Kitabı oku: «80 Jahre danach in der schönen neuen Welt», sayfa 4

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Kapitel 2 – Große und kleine Wahrheiten

An diesem Morgen hatten es die zwei Klassenbetreuerinnen schwer. Die dreißig Kinder der zweiten Schulklasse waren viel unruhiger als sonst. Sie beratschlagten sich kurz, ob sie den Klassenausflug in die Innenstadt nicht besser abbrechen sollten. Die Lehrerin war dafür, die Erzieherin dagegen. Dann stimmte die Lehrerin dem Vorschlag zu, den Kindern ein weiteres halbes Gramm Isodol zu geben und sie vor den Bankentürmen für eine halbe Stunde abzusetzen, wo sie wahrscheinlich wie gebannt auf die gigantischen Großmonitore starren würden. Es begann gerade eine Nachrichtensendung. Einer Ansprache eines Weltratspräsideten folgten Sportmeldungen. Dann kamen Berichte aus den Betrieben. Das interessierte auch die beiden Klassenbetreuerinnen, weil sie sich ausmalten, wie ihre Zöglinge eines Tages ihren Alltag im Beruf ebenso schön schildern würden, wie es diese Krankenpflegerin gerade tat. „Wir konnten die Überlebensquote der Eingelieferten in diesem Jahr auf zweiundachtzig Prozent erhöhen. Bei der auf vier Wochen verringerten maximalen Verweildauer in den Kliniken ist das die beste Effizienz, die wir jemals erreicht haben. Ich bin stolz eine Dreierin zu sein.“

Die Dreier-Kolleginnen sahen sich zufrieden an. „Es wird alles besser, wie schön!“, meinte die Eine.

„Ja, darauf ist Verlass, es wird immer alles besser“, stimmte die Andere zu. Sie waren rundum zufrieden, konditioniert auf positive Nachrichten aus der Gesellschaft mit Glücksgefühlen zu reagieren.

Das heutige Thema von Professor Wankels Vorlesung hieß, „Geschichte der Welt – für Zweier Erstsemester.“ Arnold Wankel mochte die Zweier: Sie fragten so einfach, dass er bereits vorher wusste, an welchen Stellen seiner Vorlesung sie welche Frage stellen würden. Nicht, dass es ihnen an Intelligenz mangeln würde, schließlich war ihre Intelligenz nicht negativ manipuliert, aber trotzdem war der Intelligenzquotient der Zweier-Studenten im Durchschnitt mehr als zwanzig Punkte geringer als sein eigener offizieller Intelligenzquotient. Ihre Gehirne waren, bis auf die Schulweisheiten und natürlich die der Nachtschule, noch nahezu leer und sie waren deutlich weniger wissbegierig als die Einser.

Arnold dachte viel über Lernvorgänge nach und wie er jeden, auch manchen trägen Zweier-Minus noch fördern konnte.

Vielleicht war seine persönliche Geschichte ausschlaggebend für diese Einstellung. Nachdem er, gemäß dem Gesetz zur Präzisierung der Kasteneinteilung, damals in der zehnten Schulklasse dem üblichen Intelligenz- und Assoziierungs-Test unterzogen wurde, musste er am nächsten Tag zum Schulbezirksleiter nach Darmstadt reisen, statt am täglichen Schulunterricht teilzunehmen. Der Schulbezirksleiter war ein erstaunlich alt aussehender Mann, augenscheinlich zwischen dreißig und sechzig. Das jugendliche Aussehen konnten nicht alle Bürger gleichermaßen behalten – etwa jeder Fünzigste sah mit den Jahren immer merkwürdiger aus. Dann sahen sie aus wie Jugendliche mit gewissen Schönheitsfehlern, was aber sonst nur bei Arbeitsunfällen in den niederen Kasten vorkam. Der Schulbezirksleiter wirkte unerwartet verlegenen, als er Arnold ansprach.

