Kitabı oku: «Das Licht und der Bär», sayfa 3

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Der sterbende Yak

Eine der zentralen Verhaltensregeln des Buddhismus empfiehlt, sich des Tötens zu enthalten. Nicht, weil es ein Gott empfohlen oder befohlen hat oder das Leben nicht uns selbst gehört, sondern deshalb, weil normalerweise für jedes Wesen das eigene Leben das höchste Gut darstellt. Im Tibetischen Buddhismus wurde dieses Gebot so weit ausgelegt, dass man vom Umstechen eines Gartens oder Ackers Abstand nahm, weil man dabei ja einen Regenwurm zerteilen könnte …

Wenn man, von Tingri (Tibet) kommend, mit einem Allradfahrzeug in Richtung des Himalaya-Hauptkamms fährt (in diesem Falle zum sechsthöchsten Berg der Welt, dem Cho Oyu), dann gebietet irgendwann einmal ein kleiner, scheinbar unbedeutender Gletscher dem imperialistischen Größenwahn des chinesischen Kommunismus Einhalt.

Es ist ein kleiner, wenngleich bewegter Gletscher. Hier ist Schluss mit dem Straßenbauen, denn der kleine, unbedeutende Gletscher, der sich unauffällig aus der Nordflanke des Cho Oyu durch ein Moränental heranschiebt, kaum mehr als hundert Meter breit, schiebt jede Baumaschine, sei sie europäischer, amerikanischer oder chinesischer Herkunft, mit seiner Fließgeschwindigkeit von vielleicht fünfzig Metern im Jahr vor sich her und zermalmt sie in kürzester Zeit zu Brei. Hier also war das Ende der Straße, und von hier aus startete unsere kleine Karawane.

Der Gletscher hatte auf seinem langen Weg vom Fuß des Cho Oyu riesige Massen von Geröll und Erde zur Seite geschoben und als Randmoränen aufgetürmt. Auf einer dieser Seitenmoränen schlängelte sich nun unser schmaler Weg verheißungsvoll dem Berg entgegen. Kurzes, schütteres Gras zitterte sich unter der aufgehenden Sonne vom Tau trocken, und der Bergwind trug uns den Duft von Heilkräutern in die Nasen. Das friedliche Läuten von Yak-Schellen begleitete uns.

Wir hatten neben unserer nepalesischen Stammmannschaft, die aus Sherpas bestand, auch einige tibetische Nomaden dabei. Sie hatten die Yaks mit unseren Lasten beladen und trieben sie nun unter stetigem Pfeifen vor sich her. Über ihren nackten Oberkörpern trugen sie Schaffelle und am Gürtel mittelgroße Schwerter, eine Feuersteintasche mit Zunder und eine kleine Tasche mit Nähzeug. All dieses Pfeifen, Bimmeln und stete Dahinzuckeln ließ uns beinahe vergessen, dass diese Menschen nicht mehr Herren im eigenen Land waren, sondern unterjocht von Chinesen, die etliche Jahrzehnte vorher das beinahe schutzlose Land überfallen hatten.

Wir verbrachten die Nacht in den Zelten, die unsere Sherpas in einer einladenden Senke aufgeschlagen hatten, und am nächsten Tag bummelten wir vergnügt weiter über den Moränenrücken. An diesem zweiten Tag zogen Wolken über den Horizont, helle, ja durchdringend weiße Wolken, wie von innen beschienen und doch an ihren Rändern scharf gegen das schwarze Blau des Himmels abgegrenzt. Sie hatten die Formen von Schiffen und großen Köpfen und Tieren, und ich begriff, warum die Tibeter einen jahrtausendealten, vertrauten Umgang mit dem Universum pflegen.

Unser Freund Helge war schon etwas voraus, aber Maria Peters und ich gingen knapp hintereinander und blieben auch fast zeitgleich stehen, als wir unterhalb unseres Weges einen Yak liegen sahen. Er lag dort mutterseelenallein. Sein braungraues Fell hob sich kaum vom kurzen, dürren Gras ab, als wäre auch er aus der umgebenden Landschaft geformt. Maria und ich nutzten den Anblick, um eine kurze Pause zu machen und zu verschnaufen. Der Yak bewegte sich lange Zeit überhaupt nicht, er lag nur ergeben da, und da erkannten wir, dass mit dem Tier irgendetwas nicht stimmte. Dann bewegte es seinen Kopf, aber nur ganz wenig und wie unter großen Mühen, und wir dachten, dass es im Sterben läge, weil es von hier aus abgestürzt oder altersschwach oder anderweitig verletzt war. Schließlich setzten wir unseren Weg fort und errichteten am nächsten Nachmittag unser Hochlager auf ziemlich genau sechstausend Metern Höhe.

