Kitabı oku: «Wenn die Seelen Trauer tragen»

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Rose Hardt

Wenn die Seelen Trauer tragen

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Impressum neobooks

Kapitel 1

***

„Man muss die Sprache der trockenen Tränen sprechen können,

um sich von den Qualen der Seele zu befreien.“

***

Prolog

Vor einiger Zeit fielen mir alte Tagebücher wieder in die Hände. Einige entstanden in den Achtzigern und waren in Steno geschrieben, denn nur so konnte ich mir sicher sein, dass sie nicht gelesen wurden. Beim Durchstöbern meiner Aufzeichnungen stolperte ich über den Namen Jacob – wer war nochmal Jacob? Einen Moment hielt ich inne, ich ließ die Zeit von damals Revue passieren. Zuerst erinnerte ich mich nur vage an einen gutgekleideten jungen Mann den ich zufälliger Weise in einem Pub kennenlernte, wir plauderten bis in die frühen Morgenstunden. Danach trafen wir uns noch einige Male, wobei wir uns nie verabredet hatten – nein, das Schicksal schien unsere Begegnungen zu arrangieren. Und je länger ich darüber sinniere desto klarer war Jacob vor meinen Augen. Er war ein außergewöhnlich schöner junger Mann, seine Erscheinung wirkte ebenso exzentrisch wie melancholisch, seine Haut war von der Sonne verwöhnt und die schwarz-glänzenden Haare streng zurückgekämmt, in seinen dunklen, mit schwarzem Kajal umrandeten Augen, loderte ein Feuer das manchmal beim Erzählen einer seiner Lebensereignisse kurz erlosch. Damals fühlte ich mich auf eigenartige Weise zu ihm hingezogen – aber nicht wie eine Frau zu einem Mann – nein, es war, als ob wir uns schon ewig kannten.

Zwar bedurfte es einiger Mühe mein Steno zu entziffern, doch danach war mir jedenfalls klar, dass ein Teil seiner Biografie die Basis für einen Roman bieten würde. Jacob habe ich danach nie mehr gesehen. Man erzählte sich nur, dass er in den Achtzigern in Hamburg verstorben sei.

Reglos saß Nora da, ihre Beine waren ineinander verschränkt und wirkten von der unbequemen Sitzhaltung wie abgestorben. Seit einigen Tagen kreisten ihre Gedanken um den toten fremden Mann in ihrem Vorgarten. Erneut tauchten vor ihrem geistigen Auge die Bilder auf. Ein Anblick der sie seit dieser Zeit wie ein unliebsamer Schatten verfolgte; auch die Recherchen der Polizei, sowie die tagelagen Belagerungen von Reportern mit ihren unliebsamen Fragen: Ob sie den Toten kannte? Und warum er sich gerade in ihrem Vorgarten das Leben nahm?, waren mehr als nervenaufreibend. Und das merkwürdige war, dass sie selbst bei der Häufigkeit der Fragen verunsichert wurde, mit einem Male war sie gezwungen sich mit dem erstarrten Gesicht des Toten auseinanderzusetzen, und seit jenem Tag trat das Bild des Toten – der leblose Körper eines Mannes um die siebzig – immer wieder aus ihrem Gedächtnis hervor. Verzweifelt versuchte sie dann eine Verbindung zu ihrem Unterbewusstsein herzustellen, um ihn endlich, für sich, identifizieren zu können – aber es war nichts Verwertbares dabei, das sie hätte weiterbringen können. Lediglich schien ein vages Gefühl ihn zu kennen vorhanden – vielleicht, ja, vielleicht waren es aber auch nur die vielen Fragen die sie zu dem Gefühl hindrängten. Das Ärgerliche war, dass sie – als Romanschriftstellerin – ohne ihr Zutun plötzlich in den Mittelpunkt des Geschehens geraten war und somit für die Boulevard-Presse ein gefundener Leckerbissen darstellte. Eine Erkenntnis, die nach einigen Tagen Flucht in ihr auslöste. Sie wollte nur noch dem Unglücksort sowie einigen aufdringlichen Reportern, die schlimmer als hungrige Hyänen waren, entfliehen. Und so war es der zeitnahe Abflug der sie nach Jersey führte. Vielleicht lenkte sie auch das Schicksal dorthin! Wer weiß das schon, schließlich hatte alles im Leben seine Bestimmung, nichts geschah einfach so.