„Ich gebe zu, lieber Arnold, dass wir ein seltenes Klassifizierungs-Problem mit dir haben.“ Dazu konnte Arnold nichts sagen, darüber wusste er nichts und es war auch nicht seine Aufgabe. Er war aber sehr gespannt, was der Schulbezirksleiter ihm nun eröffnen würde. Erst Jahre danach dämmerte ihm, dass in solchen Fällen, natürlich zum Vorteil der Gesellschaft, ziemlich oft ein humanes Todesurteil ausgesprochen wurde. Friede seinen Mineralien, wen es trifft, auf dass sie unsere Agrarprodukte wirksam düngen. Doch dazu war er damals noch zu naiv, sein Gehirn war noch leerer als das seiner heutigen Zweier-Studenten. Wie konnte es auch anders sein, denn er war damals selbst noch einer.

„Nun, wie Sie wissen, sind Sie als Zweier-Minus entsiegelt wurden. Die üblichen Tests im siebten und zehnten Schuljahr sollen die Ressource Mensch für die Gesellschaft optimal nutzbar machen. Taylor sei gepriesen. So entwickeln wir uns, trotz hocheffizienter Normung, nur zu neunundneunzig Komma sieben Prozent in den vorgesehenen Bahnen. Auch nicht jeder entsiegelte Einser entwickelt sich wie vorgesehen. Das ist natürlich kein Mangel im System, denn es ist perfekt, es ist einfach die Umwelt. Eine Gehirnhautentzündung oder ein schwerer Schlag gegen den Kopf beim Zentrifugal-Ballspiel und schon taugt unser Einser nicht mehr zum normalen Einser, sondern nur noch zum Einser-Minus.“

Das hatte Arnold nicht gewusst, „Wie schön!“, konnte er nur entgegnen. Er überlegte, ob er einen Einser-Minus kannte, doch es fiel ihm nur sein Lehrer ein. Und der war nur ein Zweier-Plus, also eine Drittel Kaste niedriger als ein Einser-Minus und offensichtlich sehr glücklich damit. Er wusste nicht, worauf der Schulbezirksleiter hinaus wollte.

„Es könnte aber auch passieren, dass wir unseren Einser zum Zweier-Plus umkastieren müssen, wenn sein Gehirnschaden noch größer ist. Alles zu seinem Besten und zum Wohl der Gesellschaft. Ist der Schaden aber so groß, dass wir ihn um eine ganze Kaste herunter kastieren müssten, dann würden wir ihn lieber verwerfen, so ist es auch vorgeschrieben – auf dass er unsere Agrarprodukte wirksam dünge.

Arnold konnte mit dem Wort umkastieren nichts anfangen und wollte auch nicht nachfragen, aber es schien die Lösung des Problems zu bedeuten, ohne dass man zu Mineraldünger verarbeitet werden musste. Langsam dämmerte Arnold, dass ihm der Schulbezirksleiter mit diesem Beispiel seine eigene Situation zu erklären versuchte. Aber was war das Problem? Er hatte doch keinen Unfall oder eine schwere Erkrankung gehabt und überhaupt keine Schwierigkeiten dem Unterricht für Zweier zu folgen, so wie es gelegentlich anderen Zweier-Minussen manchmal passierte. Im Gegenteil, die Schule fiel ihm sehr leicht und machte ihm Spaß. Konnte es sein, dass er eine ihm unbekannte Krankheit in sich trug, die sein Gehirn beeinträchtigte, so dass er nun...? Nein, das war schwer vorstellbar! Sollte er zu einem Dreier-Plus oder sogar zu einem Dreier herunterkastiert werden? Wenn dem so wäre, was hätte er jetzt noch daran ändern können? Zweier waren noch zufriedener geprägt als Einser, so dass sich Arnold den leichten Anflug von Panik, den er spürte, gar nicht erklären konnte. Solche Panikattacken gab es bei Zweiern nicht. Aber vielleicht war das sein Problem. Er versuchte sich etwas einfallen zu lassen, was seine Lage jetzt noch verbessern konnte, auch wenn es gegen jedes gute Benehmen verstoßen würde, jetzt zu widersprechen. Doch es fiel ihm nichts ein.