Von hier konnten wir fast eben zum Nangpa La blicken, jenem berühmten, vergletscherten Pass, über den etwa fünfhundert Jahre früher die Sherpas, aus Osttibet kommend, nach Nepal gezogen waren und sich dort auf immer niedergelassen hatten. Wir wussten, dass dieser Pass noch immer auf einer der wichtigsten Fluchtrouten der Tibeter lag, wenn sie ihr besetztes Heimatland verlassen wollten oder mussten. Und genauso wussten wir, dass – ähnlich wie einst an der Berliner Mauer – ein genereller Schießbefehl seitens der chinesischen Behörden diese Fluchtversuche vereiteln sollte und dass dieser Befehl auch befolgt wurde. (Fünfzehn Jahre später sollten alle Erwachsenen einer Gruppe hier, auf der Flucht, von mit Zielfernrohren ausgerüsteten Militärs erschossen werden. Es waren sechzehn Erwachsene. Ihre Leichen warf man in Gletscherspalten und ihre Kinder brachte man in staatliche chinesische Erziehungsheime. Das Massaker ereignete sich Ende September 2006 unter den Augen von Bergsteigern und Sherpafreunden und wurde sogar von einem bulgarischen Kameramann in einem Film dokumentiert. Aber die Medien unserer westlichen Welt waren zu feige, über den Vorfall zu berichten.)

Wir selbst erkundeten in den folgenden Tagen den Zugang zum Palung Ri, einem Siebentausender gegenüber des Cho Oyu, und während unser Freund Salami Dawa nach einem brauchbaren Pfad zwischen den großen Felsblöcken suchte und auf einen toten Tibeter stieß, der auf der Flucht vor der chinesischen Polizei hier heroben – in der scheinbar friedlichsten Gegend der Welt, auf sechstausenddreihundert Metern – den Tod gefunden hatte, erhielten wir anderen im Lager Besuch von drei jungen Männern.

Sie torkelten mehr, als sie gingen, und beim Näherkommen erkannte ich, dass sie schneeblind waren. Wir legten sie auf eine Isoliermatte, und ich brachte ihnen Dexagenta-Salbe in die Bindehautsäcke ein. Sie hielten ganz ruhig und bewegten sich nicht. Als ich ihnen jedoch sagte, sie sollten liegen bleiben, um wenigstens eine halbe Stunde zu schlafen, sprangen sie auf und sagten, dass die Salbe schon wirke. Ja, sie wirke schon – und sie könnten wieder sehen, und überhaupt wäre ihnen die Polizei auf den Fersen. Sie würden erschossen werden, sagten sie, wenn sie erwischt würden, und ließen sich nicht aufhalten. Gleich darauf hielten sie auf große Felsblöcke hinter dem Lager zu, mit deren Grau sie bald verschwammen.

Einige Tage später machten wir uns wieder auf den Heimweg. Wieder war der Himmel wolkenlos, und sein dunkles Blau umrahmte die Konturen der langsam kleiner werdenden, weiß schimmernden Berge. Bergab und talauswärts schlenderten wir leichtfüßig dahin, und der Wind trieb uns den Duft von Wacholder entgegen und ließ die stumpfen, graubraunen Gräser schwanken und ihre silbrigen Unterseiten blinken, als gäbe es noch eine andere, unbekannte Seite an ihnen. Nach fünf oder sechs Stunden Marsch hatten wir wieder die Stelle erreicht, wo wir eine Woche zuvor den Yak gesehen hatten.

Er lag noch immer da, den mächtigen Kopf auf die Seite gelegt. Aber er hatte die Augen geöffnet, und wir sahen, wie er im Wind die Lider schloss und wieder anhob. Man hatte ihm einen großen Ballen Heu vor die Nase gelegt und eine Schüssel mit Wasser hingestellt, aber das Tier schien nicht mehr die Kraft zu haben, sich daran zu laben. So saßen wir lange da, Maria und ich, unterhielten uns leise und fanden schließlich, dass hier doch ein Gnadenschuss dem Leiden ein Ende machen könnte. Aber dann wieder schwankten wir in unserer Meinung wie das Gras im Wind, denn der Anblick des Yaks bewegte uns selbst. Wir schwankten und schwankten zwischen der im christlichen Glauben gründenden Vorstellung der Gnade, der die Möglichkeit miteinschließt, das Leid eines Tieres zu beendigen, wenn es denn unumgänglich wäre, und dann wieder der kompromisslosen Haltung der Tibeter, eines jeden Wesen Leben zu respektieren, weil es ihm eben selbst das höchste Gut darstellt.