Seit nun mehr einer Stunde saß sie auf der Hotelterrasse in Saint Helier, sie philosophierte über ihr Leben und versuchte dabei ihre Gedanken von dem tragischen Ereignis in ihrem Vorgarten abzulenken. Sie hielt ein Buch über Lebensweisheiten in Händen, und jeden Satz den sie las, nahm sie zum Anlass ihr eigenes Leben zu durchleuchten. Ihre letzte Liebe hatte ihr Herz stumm werden lassen und ihre Seele zum Trauern gebracht. Ach, wenn ich doch bloß diesen ganzen Seelenschmerz herausspeien könnte, dachte sie in Begleitung eines tiefen Seufzers. Gedankenverloren blickte sie auf, dabei fiel ihr Blick genau auf einen Geschäftsmann am Tisch gegenüber, auch er war in Zeilen vertieft, aber es waren keine Lebensweisheiten die ihn beschäftigten, sondern ein Börsenblatt – wie unschwer zu erkennen war. Hektisch schob er eine Ravioli nach der anderen in den Mund dazwischen spülte er immer wieder mit Wein nach, wobei er mehrmals seine Sitzposition änderte. Hinter ihm, dort wo am Morgen noch Ebbe war ruhte ein glänzendes Meer, darüber schwebten, fast ohne Flügelschlag, einige Möwen. Ein Bild der völligen Harmonie in der er, wie ein Fremdkörper saß und Unruhe verbreitete. Das Läuten seines Handys, sowie der schlechte Netzempfang veranlassten ihn schließlich seinen Platz zu verlassen – die Harmonie war wieder hergestellt. Doch nur kurz währte dieses Bild der Ruhe, denn eine Möwe empfand es als passende Gelegenheit einen Zwischenstopp einzulegen, um die restlichen Ravioli auf seinem Teller zu verschlingen. Beeindruckt von dem großen weißen Vogel, der es als Selbstverständlichkeit ansah seine gefräßige Gier zu stillen, beobachtete sie, ohne eingreifen zu wollen, das Schauspiel. Danach schwang er sich gestärkt und mit zwei kraftvollen Flügelschlägen, von denen sie noch den Wind in ihren Haaren verspüren konnte, davon. Handlungsunfähig, ja, immer noch wie gebannt von dem Unfassbaren, sah sie dem dreisten Vogel so lange nach, bis er sich im lichtgrauen Himmel aufgelöst hatte. Irgendwie faszinierend, dachte sie, ohne Scheu vor ihr, war er auf dem Nachbartisch gelandet um seinem natürlichen Trieb zu folgen. Gedankenverloren senkte sie ihren Blick und schlug die nächste Buchseite auf. – Ja, und wenn ich es mir recht überlege, so bin ich auch eigentlich gar nicht anwesend, dachte sie, eine Erkenntnis die sie traurig stimmte.

„Hallo Missus“, drang plötzlich eine männliche Stimme zwischen ihre trüben Gedanken, „hey, wer hat von meinem Teller gegessen? Waren Sie so hungrig?“

Wie aus einer anderen Welt entstiegen sah sie zu der Stimme hin, dann verharrte sie noch einen Augenblick in dieser Position, bevor es ihr möglich war zu antworten. „Nein, nein“, verteidigte sie sich dann mit abwehrenden Händen, wobei sie nun direkt in das fragende Gesicht des Mannes blickte, der noch vor wenigen Minuten am Nachbartisch saß und seine Ravioli schnabulierte. Im nächsten Moment kehrte die Erinnerung an die Möwe zurück, und der Gedanke daran brachte Nora zum Schmunzeln.

„Was ist so witzig“?, fragte er sichtlich erstaunt, woraufhin er unaufgefordert seinen durchtrainierten Körper auf die Sitzbank, gleich neben ihr, schwang. Sein geschäftsmäßiger Blick war zwischenzeitlich in ein spitzbübisches Lächeln gewechselt, seine sonnenverwöhnte Haut ließ das Blau seiner Augen noch intensiver erscheinen, der kurze blonde Haarschopf war glatt nach hinten gekämmt, und kleinere Fältchen um Mund- und Augenpartien wirkten äußerst sympathisch – wie sie bei genauerem Hinsehen feststellen konnte. Seine Augen huschten in rasanter Geschwindigkeit über ihr Gesicht, schienen es systematisch erfassen zu wollen, offensichtlich zufrieden mit dem was er sah, formte sich sein Mund zu einem breiten Grinsen, sodass strahlendweiße Zähne zum Mittelpunkt seines Gesichtes wurden.