„Nun, Arnold, wie soll ich es sagen...? Du wirst nicht mehr am Unterricht deiner Schulklasse teilnehmen...“

Arnold wagte jetzt die Unverschämtheit den Schulbezirksleiter zu unterbrechen „Aber ich war immer ein guter Schüler, ich habe viele Fleiß-Zertifikate und...und ich kann kein Dreier werden!“ Was hatte er gesagt? Er bereute es schon den Mund aufgemacht zu haben, denn an der Kasteneinteilung zu zweifeln, war ein schwerer Zweifel am System und konnte die Höchststrafe zur Folge haben. Vielleicht lag seine Panikreaktion auch daran, dass in den Nachtschulen und auch später im Schulunterricht nie die Möglichkeit erwähnt wurde, seine Kaste zu wechseln. Doch der Schulbezirksleiter war nicht böse, er lachte sogar freundlich.

„Nein, oh nein, mein lieber Arnold, du wirst doch kein Dreier. Musterschüler, der du bist. Du wirst hochkastiert.“

Arnold war erleichtert, er konnte sein Glück kaum fassen und das, obwohl alle Menschen so geprägt waren, dass sie mit ihrer Kaste oder der eines anderen keinerlei Statusstreben verbanden. Er würde ein Zweier werden oder womöglich ein Zweier-Plus.

„Wie ich schon sagte, kommt es nur bei null Komma drei Prozent unserer Bürger dazu, dass er in einer anderen Kaste weiterleben muss, als in der, für die er entsiegelt wurde. Du bist einer der ganz seltenen Fälle, der hochkastiert wird. Das passiert außerordentlich selten, denn meistens geht es für die Betroffenen bergab.“ Das letzte Wort betonte er etwas verächtlich, aber der Schulbezirksleiter strahlte ihn an und Arnold stellte sich schon vor, als Zweier oder Zweier-Plus aufzuwachsen.

Sein Gegenüber wurde aber erneut verlegen „Nun, wir sind nicht ganz sicher, wie wir dein Testergebnis deuten sollen. Dein Intelligenzquotient ist in den letzten drei Jahren enorm angestiegen, zu hoch eigentlich für einen Zweier. Aber noch irritierender sind für uns die Ergebnisse beim Assoziieren: Sie liegen so ungewöhnlich hoch, dass wir sie nicht auswerten können. Jeder Einser-Plus wäre froh über eine so ausgeprägte Assoziationsfähigkeit. Aber die wenigen Führungspositionen für die seltenen Einser-Plusse sind für die nächsten zwanzig Jahre verplant, so dass wir dich, auch wenn die Ergebnisse auf Höheres hindeuten, offiziell nur zum Einser machen können. Du gehst ab morgen auf die Einser-Oberschule deines Stadtteils.“ Damit war die peinliche und wahrscheinlich einmalige Rede des Schulbezirksleiters beendet.

Völlig verwirrt fuhr Arnold mit dem Zug nach Frankfurt zurück. Vor seinem Zimmer im Schülerwohnheim war inzwischen ein großes Paket abgestellt worden, das ein vollständiges Bekleidungssortiment in Einser-Grau enthielt. Seine Zweier-Kleidung durfte er ab sofort nicht mehr tragen und warf sie in den Entsorgungs-Schacht des Schülerwohnheims. Aus seinem Dreizehn-Quadratmeter-Apartment für Zweier-Schüler musste er noch am gleichen Tag in einundzwanzig Quadratmeter großes Apartment für Einser-Schüler umziehen. In der neuen Wohnung fand er ein dünnes Heft, das mit „Lebenslauf-Korrektur“ beschriftet war und das er vernichten sollte, nachdem er es gelesen und auswendig gelernt hatte. Am nächsten Tag konnte er noch nicht in die Schule, weil er den Schock seines Kasten-Wechsels mit zwei Gramm Isodol-Drei behandeln musste, dem Isodol, das häufig Schwerkranke und Sterbende zur Unterdrückung der Symptome bekamen.

BILD: Isodol-3-b490.jpg

An seinem dritten Tag als Einser konnte er dann dem Schulunterricht der Einser problemlos folgen. Sein neuer Lehrer, ein Einser-Minus, stellte ihn der Klasse vor, indem er seinen neuen Lebenslauf zitierte.