Nach einer langen Zeit standen wir wieder auf und schulterten unsere Rucksäcke. In unerhörter Heiterkeit nickten uns kleine Glockenblumen am Wegrand zu, und nach Norden hin grüßten ocker- und magentafarbene Wellen aus Hügeln, deren glimmerhaltiger Sand alles Irdische in einen tintenblauen Himmel sandte. Ein Spiegel, so groß, wie die Welt nur sein konnte.

Dieses gleißende Land war das Universum eines Sven Hedin, eines Peter Aufschnaiter, eines Herbert Tichy gewesen. Wir hätten es einfangen wollen, in diesen Minuten, mit den Augen und, wenn es nicht anders ginge, mit den Händen, aber so wie alles Licht zerfloss es uns durch die Finger, und keine Kamera der Welt konnte festhalten, was das menschliche Auge nur für einen Augenblick zu sehen vermochte.

An der nächsten großen Biegung des Weges, bevor wir den Yak aus den Augen verloren, drehten wir uns noch einmal zu ihm um. Er hatte sich nicht mehr bewegt. In der graubraunen Landschaft bildete sein Fell einen kaum mehr wahrnehmbaren Fleck, wie die ferne, ferne Erinnerung an eine Zeit, als man dieses Land noch als heilig empfand.

Die Spucknäpfe von Xangmu

Als im Jahre 1988 die kommunistische Führung Chinas das besetzte Tibet für den Tourismus zugänglich machte, war Wolfi mit einer kleinen Gruppe von gemeinsamen Freunden einer der Ersten, die einen Teil dieses großen, weiten Landes bereisten. Wenn man von Nepal kommt, ist Kodari der letzte Ort vor der Grenze. Der Reisende tut gut daran, sich hier auf einen jähen Paradigmenwechsel einzustellen.

In diesem kleinen nepalesischen Grenzdörfchen war alles von Leben erfüllt, selbst die in der milden Sonne glitzernden Müllhaufen schienen eine Heiterkeit auszustrahlen, die ihren Kollegen jenseits des sechs Meter hohen Eisentores, das die beiden Länder trennt, völlig zu fehlen schien. Alles hier bestand aus Leben, die Kinder und die Katzen und Hunde und jungen Ziegen hüpften im Staub herum, und die Gesichter der Erwachsenen zeigten einen freundlichen Gleichmut, der den anderen Menschen jenseits des Eisenzauns, ähnlich wie Gefangenen, völlig abhandengekommen zu sein schien.

Ich kann mich an die damaligen Erzählungen meiner Freunde nur allzu gut erinnern. Wie sie durch die geöffneten Gittertüren schritten (die sich jeden Tag um Punkt sechs Uhr abends wieder schließen) und dann zu Fuß – es musste sämtliches Gepäck von den Yaks abgeladen und über die Fußgängerbrücke, die sogenannte Brücke der Freundschaft, getragen werden – die jenseitige, auf tibetischem Territorium gelegene Ortschaft Xangmu erreichten, um dort von finster blickenden chinesischen Soldaten in olivgrüner Uniform und Zöllnern mit roten Sternen auf den Tellermützen sehr harsch und abweisend kontrolliert zu werden. Dem einzigen Hotel am Platz zugewiesen, bekam ein jeder sein Zimmer zugeteilt, um feststellen zu müssen, dass die durchaus atemberaubenden Zimmerpreise nicht mit dem Standard korrelierten. Zwar stand in jedem Zimmer ein geräumiger Spucknapf in der Ecke, die Fensterstöcke und selbstredend auch die Fenster fehlten jedoch. So trieb der Himalayawind die Schneeflocken quer durch die Zimmer, und bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass die Spucknäpfe noch nie geleert worden waren, sie waren etwa kniehoch und bis zum Rande vollgefüllt. Bei der leichtesten Berührung zeugte ein leichtes Schwabbeln davon, dass hier nicht immer Minustemperaturen herrschten.