Nora sah ihn verwundert an, und das erste was ihr durch den Kopf ging war: Will auch er nur seine Gier stillen? Wird er dich gleich mit Haut und Haaren verschlingen, sowie die gefräßige Möwe seine Ravioli? Sofort schaffte sie die gebührende Distanz zwischen ihnen und rutschte auf der Sitzbank etwas auf Abstand – was er nicht nur bemerkte, sondern sogleich auch kommentierte. „Oh, Entschuldigung, Missus! Ich vergaß mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Weinberg, Clemens Weinberg. Na, haben Sie nun von meinem Tellerchen gegessen oder nicht?“, gleichzeitig schweifte sein Blick über die menschenleere Terrasse.

Sie folgte seinem Blick, fühlte sich schuldig und geriet sogleich in Erklärungsnot. „Nein, nein“, verteidigte sie sich erneut, „es war nur eine hungrige Möwe … die … die“, stotterte sie, „die wohl die Gelegenheit ihrer Abwesenheit nutzte!“

Mit großen Augen und halbgeöffnetem Mund sah er sie fragend an.

Im gleichen Augenblick wurde ihr bewusst, wie unglaubwürdig ihre Geschichte klingen musste. Aus Verlegenheit hielt sie ihm die Hand zum Gruß entgegen, und sagte: „Ich bin … ich meine, mein Name ist Nora Goldmund“, leichte Röte überzog nun ihr Gesicht.

„Sieh an, sieh an, das Goldmündchen war hungrig und glaubt nun, es könne mir die Geschichte einer gierigen Möwe auftischen!“, bemerkte er, wobei er ihre Hand zwischen seine Hände nahm und ihr ein verführerisches Lächeln schenkte.

„Nein, nein, ich schwöre, es war eine Möwe die Ihren Teller leerte!“ Wieso muss ich mich eigentlich verteidigen, ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Was will er von dir? Und überhaupt war ihr jetzt diese Anmache zu blöde – und einer ihm völlig fremden Frau gleich einen Kosenamen zu geben fand sie mehr als nur fragwürdig – wenn nicht sogar respektlos, ja, unverschämt.

Zwischenzeitlich kam die Kellnerin mit ihrer Bestellung. Mit einem freundlichen Lächeln sagte sie: „Ihre Bestellung, Missus Goldmund: Ravioli, auf Rucola und geriebenem Parmesankäse. Bon Appetit.“

„Sieh an, da ist ja mein Essen wieder“, stellte er mit vorgespieltem Erstaunen fest. „Gebens Sie’s zu“, sagte er augenzwinkernd, „Sie hatten solchen Hunger, dass Sie meine Portion aufgegessen haben, und in der Hoffnung ich würde es nicht bemerken, bestellten Sie sofort wieder eine neue …“ Mit einem herausfordernden Lächeln stützte er lässig seinen Arm auf die Tischplatte, vergrub das Kinn in seiner Handinnenfläche und sah sie dabei herausfordernd an.

Nora war völlig perplex. Eigentlich sollte sie jetzt aufstehen und gehen, doch dann räusperte sie sich, schob den Teller mit einem kleinen Schubs zu ihm hinüber und sagte: „Hier … für Sie … Guten Appetit!“

„Wirklich? Sie wollen mir ihr Essen überlassen?“, fragte er mit vorgespielter Unschuldsmiene, dabei spitzte er seinen Mund wie ein Kind, das nicht wusste was es tun sollte.

„Ja, mir ist der Appetit irgendwie vergangen“, im gleichen Moment, und bei seinem Anblick, musste sie feststellen, dass er sie amüsierte. Ein Gefühl, dass sogleich ihre innere Anspannung ein wenig auflockerte – auch das seit Tagen gefestigte Bild des Toten rückte in den Hintergrund.

Mit einem Lächeln schob er den Teller wieder zurück, „nein, vielen Dank“, sagte er augenzwinkernd, „aber ich habe hinter der Glastür den großen weißen Vogel gesehen, der sich in unverschämter Weise über mein Essen hermachte. Eigentlich hätte ich es mir denken können – hier auf Jersey heißt es: Lass nie etwas Essbares unbeaufsichtigt im Freien stehen, denn eine Möwe ist immer in deiner Nähe die alles beobachtet.“

Erneut schob sie den Teller wieder zu ihm hin, „hier … bitte“, sagte sie, „Sie sind doch sicherlich in Eile. Sie dürfen gerne essen.“

Große blaue Augen sahen sie verzückt an. „Nur, wenn Sie mir versprechen mich heute Abend zum Dinner zu begleiten, dann nehme ich Ihr Angebot sehr gerne an?“

Einen Moment lag ein nachdenkliches Schweigen zwischen ihnen.

