diese werden sie dann für ein letztes Abschiednehmen zu ihrem verstorbenen Mann bringen. Nach diesem aufwühlenden Gespräch rufe ich noch das Bestattungsunternehmen an und erledige die nötigen schriftlichen Arbeiten. Erst dann übergebe ich meiner Kollegin den Dienst. Kurz überlege ich noch, ob ich auf das Eintreffen der Ehefrau warten soll, entscheide mich aber dann doch dagegen. Der Tag ist für mich sehr lange und sehr anstrengend gewesen, er hat mich viel Kraft gekostet. Also gehe ich jetzt endlich nach Hause, denn ich weiß nicht, ob ich jetzt in der Lage wäre, auch noch die Ehefrau in ihrem Schmerz zu begleiten. Ich möchte das ganz einfach nicht mehr. Ich denke, ich habe für heute mehr als genug getan. Meine Reserven sind erschöpft. Erst beim Heimfahren wird mir bewusst, dass ich noch immer aufgewühlt und auch total überdreht bin. Ich laufe in gewisser Weise auf Hochtouren. Mein Körper ist sehr müde nach mehr als dreizehn Stunden Dienst, aber meine Gedanken galoppieren wild durcheinander. Zuhause schenke ich mir ein Glas Prosecco ein und setze mich alleine eine Weile in den Garten. Ich will zur Ruhe kommen, versuchen zu entspannen und nachdenken. Außerdem will ich im Moment nichts hören, auch nichts von meinen Angehörigen, die meinen momentanen Zustand nicht verstehen könnten. Ich lasse den Tag nochmals Revue passieren und denke auch an die letzten Wochen, während derer wir Herrn P. auf unserer Station betreuten.

Herr P. war Mitte 50, ein kleiner drahtiger Typ mit sonnengebräunter Haut und wilden Locken. Er hat in seinen jungen Jahren viel von der Welt gesehen und sich vor einigen Jahren mit seiner Frau in ein ruhiges, naturverbundenes Leben abseits vom lauten Leben einer Großstadt zurückgezogen. Die beiden hatten sich bewusst für ein Leben in der Natur und der Ein-, oder besser gesagt, Zweisamkeit entschlossen. Dann kam es, völlig überraschend für die beiden, zu der niederschmetternden Diagnose Krebs in weit fortgeschrittenem Stadium. Herr P. nahm diese Diagnose zur Kenntnis und lehnte jede Therapie ab. Er verließ das Krankenhaus und ging nach Hause. Einige Wochen wurde er während seiner schweren und rasch voranschreitenden Krankheit zuhause betreut, dann, als er und seine Frau mit dieser Situation nicht mehr zurechtkamen, entschloss er sich, zu uns ins Hospiz zu kommen. Herr P. war zu dieser Zeit noch sehr gesprächig und erzählte gerne aus seinem Leben. Seine Frau besuchte ihn täglich und so konnten sie viel Zeit gemeinsam verbringen. Sein Zimmer hat Herr P. kein einziges Mal verlassen. Wir Pflegenden konnten das kaum verstehen, da er ja so naturverbunden war und sich früher immer gerne im Freien aufgehalten hatte, wie er selbst erzählte. Natürlich respektierten wir seinen Wunsch. Sein restliches Leben, oder richtiger gesagt, sein wochenlanges Sterben, geschah also in seinem auf seinen Wunsch abgedunkelten Zimmer. Herr P. wollte nichts mehr wissen von dieser Welt da draußen. Er konnte es nicht ertragen, diese sonnendurchflutete Welt zu sehen, an der er nicht mehr teilhaben konnte oder wollte. Es war gerade Frühling, viele Pflanzen blühten bereits in den prächtigsten Farben, es lagen wunderbare Düfte in der Luft, und die Vögel zwitscherten den ganzen Tag fröhlich vor sich hin. Aber Herr P. wollte all dies weder sehen noch hören. Er wollte nur noch in seinem Bett liegen und seine Ruhe haben, und wir als Pflegende mussten das so annehmen. Herr P. durchlebte alle Phasen seines Sterbens, die uns Sterbebegleitern nur allzu bekannt sind, sehr intensiv. Die Phase des Annehmens erreichte er allerdings scheinbar erst unmittelbar vor seinem Sterben. Manchmal war er sehr wütend, weil er todkrank war, ein anderes Mal war er voller Aggression, manchmal wünschte er sich, endlich zu sterben und gleich darauf sprach er davon, wieder gesund werden zu wollen. An manchen Tagen hatte er viel zu erzählen, an anderen durften wir ihn kaum ansprechen. Seine Stimmungen wechselten häufig innerhalb von Minuten. Gerade noch war er fröhlich und lachte, im nächsten Moment war er verzweifelt oder wütend. Ich hatte noch niemals zuvor einen Patienten betreut, der in einem solch riesigen Zwiespalt von Gefühlen und Emotionen gefangen zu sein schien.