Wohin wollen reisende Frauen und wohl auch Männer, um sich nach einer anstrengenden Busreise frisch zu machen? Natürlich ins Bad. Ein Glück war es, dass Wolfi damals als Erster das Badezimmer betrat, um es, eine Nuance bleicher, gleich wieder zu verlassen und seine Frau zu warnen, es jemals zu betreten. Denn nicht nur die Spucknäpfe, auch die Badewanne war nämlich voll, weil die Vorgänger sie offensichtlich mit der daneben stehenden Toilettenschüssel verwechselt hatten.

So waren meine Erinnerungen an die Erzählungen meiner Freunde, als ich selbst, zusammen mit Helge Mosheimer, einige Jahre später über die Brücke der Freundschaft schritt. Inzwischen hielt eine neue Katastrophe, nämlich die Vogelgrippe, die Welt in Atem, und als wir jenseits der Brücke an der Grenzkontrolle ankamen, mussten wir uns unter Aufsicht von grimmig aussehenden Soldaten zur Gesundenuntersuchung begeben, die darin bestand, dass uns ein ebenso grimmig aussehender Zöllner ohne vorherige Warnung ein pistolenartiges Gebilde an die Stirn hielt. Damit wurde die Temperatur gemessen, und glücklicherweise litt keiner von uns an einer erhöhten Körpertemperatur, sonst wären wir zurückgeschickt worden.

Im Hotel angekommen, stellten wir erfreut fest, dass man die letzten Jahre verwendet hatte, Fensterstöcke und Fenster einzubauen, die Spucknäpfe zu entfernen und die Badezimmer so weit zu säubern, dass der Benutzer nicht durch den bloßen Anblick schon einen Fieberschub erleidet. Dies war alles sehr erfreulich, und wir fühlten uns durch die Gnade der späteren Jahre gebenedeit und verzichteten hier gern auf den ruhmreichen Ruf von Pionieren.

In den folgenden Tagen reisten wir mit dem Geländewagen, bei jeder Gelegenheit streng kontrolliert durch Militärposten, bis an den Fuß der großen Berge, stapften dann einige Tage auf über sechstausend Metern in der Landschaft umher, gerade so lange, bis wir uns wieder auf ein anständiges Essen und ein Bier in der inzwischen als luxuriös erinnerten Umgebung von Xangmu freuten.

Wir waren also guter Dinge, Helge und ich, als wir uns, einige Kilogramm Körpergewicht leichter, auf die Suche nach einem Ort begaben, an dem wir möglichst unkontrolliert und unbelastet ein Bierchen zwitschern konnten. Nach einigem Auf und Ab an der steilen Hauptstraße von Xangmu lockte uns eine Art Bretterverschlag, ihn zu betreten. Er war nicht größer als zweieinhalb mal zweieinhalb Meter, und drinnen, an der linken Seite, saßen an einer kleinen Bar der Wirt und einige Freunde beim Kartenspielen, während auf der Straße die Kinder mit Spielzeugautos aus Holz Ornamente in den Staub des Gehsteiges zauberten.

An der rechten Seite des Bretterverschlages war das einzige kleine Tischchen des Etablissements unbesetzt, und dort ließen wir uns nieder, während uns die Wirtin mit gleichmütigem Gesicht ein Fläschchen Pflaumenschnaps und zwei Bier servierte. Hinter Helges Rücken war ein kleiner Fernseher angebracht, auf dem gerade eine Seifenoper lief, deren Handlung wir sogar verstanden, ohne des Chinesischen mächtig zu sein.

Wie wohl tat so ein erster Schluck Bier und Pflaumenschnaps nach doch recht vielen Tagen in Staub und Eis und Schnee, und unser Wohlgefühl wurde noch gesteigert durch den Anblick von jungen, hübschen Tibeterinnen, die nun, bei Einbruch der Dämmerung, mit kurzen Röcken und umso höheren Stöckelschuhen vorbeiflanierten und uns freundliche Blicke zuwarfen. Ein lauer Sommerwind spielte mit den Röcken der Mädchen, und die Szenerie verlieh sogar den betonierten Fassaden der kommunistischen Kitschbauten ein freundlicheres Gesicht.