„Bitte“, flüsterte er in einem charmanten Ton, „sagen wir gegen neunzehn Uhr – hier im Hotel. In der Champagner Lounge! Ja? Und danach reserviere ich einen Tisch im Restaurant.“ – In seiner Mimik lag nun die ganze Überzeugungskraft eines Verführers.

Unschlüssig sah sie ihn an, im Schnelldurchgang ging ihr das dramatische Ereignis, sowie die Aufregungen der letzten Tage nochmals durch Kopf. Eigentlich hatte sie auf diese Art von Verabredungen so gar keine Lust, und außerdem stand ihr der Sinn nicht nach einem Flirt – oder was auch immer er von ihr wollte.

Ihre Unsicherheit schien er als Herausforderung zu interpretieren. Er neigte den Kopf etwas zu Seite und legte seinen ganzen Charme in sein Lächeln.

Einen Moment haderte sie noch. Sollte sie? Vielleicht würde eine Abwechslung ihr guttun, ja, sie auf andere Gedanken bringen? „Okay“, antwortete sie schließlich, „aber nur wenn Sie jetzt essen!“

Im gleichen Moment schob er mit dem Messer eine Ravioli auf die Gabel und ließ sie, mit einem Augenzwinkern, in seinem Mund verschwinden. Danach aß er in gleicher Manier weiter, als ob es keine Unterbrechung gegeben hätte.

„Sie müssen wissen, ich habe heute noch nichts gegessen – was soll ich machen“, entschuldigte er sich achselzuckend, danach schob er sich hektisch eine Gabel nach der anderen in den Mund. „Jedenfalls habe ich in einer halben Stunde ein wichtiges Meeting … und Geschäfte, Geschäfte mache ich niemals mit leerem Magen“, sagte er kauend. Nach einer Weile hatte er aufgegessen, und noch während er sich den Mund mit einer Serviette abtupfte, verlangte er nach der Rechnung. Beim Abschied sagte er: „Dann bis heute Abend, Goldmündchen“, er kam noch etwas näher an sie heran, so nahe, dass sie seinen Atem in ihrem Gesicht spüren konnte, augenzwinkernd flüsterte er: „ich habe eine Penthousewohnung gleich neben dem Viktoriapark, sie verfügt nicht nur über eine herrliche Aussicht, sondern auch über ein supergroßes King-Size-Bett! … Also bis dann.“ Dann griff er nach seinem Aktenkoffer und schlängelte sich mit seinem athletischen Körper geschickt zwischen der Bestuhlung der Terrasse hindurch. Auf der Türschwelle zur Hotellobby wandte er sich nochmals, und mit einem bestätigenden Lächeln, zu ihr um.

Sprachlos sah sie ihm nach. Was war das denn?, schoss es ihr durch den Kopf. Für wen oder was hält er sie? Für eine der sogenannten Wochenendfrauen? Frauen, die hier im Hotel und nur an den Wochenenden zu finden waren? Frauen, die auf kurze Abenteuer aus waren? Nein, das hätte sie jetzt nicht von ihm erwartet. Das war also sein Bestreben! Er wollte nur mit ihr in die Kiste! Jetzt ärgerte sie sich, dass sie auf seine blöde Anmache reingefallen war. „Na, da kannst du lange warten“, zischte sie ihm wütend nach.

Natürlich ging sie nicht zu dem vereinbarten Treffen, stattdessen ließ sie sich das Essen auf ihrem Hotelzimmer servieren. Und während sie aß, genoss sie die traumhafte Aussicht von der dritten Etage auf die Bucht von Saint Aubin. Für dieses Zimmer, mit einem gigantischen Ausblick, hatte sie noch einiges drauf zahlen müssen – aber, wie sie jetzt feststellen musste, war es jedes Jersey Pfund wert. Allein schon die Lage des Hotels war perfekt, alles war in nur wenigen Minuten zu Fuß erreichbar: ob nun die City von Saint Helier, der Jachthafen, oder die traumhafte Bucht von Saint Aubin, die bei Ebbe die ideale Gelegenheit für sportliche Aktivitäten bot – oder zu Abendspaziergängen bei traumhaften Sonnenuntergängen einlud.