„Arnold hat schon früh seine Bestimmung als Universitätsprofessor für Einser und Zweier in die Gene gelegt bekommen. Wir sehen ihn hier heute zum ersten Mal, weil er für einen kastengerechten Umgang mit den Zweiern für längere Zeit den Unterricht in einer Zweier-Schule verfolgen durfte. Herzlich willkommen, Arnold!“ Ein kurzer Applaus seiner Mitschüler, aber keine weiteren Fragen, obwohl er von einer Einser-Klasse mehr Neugier erwartet hätte.

Die Lüge des Schulwechsels wegen seiner „speziellen“ Ausbildung wurde ohne weitere Fragen als große Wahrheit von seinen Mitschülern akzeptiert. Einem Einser-Minus-Mitschüler war Arnold sogar schon einmal begegnet. Nicht in der Schule natürlich, aber er hatte ihn häufiger im Osten Frankfurts beim Dauerlaufen am Flussufer des Mains gesehen und er musste dabei Arnolds Zweier-Trikot erkannt haben. Als er ihm jetzt unsicher zunickte, schien er ihn tatsächlich wiederzuerkennen. Er hielt sein damaliges Kastenzeichen sicher für einen Teil seiner Tarnung als Zweier. Man konnte offenbar auch Einser fast alles auftischen, wenn es nur gut garniert war. In einer gewissen, für Arnold noch nicht erfassbaren Weise hielt er sich schon jetzt seinen Einser-Klassenkameraden für überlegen. Warum durften sie nicht noch mehr über ihn wissen? Arnolds neuer Lebenslauf bot ihnen eine interessante Geschichte, vielleicht sogar ein Rätsel, dem auch Arnold auf keinen Fall selbst hätte widerstehen können, wenn ihm ein neuer Mitschüler auf diese Weise vorgestellt worden wäre. All das verwirrte ihn sehr und er musste noch über viele Wochen immer wieder seine Zweifel mit einem Gramm Isodol-Drei ersticken.

Als Einser-Professor hatte Arnold das Recht seine persönliche Akte fast vollständig zu lesen und heute hatte er spontan die Idee das zu tun. Im Datenverwaltungsgebäude seines Stadtteils nannte ihm die Mitarbeiterin am Empfang die Zimmernummer des Datenverwalters, der ihm seine Akte zeigen würde. Er wollte seine Akte aus reiner Neugier sehen, einen besonderen Anlass hatte er nicht. Vielleicht würde er endlich einen Hinweis finden, warum er seine Bürgerpunkte nicht erhöhen konnte.

Die Tür des Zimmers war angelehnt. „Hallo“, machte sich Arnold vorsichtig bemerkbar und schob sachte die Tür ganz auf.

„Kommen Sie herein, Herr Lehman ist gleich zurück, das heißt, wenn es ihm besser geht“, klang eine Stimme, etwas erstickt, aus dem Raum.

Arnold trat ein, sah aber niemanden im Zimmer.

„Hier unten!“, kam eine Stimme ganz hinten aus einer Ecke des Raumes. Dort war eine Wandverkleidung entfernt worden und er sah einen grün gekleideten Dreier-Techniker auf dem Rücken liegen, der mit dem Kopf hinter einer noch montierten Verkleidung mit Kabeln hantierte. „Er hat gestern im Park Obst gepflückt und gegessen. Vom Zierobst bekommt man üblen Durchfall, das bringen sie sogar uns Dreiern bei. Er muss bald zurück kommen...“

Es rumpelte hinter der Verkleidung. „So, fertig, jetzt wird der Monitor keinen Stromausfall mehr haben. Der Stecker war korrodiert - war sicher schon fünfzig Jahre alt.“ Arnold fand es faszinierend, wie sicher dieser Dreier sprach. Und das sogar, obwohl den Dreiern in den Brutflaschen einige Bereiche des Gehirns degeneriert werden.

Der Dreier drehte seinen Kopf nach oben zu Arnold. Er schaute in ein freundliches Gesicht und sah auch das Plus an seinem Overall, das ihn als Dreier-Plus kennzeichnete. Der Dreier strahlte Arnold fröhlich an. Er hatte Sommersprossen und krause rötliche Haare, was sehr selten war und Arnold zum ersten Mal an einem echten Mensch sah.

„Jetzt muss ich das nur noch kurz überprüfen.“ Der Dreier drückte einen Knopf am Monitor und einen weiteren am der Datenverarbeitungskonsole.