Für uns Schwestern wurde die Pflege dieses Patienten bald zu einer großen Herausforderung. Herr. P. begann rund fünf Wochen vor seinem Tod alle pflegerischen Handlungen vehement abzulehnen. Er wollte weder gepflegt noch gelagert werden, er wollte seine Ruhe haben, aber dabei nicht alleine sein, er wollte sprechen, aber nichts hören, er wollte nichts mehr essen, er wollte keinerlei Ablenkung wie Radiohören oder Fernsehen, er wollte keinesfalls sein Zimmer verlassen, er wollte bald niemanden außer seiner Frau sehen. Er lehnte ehrenamtliche Besucher ab, bald durften wir in seiner Gegenwart nur noch flüstern, und einige Tage vor seinem Tod durften wir ihn nicht einmal aufwecken, wenn wir ihm die verschriebenen Medikamente spritzten.

Herr P. hatte sich in die Vorstellung verrannt, dass man, wenn man sterben will, sich nur einfach hinlegen und die Augen schließen muss. Bestimmt gibt es Menschen, bei denen es so oder ähnlich funktioniert, aber üblicherweise geschieht Sterben, so wie ich es schon unzählige Male hier im Hospiz miterlebt habe, doch etwas anders. Ein menschlicher Körper hält nämlich unglaublich viel aus, viel mehr, als man manchmal glauben könnte.

Jedenfalls wollte Herr P. plötzlich nichts mehr essen, verlangte nach immer höheren Dosen von Schmerz- und Schlafmitteln und wollte möglichst rasch „hinüberschlafen“. Bei diesem Vorgang wollte er von niemandem gestört werden. Uns Schwestern ertrug er vermutlich nur deshalb, weil es nicht anders ging. Wir alle, das sagte er manchmal, standen für den Tod, vor allem seinen Tod. Wir hatten in seiner Vorstellung nichts mit dem Leben da draußen zu tun. Trotzdem mochte er uns auf seine sehr spezielle Art, denn er wusste, dass er sich auf uns verlassen konnte, dass wir für ihn da waren, auch wenn er sich „schlecht“ benahm, wie er das nannte. Manchmal entschuldigte er sich auch und bat um unser Verständnis. Schließlich, so sagte er immer, liege er ja im Sterben und da könne man sich schon manchmal etwas seltsam benehmen. Wenn wir sein abgedunkeltes Zimmer betraten, lag er meist bewegungslos da und hatte über seine Augen ein Tuch gebreitet, damit er nichts mehr von dieser Welt sehen musste. So wollte er sterben. Zumindest sagte er das oft. Manchmal sprach er davon, wie ungerecht dieses Leben sei und wollte es dann doch wieder zurückhaben, dieses Leben.

Wir gingen im Team mit dieser für uns alle doch eher ungewöhnlichen und auch belastenden Situation so um, dass während jedes Tagdienstes nur noch eine Schwester zu ihm ins Zimmer ging, um sich um ihn zu kümmern. Herr P. konnte so manches Mal überaus fordernd sein und ließ häufig seinen Frust mit Worten an seiner Frau und auch an uns Pflegenden aus. Der Umgang mit ihm war meist nicht einfach. Es gab Tage, an denen wir gemeinsam lachten und auch solche, an denen er uns Schwestern mit seinem Verhalten an unsere Grenzen brachte.