Am nächsten Morgen war sie durch lautes Geschrei einiger Möwen erwacht. Sie blinzelte zum offenen Fenster und konnte gerade noch ein paar dieser graugefiederten Vögel erkennen, die dicht an ihrem Fenster vorbeischwebten. Sie blinzelte zur Uhr auf der Konsole – sechs Uhr, viel zu früh um aufzustehen, dachte sie, schlaftrunken vergrub sie ihren Kopf wieder unter der Bettdecke und versuchte nochmals einzuschlafen, doch sobald sie ihre Augen schloss, wanderten ihre Gedanken wieder zu dem dramatischen Ereignis in ihrem Vorgarten: erneut zog das Bild des Toten – der leblose starre Körper – vor ihrem geistigen Auge vorüber, ein Bild das langsam jede einzelne Gehirnzelle in ihrem Kopf zu aktivieren schien. Ach ihr gruselte jetzt, und an Einschlafen war nicht mehr zu denken. Und so beschloss sie an den Strand joggen zu gehen. Vielleicht war es ihr möglich sich freizulaufen, freizulaufen von allem was sie bedrückte, ja, sie innerlich bewegte.

Kurze Zeit später überquerte sie im Laufschritt die Victoria Avenue. An der Kai-Mauer stoppte sie, um sich eine erste Orientierung zu verschaffen. Zu ihrer linken Seite thronte die Elizabeth Castle, zur rechten lag eine menschenleere Bucht die nicht nur um Beachtung bat, sondern auf faszinierende Weise einlud die noch schlafende Landschaft zu erkunden. Ein kleiner befreiender Seufzer kam kaum hörbar über ihre Lippen. Die morgendliche Ruhe wirkte nicht nur entspannend auf ihren Körper, sondern schmeichelte gleichermaßen ihrer Seele. Horizont und Meer waren kaum voneinander zu unterscheiden – alles vereinte sich in einem violetten Morgendunst. Ein innerer Drang mit der Natur im Einklang zu sein, ja, sich im Laufen darin aufzulösen trieb sie die Stufen zum Strand hinunter. Zurzeit war Ebbe und der versiegelte Sandboden mit den geriffelten Spuren der Wellen erwies sich als optimale Laufqualität. Doch kaum hatte sie ihren Lauf-Rhythmus gefunden, gingen ihre Gedanken wieder auf Wanderschaft. Die Bilder des Toten drangen unverblümt in den Vordergrund, erneut sieht sie den leblosen Körper an der Buche hängen, sie sieht wie Polizeibeamte ihn unter großem Kraftaufwand abschnitten und den erstarrten Körper in den Sarg betteten – nein, es war vielmehr ein Pressen, auch hört sie wie der Reißverschluss des Totensacks mit einem lauten Zischlaut – der durch Mark und Bein ging – zugezogen wurde, gleichzeitig vernahm sie das Blitzlichtgewitter der Reporter, die sich wie eine Meute hungriger Hyänen hinter der Absperrung drängten, um dann das allerletzte Foto noch zu schießen. Verständnislos schüttelte sie darüber den Kopf, weil auch sie – ohne ihr Wollen – in ihre Schusslinie geraten war. Ganz deutlich hört sie noch ihre Fragen – Fragen, die sie so unvermittelt trafen, dass sie nur noch Reißaus nehmen konnte. Warum gab es für diese Presseleute kein Gesetz, das sie in ihre Schranken verwies? „Tsss … so etwas nennt sich dann Pressefreiheit!“, zischte sie. Wie oft wurden unschuldige Menschen durch falsche Interpretationen der Medien vernichtet! Fragen und Gedanken, die sie nur noch mit einem kräftigen Fußtritt in den Sand beantworten konnte. Ja, und weiß der Geier, sie ärgerte sich maßlos darüber, dass sie ungewollt zum Opfer wurde – ja, zur Gejagten, so dass sie die Flucht, die Flucht hierher nach Jersey, antreten musste. Ihr Laufschritt passte sich gemäß ihrer Wut an. Plötzlich blieb sie stehen, die Erinnerung an das Gesicht des Toten war wieder da – ja, das Gesicht hatte Ähnlichkeit mit einem Mann, der bei ihren letzten drei Lesungen zugegen war. Sie presste einen Moment die Hände vor ihre Augen, gleich so, als könnte sie das Bild festhalten – gewiss doch! Ja, er saß bei ihren letzten Lesungen in der hintersten Reihe – fast unscheinbar im Halbdunkel – als wollte er nicht gesehen werden. Aber wer war er? Ein abgewiesener Verehrer? Aber warum sollte er sich gerade in ihrem Vorgarten erhängen? – Nein, das ergab keinen Sinn. Auch wenn sich der ein oder andere Verehrer seit den Veröffentlichungen ihrer Bücher gemeldet hatte, so traten sie alle in irgendeiner Form in Erscheinung. Sie lief weiter und folgte in Gedanken den Spuren dieser Verehrer: jede einzelne E-Mail, auch handgeschriebene Zeilen versuchte sie gedanklich nachzuvollziehen, aber es war nichts dabei, das sie als krankhaft hätte deuten können – oder doch? Vielleicht sollte sie ihre E-Mails nochmals lesen, gegebenenfalls auch zwischen den Zeilen deuten. Mist, da fiel ihr ein, dass sie die Angewohnheit pflegte ihre E-Mails regelmäßig zu löschen. Somit dürften alle Mails vernichtet sein, folglich war es sinnlos sich weiter den Kopf darüber zerbrechen zu wollen.