„Ach, der Zweier-Kollege von der Datenverarbeitung hat seine Konsole abgemeldet, ich brauche seinen Zugangscode, so sehe ich nur schwarz...“

Der Dreier wartete nicht ab, bis der Datenverarbeiter von der Toilette kam, sondern griff gleich zum Telefonhörer. „Hier ist Max Jung, ich repariere die Datenverarbeitung im Raum elf-vierundvierzig. Würden Sie mir bitte das Pult freischalten, damit ich meine Arbeit beenden kann? - Was? Ach so, das kann nur Herr Lehman selbst tun. Und der hat sich eben bei Ihnen abgemeldet und ist auf dem Weg nach Hause! Ganz toll und was nun? Ich habe noch zwei Termine im Zentrum und möchte morgen nicht wieder hier herkommen. Oder soll Herr Lehman das morgen selbst machen? - Aha, so, es ist meine Aufgabe - Na gut, danke – kein Problem.“ Der Techniker schien etwas verärgert über so wenig Kooperation zu sein.

Doch plötzlich grinste der Dreier Arnold verschmitzt an, „Na gut, dann eben auf meine Weise“, sagte er aber mehr zu sich selbst, als er sich wieder der Tastenkonsole zuwandte, einen Daten-Stick aus seiner Brusttasche hervorzog und ihn seitlich in die Konsole steckte.

Arnold setzte an: „Ohne Herrn Lehman werde ich dann wohl wieder...“

Max Jung hielt eine Hand in die Luft, um Arnold zu unterbrechen und ihn gleichzeitig zum Warten aufzufordern.

„Sehen Sie, er fährt hoch und... Ja, voller Zugriff. Wie kann ich Ihnen helfen? Geht es um eine Datenabfrage?“ In den Augen des Dreiers glänzte so etwas wie Triumph.

„Ja, aber dürfen Sie das?“

„Das weiß ich nicht, aber ich kenne keine Regel, die mir das verbietet. Ich kann ins System und jetzt bin drin. Verschwenden wir also keine Zeit. Vielleicht wurde vor einigen Jahren nur vergessen das zu verbieten, weil es noch nie vorgekommen ist. Aber, wie Sie sehen, es ist möglich. Wir müssten ja sonst beide morgen noch einmal hierher kommen, nur weil ein Zweier im Isodol-Rausch das Falsche gegessen hat und mit seinem Dünnpfiff hier den ganzen Betrieb zum Stillstand....“

„Dieser Daten-Stick?“

„Meine Erfindung! Hilft mir oft ungemein weiter“, sagte der Dreier mit einem stolzen Lächeln. Dieser Dreier war ungewöhnlich: Er war schnell, er war sprachgewandt und sogar seine Mimik war ausdrucksstärker als die vieler Zweier. Und...er war offensichtlich kreativ!

Einser brauchten eine gewisse Kreativität für ihre anspruchsvollen Berufe, ohne dass man dafür dieses Wort oder sogar das unsägliche Wort Fantasie benutzte. Man sagte dann lieber Assoziationsfähigkeit. Mancher Einser-Plus musste schon umgeschult werden, um seine überschäumende Kreativität zu kanalisieren. Zweiern gelang es hingegen recht gut, ihre bereits geringere Kreativität auf das notwendige Maß zu begrenzen. Doch Dreiern sagte man das ganz und gar nicht nach. Oft sind sie, obwohl immer bemüht, leicht lethargisch, nett, hilfsbereit, aber nicht die Schnellsten, weil bei ihnen einige Gehirnregionen gezielt geschädigt wurden, wie jeder weiß. In ihrem Fach sind Dreier aber stets sehr gut. Kraftfahrer, Gärtner, Hausmeister, Techniker, Kindergärtner - das sind die typischen Berufe, in denen die Dreier schon immer gut aufgehoben waren, und niemand zweifelte daran.

Wenn Arnold morgen nicht noch einmal in die Datenverarbeitungszentrale fahren wollte, kam ihm die Hilfsbereitschaft des Dreier-Technikers sehr gelegen. Erwartungsvoll saß dieser jetzt vor der Tastatur und wartete auf Arnolds Reaktion.