Dieser Umstand und die Tatsache, dass uns die Wirtin, inzwischen etwas freundlicher geworden, ein zweites Fläschchen Pflaumenschnaps hergestellt hatte, bewog uns zur Einsicht, dass die Zeit der Spucknäpfe und der missbräuchlich verwendeten Badewannen nun endgültig vorbei war und irgendwann einmal auch dieses Land zur Normalität zurückfinden würde.

Die Seifenoper hinter Helges Rücken schien inzwischen beendet zu sein, denn mit einem Mal hörte ich die Stimme einer Sprecherin, und man sah auf dem Bildschirm marschierende Kolonnen mit geschulterten Spaten, wie sie sich daran machten, Straßen und Staumauern zu errichten, dazu Familien mit Kleinkindern, allesamt Menschen mit glücklichen Gesichtern, und jede Menge Sonnenauf- und -untergänge. Ich wandte mich ab, der Realität unserer Straße zu, auf der noch immer die kurzberockten Tibeterinnen schlenderten, als mir eine bekannte Melodie ins Ohr drang. Ich überlegte eine Weile und blickte wieder zum Fernseher: noch immer entschlossen marschierende Kolonnen, glückliche Kleinfamilien, Sonnenauf- und -untergänge … Ich begriff, dass es sich hier um eine Belangsendung der kommunistischen Partei Chinas handeln musste. Aber, wie seltsam, die Musik, mit der diese Sendung unterlegt war, stammte von Richard Wagner. Es erklang einer seiner größten Ohrwürmer, nämlich die Ouvertüre zu Rienzi (der letzte der Tribunen), die – oh, wie seltsam ist doch die Welt – die Lieblingsoper von Adolf Hitler gewesen ist.

So saßen wir und sahen die Sonne auf dem Bildschirm auf- und untergehen und die glücklichen, entschlossenen, jungen chinesischen Marschgesichter und all die Errungenschaften des kommunistischen Systems, und dazu die Sprecherin, die in markigen Worten und ebensolcher Körperhaltung (an der sich sogar die Fernsehsprecherin von Kim Il Sung ein Beispiel hätte nehmen können) etwas erklärte, dessen Sinn wir begriffen, ohne auch nur ein Wort zu verstehen. Und es war wirklich Rienzi von Wagner, was dazu im Hintergrund erklang, was aber hier, im kommunistischen China, wahrscheinlich niemandem bewusst war.

Wir schenkten uns noch einen Pflaumenschnaps ein und hielten die Köpfe schräg, um besser hören zu können. Ich selbst war ja nie ein Wagnerianer gewesen, aber diese Ouvertüre hatte schon sehr früh mein Herz erreicht. Wir betrachteten die am Bildschirm vorüberziehenden Inszenierungen, und ich dachte mir in der milden Wärme des Pflaumenschnapses, dass es doch in irgendeiner Zukunft, und mochte es Äonen dauern, über die Musik zu einer Art Weltfrieden kommen könnte. Dann, wenn nicht mehr der Herrschaftsanspruch von Parteibonzen, Oligarchen und Beamten von Belang wäre, sondern die Musik als Allmachtsgestalterin die Menschen verbände; wenn die Menschen wieder zu ihren allerersten Prägungen, der Sprache und eben der Musik, zurückgefunden hätten, ja die Musik den Weltenlauf bestimmen würde. Dann gehörten Bach und Mozart und Mendelsohn und gewiss auch Wagner wahrhaftig allen, und der Geist hätte von der Welt Besitz genommen, und nicht irgendwelche eigennützigen und rechthaberischen Interessen. So dachte ich mir beim nunmehr dritten Fläschchen Pflaumenschnaps. Und die Töne wären wie unsichtbare Fäden, die sich um die Welt rankten, und diese Fäden würde man dichter und dichter weben, so lange, bis eine Decke entstünde, die uns alle wärmte, von Wladiwostok bis Wisconsin, von Baffin Island bis Punta Arenas, von der Beringstraße bis Kap Komorin, vom Oval Office bis zu unserem kleinen Tischchen mit dem Pflaumenschnaps hier in Xangmu, im Schatten der großen Berge.