„Guten Morgen Goldmündchen“, drang plötzlich eine gutgelaunte Stimme zwischen ihr Gedankenwirrwarr. „Ihnen ist schon klar, dass Sie mich gestern Abend versetzt haben!“, wobei er sie eindringlich von der Seite musterte, „aber zum Glück bin ich ja nicht nachtragend“, fügte er großzügig an. Anschließend joggte er, ohne sie zu fragen, neben ihr her, zwischendurch korrigierte er mehrmals seine Schrittfolge, um mit ihr im gleichen Rhythmus zu joggen.

Am frühen Morgen, ohne eine Tasse Kaffee getrunken zu haben, auf diese Weise angemacht zu werden – das ging gar nicht, dachte sie.

„Wie war noch gleich Ihr Name? Ach ja, Mister Weinberg! Nun, Mister Weinberg, um ganz ehrlich zu sein, die pubertierenden Anmachen eines alternden Playboys sind für Damen vielmehr eine Beleidigung, als eine Einladung“, sogleich erhöhte sie ihr Lauftempo um ihn abzuhängen.

„Meine Güte, sind wir aber mal empfindlich, das mit dem King-Size-Bett war ein Scherz … nichts als ein Scherz! Sie verstehen, Missus Nora Goldmund!“, rief er ihr nach.

Sie gab ihm keine Antwort, stattdessen rekonstruierte sie in Gedanken den gestrigen Gesprächsablauf. Vielleicht hatte sie ja wirklich überreagiert? Oder gar die Verabredung völlig falsch interpretiert? Vielleicht hätte sie auch schlagfertiger sein sollen! Gleichzeitig war sie verärgert darüber, weil sie wieder einmal die Schuld bei sich selbst suchte – ja, und das Sich-schuldig-Fühlen, war ein unliebsames Anhängsel aus Kindertagen. Während ihren Gedankengängen hatte er sein Lauftempo ebenfalls erhöht und joggte nun, als ob es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre, wieder neben ihr her. Zwischendurch korrigierte er abermals, und mit sichtlichem Vergnügen, seine Schrittfolge. Zuerst beobachtete Nora ihn nur aus den Augenwinkeln, dann wandte sie ihren Kopf abrupt um und warf ihm einen strafenden Blick zu.

„Uuuh … zum Glück konnte dieser Blick nicht töten, sonst wäre ich jetzt mausetot umgefallen“, scherzte er.

Momentan war sie nicht in der Stimmung ihm zu antworten. Ihre gute Laune hielt sich irgendwo versteckt, und die Erinnerung an den fremden Toten, schien ihren Humor ebenfalls verdrängt zu haben. Erneut sah sie zu ihm hin – Entschlossenheit lag in seiner ganzen Ausstrahlung, wie sie nun erkennen konnte. Ja, dieser unverschämte Kerl besaß auch noch die Dreistheit und lächelte ihr zu.

Und so liefen sie eine Weile nebeneinander her, und immer wenn sie zum ihm hinsah, lächelte er – er lächelte! Ja, aber wenn sie ehrlich war, dann war es ein offenes Lächeln, das sie mit zunehmender Laufzeit nicht nur versöhnlicher stimmte, sondern auch ein klein wenig ihre Neugier weckte. Eigentlich, dachte sie, mal abgesehen von seiner aufdringlichen Art, sieht er recht passabel aus. Wie alt er wohl sein mag? Fünfzig! Vielleicht etwas darüber – aber nicht viel. Nochmals sah sie zu ihm hin und dieses Mal nahm sie ihn genauer in Augenschein – was er natürlich bemerkte.