„Ja dann... Danke, dass Sie mir weiterhelfen. Ich bin Arnold Wankel, Professor an der Krupp-Universität, und möchte gern meine Akte sehen.“

Während er sprach, flogen die Hände des Dreiers über die Tasten und als Arnold den Satz beendet hatte, erschien schon die erste Seite seiner Akte auf dem großen Monitor. Anerkennend nickte er seinem Helfer zu.

„Der Monitor funktioniert offenbar wieder“, scherzte Arnold. Ein Witz, den ein Dreier kaum verstehen dürfte, doch dieser lachte ganz gelassen und stellte sich vor: „Max Jung, stets zu Ihren Diensten!“ Und er hielt Arnold recht dreist seine Hand zu einer Kasten übergreifenden Verbrüderung hin. Das war nicht verboten. Doch über zwei Kasten hinweg passierte es sehr selten und war kaum denkbar im Zusammenhang mit so einer, weder erlaubten noch verbotenen, Handlung. „Was soll's?“, dachte Arnold. Ihm gefiel die Situation und er schlug ein.

„Arnold Wankel, angenehm!“

„Ich geh' dann mal kurz für kleine Dreier, damit Sie in Ruhe lesen können“, wollte sich Max dezent zurückziehen und zwinkerte Arnold zu.

„Aber nein, Sie können das ruhig lesen, Sie haben doch ohnehin jederzeit Zugriff darauf mit Ihrem Wunderding“. Das ließ sich Max nicht zweimal sagen. Er zog sich einen zweiten Stuhl heran und setzte sich hastig neben Arnold. Das war mehr als ungewöhnlich, ein neugieriger Dreier! Zu Arnolds Überraschung schien er auch ebenso schnell lesen zu können wie er, denn fast gleichzeitig zögerten die beiden beim Lesen, schauten sich ungläubig wegen des Gelesenen an oder sprachen fast gleichzeitig „Ohs“ und „Ahs“ aus.

Selten war eine Personalakte länger als zwei Seiten, aber diese schien kein Ende zu haben. Sie waren im Text gerade bis zu Arnolds erstem Intelligenz- und Assoziations-Test im siebten Schuljahr gelangt. Er hatte damals, mit dreizehn Jahren, bereits einen Intelligenzquotienten von einhundertzweiunddreißig, mehr als der vieler erwachsener Einser, und trotzdem lautete die Empfehlung nur Aufstufung zum Zweier-Plus in drei Jahre, empfohlen. Nun war Arnold gespannt, was in der Akte drei Jahre später aufgezeichnet war. Er suchte die Stelle im Text, die begründete, warum er drei Jahre später zum Einser hochkastiert wurde.

Das Telefon klingelte. Etwas unsicher nahm Max den Hörer an.

„Ja? Den Raum abschließen? Sofort? - Ich muss noch die Wandverkleidung anschrauben. - Morgen weiterarbeiten? Nein, das geht nicht, hier liegen Stromleitungen offen, die muss ich noch sichern. Es dauert nur drei Minuten - Zwei Minuten? Gut, wenn es sein muss, reicht das auch. Wiederhör'n.“ Max schüttelte den Kopf.

Arnold war etwas verärgert, weil er nun morgen nochmal hierher kommen müsste, um den Rest zu lesen. Max grinste verschmitzt, es gab hier keine offenen Stromleitungen mehr, die Wandverkleidung hatte Max längst wieder verschraubt. Er zauberte einen zweiten Daten-Stick aus einer Tasche seines grünen Dreier-Overalls, steckte ihn seitlich an die Konsole, zog ihn dann wieder ab und reichte ihn Arnold.

„Hier, Hausaufgaben!“

„Ist das ein...? Das ist doch... Nein, nein, nein, die sind verboten, jede unerlaubte Datenspeicherung ist verboten, dafür haben wir die Datenzentren...“

„Und was denken Sie, warum Ihre Heimkonsole einen Eingang für diese Daten-Sticks hat?“

„Man kann sie nicht benutzen, weil... äh... Moment... weil niemand private Daten-Stick besitzt...“

„Doch, ich. Und Sie jetzt auch!“

„Wir müssen jetzt raus hier“, ermahnte der Dreier den Einser, eine grenzwertige Aufforderung, sehr dicht an der Grenze der Kasten-Konventionen. Aber Arnold dachte nicht daran, das zu melden. Der Dreier hatte ihm bereitwillig und unbürokratisch geholfen und die ganze Situation faszinierte ihn.