An seinem Todestag war ich für seine Pflege zuständig. Morgens erhielt er von mir seine Medikamente, danach durfte ich ihn nach einigem Überreden waschen, sein Bett frisch beziehen und bequem lagern. Zu diesem Zeitpunkt erweckte sein Zustand bei mir nicht den Eindruck, dass dies sein letzter Tag sein würde. Herr P. war nach seinen Angaben schmerzfrei und hatte nur ein bisschen Probleme mit dem Abhusten. Am späteren Vormittag besprach er mit unserer Ärztin noch die laufende Medikation und ruhte sich danach aus. Ab mittags verschlechterte sich sein Zustand rapide. Er produzierte immer mehr Schleim, den er kaum abhusten konnte, und bekam anscheinend Schmerzen. Er sprach plötzlich kaum noch verständlich und wurde sehr unruhig. Bei einer neuerlichen Visite reagierte unsere Ärztin sofort und verabreichte die nötigen Medikamente. Herr P. wurde wieder ruhiger und schlief ein wenig. Am frühen Nachmittag spitzte sich die Situation zu. Der Patient wurde immer unruhiger, ständig fuchtelte er mit seinen Armen durch die Luft und begann damit, sich jedes Mal an mich zu klammern, wenn ich bei ihm war. Seine Worte waren inzwischen nicht mehr zu verstehen. Wieder kam unsere Frau Doktor und wir besprachen, was zu tun sei. Es war unser Ziel, dass Herr P. möglichst schmerz- und angstfrei sterben konnte. Es war nun abzusehen, dass sein Tod innerhalb kurzer Zeit, vielleicht sogar innerhalb der nächsten Stunden eintreten würde. Am späteren Nachmittag war ich fast ständig im Zimmer von Herrn P. Manchmal hielt ich ihn wie ein Baby in meinen Armen, während sich sein Oberkörper aufbäumte und er mit weit geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen seine Fingernägel mit aller Kraft in meine Arme bohrte. Es waren auch für mich schlimme Stunden, denn ich konnte nichts anderes mehr für diesen Mann tun, als da zu sein und diese Stunden mit ihm gemeinsam überstehen. Das Gesicht des Sterbenden war nun meist zu einer Fratze verzerrt und ich konnte nichts gegen seine Unruhe tun. Häufig musste ich seinen Körper lagern, damit er es halbwegs bequem hatte. Kurz vor 18.00 Uhr begann sich Herr P. endlich zu entspannen und ruhiger zu werden. Ich verließ müde und abgekämpft sein Zimmer, um noch rasch zu meinen anderen Patienten zu gehen und danach die notwendigen schriftlichen Arbeiten zu erledigen. Kurz darauf hatte ich das Gefühl, ich müsste nun doch noch einmal zu Herrn P. gehen. Leise betrat ich sein Zimmer und setzte mich neben sein Bett. Er lag nun völlig entspannt und ruhig da. Ich wusste plötzlich, dass er sehr bald, vermutlich innerhalb der nächsten Minuten, versterben würde, also nahm ich wieder seine Hände in meine und blieb bei ihm sitzen. Ich sagte ihm, dass ich ihn nicht alleine lassen würde und er keine Angst haben müsse. Bald darauf hörte das Herz von Herrn P. für immer auf zu schlagen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte er nun endlich seinen Frieden gefunden. Der Kampf, sein Kampf, war nun endlich ausgefochten.

Heute, einen Tag nach dem Versterben des Herrn P. sitze ich hier und schreibe diese Zeilen. Ich habe Nachtdienst und nutzte die Zeit zwischen meinen Rundgängen auf der Station und den üblichen Routinearbeiten dafür. Ich bin froh und auch dankbar, dass ich den gestrigen Tag überstanden habe und dass ich heute niemandem bei seinem Sterben beistehen muss. Dafür würde mir im Moment die nötige Kraft fehlen.

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23 aralık 2023
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