„Na, gefalle ich Ihnen?“, fragte er mit einem breiten Grinsen, wobei er gekonnt eine Pirouette drehte.

Clown, dachte sie, und lächelte in sich hinein.

„Sie sind ganz schön hartnäckig, wissen Sie das, Frau Goldmund!“, sagte er nach einer Weile.

„Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass sich Hartnäckigkeit auszahlt“, konterte sie.

Woraufhin er sie nur anstrahlte.

Außer ein paar verstohlenen gegenseitigen Blicken liefen sie schweigend nebeneinander den Strand entlang. Am Ende der Bucht, kurz vor Saint Helier, stoppte er, mit ausgestrecktem Arm verwies er auf eine schicke Wohnanlage gleich neben ihrem Hotel, „ich muss dorthinauf“, meinte er, „meine Zeit ist leider um. Es hat Spaß gemacht schweigend mit Ihnen zu joggen, Frau Goldmund, aber dennoch muss ich mich verabschieden … die Pflicht ruft“, dann drehte er sich um und hastete dem Treppenaufstieg der Kai-Mauer entgegen.

Ohne ihm zu antworten, sah sie ihm nach, dabei musste sie feststellen, dass seine Beharrlichkeit ihr Interesse geweckt hatte. Eine ganze Weile noch dachte sie mit einem Lächeln, sowie einem wohligen Gefühl in der Bauchgegend über ihn und seine dreiste Art nach. Jedoch mit zunehmender Zeit schlichen ihre Gedanken wieder zu dem Toten und zu einigen E-Mails ihrer Verehrern – die leider nur noch bruchstückhaft in ihrer Erinnerung vorhanden waren – und so sehr sie sich auch anstrengte, sie fand keine Verbindung zu dem Toten. Verärgert über ihre Gedächtnislücken, ihre missliche Lage, in die sie ohne ihr Zutun hineingeraten war – und überhaupt ihr ganzes bescheidenes Leben das nur noch so dahinplätscherte, erhöhte sie ihr Lauftempo, dabei dachte sie, du musst nur schnell genug laufen, dann gelingt es dir vielleicht ALLEM davonzulaufen – was leider, wie sie aus Erfahrung wusste, nur bedingt möglich war. Die Wahrheit war, danach waren ihre Energietanks leer und sie hatte keine Kraft mehr über ihr Leben nachzudenken.

Ein wenig später kam sie ausgepowert, sowie gedankenleer im Hotel an, nur diesem Mister Weinberg war es seltsamer Weise gelungen sich ein Plätzchen in ihrem Kopf zu verschaffen. Unbewusst pendelten ihre Gedanken immer wieder zu ihm hin, ja, sie entlockten ihr sogar ein Schmunzeln.

Am frühen Abend ging Nora unschlüssig in ihrem Hotelzimmer auf und ab. Sie überlegte ob sie zum Dinner ins Hotelrestaurant gehen oder sie doch lieber hier bleiben sollte – ach, vielleicht könnte sie im Restaurant anrufen und Sandwiches bestellen? Unentschlossen, nur mit Slip und BH gekleidet, blieb sie am Fenster stehen und sah hinaus. Und wieder einmal bewunderte sie den Ausblick aus der dritten Etage. Ja, sie fand ihn so grandios, dass er wie ein magischer Anziehungspunkt auf sie wirkte, sie nützte jede Gelegenheit um hinauszusehen, ob sie nun im Bett lag, beim Ankleiden war – ja, auch vom Badzimmer aus, war es ihr möglich einen Teilblick zu erhaschen. Verträumt schweifte ihr Blick über die fast menschenleere Bucht, in der nur noch vereinzelt Spaziergänger mit ihren Hunden unterwegs waren. Den ganzen Tag war es diesig gewesen, die Sonne war nur zu erahnen und eine melancholische Stimmung schien sich ganz allmählich auf alle Lebewesen zu übertragen. Auch die Möwen schienen weniger angriffslustig als sonst zu sein und dösten mit eingezogenem Kopf auf der Kaimauer vor sich hin. Während sie immer noch unschlüssig am Fenster stand, pendelten ihre Gedanken langsam aber zielsicher zu den Ereignissen der letzten Tage, und gerade als aus ihrer Erinnerung das Bild des Toten wieder hervorkroch, fühlte sie ein Beobachtet-Werden. Sofort fiel ihr Blick zur eleganten Wohnanlage gleich vis-à-vis. Auf der Dachterrasse einer schicken Penthousewohnung stand ein Mann der in ihre Richtung blickte – jetzt schien er jemandem zuzuwinken. Nora trat noch einen Schritt vor, um besser sehen zu können, dann musste sie feststellen, dass es ihr galt. Etwas irritiert hielt sie sofort die Gardinen vor ihren halbnackten Körper, und beim zweiten Blick erkannte sie schließlich dann diesen aufdringlichen Mister Weinberg. Er gab ihr irgendwelche Zeichen die sie aufgrund der Entfernung nicht so recht deuten konnte. Was tat er nun? Er hielt zwei Sektgläser empor und verwies anschließend mit der Hand mehrmals auf die Terrasse des Hotels.