Kaum hatten sie den Raum verlassen, zischte die hydraulische Verankerung der Zimmertür und verwahrte die Datengeheimnisse damit sicher – mit Ausnahme des verbotenen Daten-Sticks in Arnolds Tasche. Die beiden gingen am Empfang im Erdgeschoss vorbei. Die Zweier hinter dem Schalter bemerkte nicht, das es Arnold war, den sie zuvor sinnlos in den Raum des erkrankten Mitarbeiters geschickt hatte. Max informierte sie, womöglich völlig sinnlos: „Schaden in Raum elf-vierundvierzig behoben, melde mich ab“. Dabei setzte er die typische oberflächliche Freundlichkeit eines normalen Dreiers auf, doch Max Jung war nicht normal, darüber war sich Arnold sicher.

„Sagten Sie, Sie müssen noch ins Zentrum?“, hakte Arnold nach.

„Ja, zwei Aufträge in der Uni. Die häufen sich dort, bin seit einigen Monaten fast nur noch dort im Einsatz.“

„Dann lassen Sie uns gemeinsam dort hinfahren, ich arbeite dort jeden Tag.“ Arnold unterdrückte den Reflex, seinen Beruf ausführlicher zu beschreiben, ein Automatismus, dem höhere Kasten gegenüber niedrigeren Kasten sonst immer nachkamen, damit jeder der beiden froh sein konnte, in seiner Kaste seinen erlernten Aufgaben nachgehen zu können.

Die beiden saßen in der fast leeren U-Bahn eine Weile schweigend nebeneinander und dachten über die Situation nach. Plötzlich begannen beide entspannt zu lachen. Arnold stieß den etwas kleineren Dreier mit dem Ellenbogen scherzhaft in die Rippen und meinte: „Ich bin Arnold. Zeigst du mir noch, wie man den Stift an der Konsole verwendet?“

„Ich bin Max. Aber das hast du doch eben gesehen, die Einser-Konsolen sind die gleichen, wie du sie auch an den Arbeitsplätzen findest. Der Eingang für den Daten-Stick ist bei deiner Heimkonsole an der gleichen Stelle. Vielleicht etwas verstaubt oder mit einer Verkleidung abgedeckt, aber technisch sind die Dinger alle gleich.“

Die Worte plätscherten aus Max nur so heraus und so ging das Gespräch angeregt weiter. Es waren zwei Dreier im Waggon, ganz vorne war ein Einser in hellgrau zu sehen und nicht weit entfernt in alt-rosa ein Zweier, der die beiden immer misstrauischer beobachtete, weil sie ihre Verbrüderung so offen zur Schau stellten. Es war nichts Unrechtes, nur ungewöhnlich, doch Arnold hatte den verbotenen Stift in der Tasche und wollte auf keinen Fall gemeldet werden.

Jetzt schaute Arnold den Zweier direkt an und rief ihm zu: „Isodol-Fünf! Wir testen Isodol-Fünf, noch in der Entwicklungsphase, noch nicht ausgereift.“

Sein neuer Freund improvisierte hervorragend. „Zu viel Iso-Fünf haut dich aus de' Strümpf'!“, lallte Max und umarmte dabei Arnold, der entschuldigend den Kopf schüttelte und durch das U-Bahnabteil rief: „Sie sehen ja: Nur etwas zu viel davon und dann passiert so etwas.“ Arnold griff an Max' Handgelenk und schien jetzt seinen Puls zu zählen.

Der Zweier lache zufrieden und auch die beiden Dreier schlossen sich automatisch dem Lachen an, obwohl sie nicht mitbekommen hatten, worum es hier ging. Nein, Max war keiner von ihnen, wusste jetzt Arnold. Aber was war er dann?