„Ah, jetzt verstehe ich, ich soll auf die Hotelterrasse kommen – vergiss es“, zischte sie. Mit einem Ruck zog sie demonstrativ die Gardinen zu, gleichzeitig stellte sich ihr die Frage: Was will er eigentlich von dir? Warum ist er so aufdringlich? Nach einigen Minuten des Hin- und Herüberlegens wurde sie neugierig. „Also gut, ich komme!“, murmelte sie … außerdem wird dir etwas Abwechslung sicherlich ganz guttun, entschuldigte sie sofort ihre Entscheidung. Aber, mein lieber Mister Weinberg, wenn du jetzt glaubst, dass ich mich wegen dir in Schale werfe, muss ich dich enttäuschen. Bewusst griff sie nach einer dünnen khakifarbenen Sommerhose und zu einem farblich passenden Shirt dessen einzige Raffinesse ein geraffter Carmen Ausschnitt war. Während sie in ihre Ballerinas schlüpfte, betrachtete sie noch etwas kritisch ihr Aussehen im Spiegel. „Na, geht doch“, sagte sie, während sie rasch ihre rotblonden Haare zurechtzupfte. Dann trat sie noch etwas näher an ihr Spiegelbild heran. Nur ihre sonst so strahlend grünen Augen wirkten müde, irgendwie auch traurig. Na, ist ja auch kein Wunder bei all den Aufregungen!, dachte sie. Noch ein letzter prüfender Blick, und mit ihm kam wieder die Frage aller Fragen: Warum ist es dir trotz deines attraktiven Aussehens und deiner tollen Ausstrahlung nie gelungen einen Mann langfristig an dich zu binden? Ja, und ganz plötzlich war die Sehnsucht nach menschlicher Nähe, nach Geborgenheit wieder da – ja, das Bedürfnis nach Liebe, nach einem Menschen der sie liebevoll in die Arme nehmen und sagen würde: ich liebe dich. Einen Moment hielt sie inne, sie überlegte, wann sie diese drei kleinen Worte zuletzt gehört hatte, doch mit Entsetzen musste sie feststellen, dass alle – ja, alle die ihr einmal nahestanden, nur umschreibende Worte gebrauchten. Aber warum? Ob es wohl an ihr lag? Seit ihrer letzten großen Liebe – jedenfalls hatte sie geglaubt, dass es die große Liebe war – beschlich sie zuweilen der Gedanke, vielleicht doch mehr von einem Partner zu erwarten, als dass dieser zu geben bereit war. Dabei wollte sie doch nur geliebt werden, ja, nur geliebt! Plötzlich geschah etwas Sonderbares. Sie sah im Spiegel die blutjunge Nora – so wie sie vor dreißig Jahren aussah – sie sah in große Augen die ihr verängstigt entgegenstarrten. Für den Bruchteil einer Sekunde schoss ein Erinnerungsblitz durch sie hindurch: Ein Lichtstrahl durchbrach die Dunkelheit und mit ihm erschien eine Gestalt – aufsteigende Angst schnürte gleichzeitig ihre Kehle zu – und noch bevor sie den Erinnerungsblitz realisieren konnte, war er auch schon wieder erloschen. Leicht irritiert von dieser seltsamen Begebenheit, kreuzte sie intuitiv schützend die Arme vor ihrer Brust, dann sah sie wieder ihr Spiegelbild. Jetzt bloß kein Herztürchen öffnen, den aufkeimenden Seelenschmerz erst gar nicht beachten, ermahnte sie sich selbst – nur nicht sentimental werden, sonst musst du weinen und der Abend ist gelaufen.

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9783753188652
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