Kurz darauf schritten sie beide durch den Haupteingang ins Universitätsgebäude. Arnold fiel auf, dass Max den Weg über den Uni-Platz offensichtlich genossen hatte, statt in der typischen schamhaften Demut zu versinken, wie es andere Dreier beim Anblick großer Gebäude automatisch taten. Sein neuer Freund verabschiedete sich fröhlich mit den Worten: „Die Arbeit ruft! Wenn es heute weiter so rund läuft, habe ich eine Stunde früher Feierabend.“ Dabei ballte er triumphierend die Faust und verschwand schnell im Treppenhaus nach unten. Einem Dreier, der sich so auf seine Freizeit freute, war Arnold noch nie begegnet.

Weltratspräsident Hermann Pluto schritt in seiner Bibliothek zwischen einigen antik aussehenden Gegenständen hindurch. Offiziell durften Weltratspräsidenten wie er Antiquitäten zu Forschungszwecken besitzen. Nirgends stand genauer beschrieben, was diese Antiquitäten genau waren, sie wurden nur als ältere Gegenstände aus der Frühgeschichte beschrieben.

Hermann Pluto hatte für seine persönlichen Sammlerstücke einfach selbst die Gutachten ausgestellt, die sie zu Antiquitäten erklärten. Und davor hatte er sich selbst zum Gutachter für Antiquitäten ernannt. Seine Sammlung bestand zum größten Teil aus alten Büchern. Aber auch alte Karten, Globen und technische Antiquitäten befanden sich darunter. Er bewahrte sie hier in den riesigen Räumen des Dachgeschosses seiner Villa auf. Eine seiner Vierer-Bediensteten brachte ihm Tee.

„Oh, danke, bitte dort auf den Tisch. Ja, richtig, nicht auf die Bücher, richtig, sehr gut, sehr gut“, lobte er die kleine Frau in der erdfarbenen Dienerinnen-Uniform.

Sie erschrak etwas, als er sie direkt ansprach und ihr eine Frage stellte: „Kennt ihr Vierer inzwischen eine Schrift?“

Die kleine Person war irritiert und wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Doch, ich glaube, du verstehst meine Frage. Du fragst dich sicher, warum ich das wissen möchte, obwohl ich die Antwort kennen müsste. Wir haben ja alle gelernt, dass Vierer nicht wirklich lesen können und nur wenige von ihnen ein paar notwendige Wörter grob am Schriftbild erkennen. So sollte es sein, oder?“

„Ja, Herr Präsident“, bestätigte die Bedienstete eifrig, die ausgebildet war etwa einhundert Beschriftungen von Lebensmitteln zu lesen.

„Und doch denke ich, dass man Vierern vollständig lesen und schreiben beibringen kann. Was hältst du von der Idee?“ Beide wussten, dass allein der Versuch streng verboten war.

„Ich weiß nicht.“ Die Viererin hätte dies strikt verneinen müssen, wollte aber nicht unhöflich sein. Sie war es gewohnt, dass Pluto manchmal merkwürdige Fragen stellte, immer häufiger in letzter Zeit. Doch er war immer diskret gewesen und sie hatte noch nie den Eindruck gehabt, dass er sie aushorchen wollte oder die Absicht hatte ihr eine Falle zu stellen. So sensibel war sie sogar als Viererin. Er behandelte sie gut, viel besser als üblich, und seine Fragen waren eine Art von Neugier, die sie nur bei ihm kannte.

„Hast du nie versucht etwas aufzuschreiben?“ Wenn sie jetzt falsch antwortete, konnte sie allergrößte Schwierigkeiten bekommen. Sie könnte sogar nachkonditioniert werden.

Doch sie vertraute ihm und flüsterte zögerlich: „Ja, schon ein paar Mal.“

„Ich wusste es doch!!! Ihr Vierer seid viel schlauer, als man es euch ansieht. Vielleicht kann man daraus einmal etwas machen. Es kann einfach nicht gut sein allen Vierern das halbe Gehirn weg zu toasten.“

Die Bedienstete bemerkte, dass Pluto jetzt mehr zu sich sprach als zu ihr. Es war wieder nur seine Neugier gewesen. „Sehr gut, sehr gut“, hallte Plutos Stimme noch aus der Bibliothek, als die Bedienstete schon längst wieder die breite gewundene Treppe nach unten stieg.

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