Mit leeren Händen

Unsere Tibeter hatten die Yaks abgeladen und die Sherpas begonnen, unsere Zelte mitten in einem Streifen der nachmittäglichen Sonne zwischen den spärlichen Büscheln der zitternden Gräser aufzustellen. Wir befanden uns auf fünftausendvierhundert Metern Meereshöhe, an der Grenze dessen, wo der Mensch noch ständig leben kann und daher eine Dauerbesiedelung möglich ist. Der warme Aufwind trug uns manchmal kleine Staubhosen von der nahen Randmoräne zu, ab und zu hatten sich Schmetterlinge daruntergemischt, weiße und zitronengelbe und braune. Es waren keine Vögel zu sehen, daher durften wir vermuten, dass die Schmetterlinge ungefährdet ihr Schaukelspiel fortsetzen konnten. Doch schon die kommende Nacht würde ihren Spielen ein Ende bereiten, wenn sie, unterkühlt wie sie waren, es niemals mehr herunterschaffen würden ins Leben, so sehr sie sich auch anstrengten, und wir ihre kleinen Leichen auf den nahen Gletschern fänden.

An diesem warmen Nachmittag tauchte plötzlich eine junge Tibeterin auf und steuerte mit kleinen Schritten (denn sie trug über ihrer Hose einen langen Rock) zielsicher auf mein Zelt zu. Mein Erste-Hilfe-Koffer musste sie angezogen haben, und gleich fing sie an, mit den Handflächen über ihre Nierengegend zu streichen und, etwas verschämt und leise, in ihrer Muttersprache etwas zu erläutern. Salami Dawa übersetzte, da er ein wenig Tibetisch konnte. (Salami hatte seinen Spitznamen vor Jahren von uns bekommen, weil er Salami liebte und weil Dawa in Nepal ein sehr häufiger Name war, etwa wie im Deutschen Hans oder Franz, und er durch diesen Zusatz von unserem Kamera Dawa unterschieden werden konnte, der der Kameraassistent von Maria Peters war. Die Namen blieben ihnen sogar bis in ihre Heimatdörfer erhalten.)

Salami Dawa also übersetzte, und, weit entfernt davon, ein Mediziner zu sein, kapierte ich doch bald, dass die junge Frau nur etwas wie eine Nierenbeckenentzündung haben konnte und ich hier, Hunderte Kilometer von jeglicher medizinischen Einrichtung entfernt, keinen Fehler machen konnte, wenn ich ihr ein entsprechendes Antibiotikum verabreichte. Damit war sie zufrieden, und Dawa ermahnte sie noch, nur ja das Antibiotikum bis zum Ende einzunehmen. Dann verschwand sie wieder hinter der nächsten Hügelkuppe.

Zwei Tage später war die junge Tibeterin wieder da. Doch dieses Mal trug sie ein Baby in den Armen. Sie erklärte unserem Salami Dawa wortreich, dass sie wieder ganz gesund sei und die Schmerzen verschwunden, dass jedoch ihr Kind krank sei. Ob ich ihm wohl auch helfen könnte? Als sie mir das Kind reichte, fiel mir sofort auf, dass sein Köpfchen unmittelbar nach hinten kippte, wenn man es nicht abstützte, und dachte, dass dies bei einem halbjährigen Baby, denn auf dieses Alter schätzte ich das winzige Wesen, normal sei, weil der Muskeltonus noch nicht ausgebildet war. Aber irgendein Verdacht brachte mich dazu, sie zu fragen, wie alt das Kind sei. Salami Dawa übersetzte: vier Jahre. Jetzt erinnerte ich mich an die ausführlichen Erklärungen meines Freundes Rainer Pieber, der mit uns sehr oft im Himalaya gewesen war. Rainer ist nicht nur Kinderarzt, sondern auch ein begabter Didaktiker, der sogar mir medizinischem Laien manche Zusammenhänge erklären hatte können, sodass auch ich sie verstand. So fragte ich die junge Frau, auf welcher Höhe sie das Kind geboren hätte.

„Hier“, sagte sie und beschrieb mit der Hand einen kreisförmigen Bogen, „hier heroben.“ Ich erinnerte mich bruchstückhaft an die Erläuterungen von Rainer – Jahre zuvor – und mir schien, dass der Möglichkeiten Legion wären, hier heroben ohne Muskeltonus auf die Welt zu kommen. Hervorgerufen wurde das bei externem und internem Sauerstoffmangel, bedingt durch den Geburtsvorgang oder pränatal bei Blutarmut, denn Kinder brauchten viel Eisen. Selbst in unseren medizinisch hochentwickelten Ländern bedarf es in einem solchen Fall jahrelanger Bemühungen, um den Muskeltonus herzustellen, so erinnerte ich mich der Schilderungen meines Freundes, und sogar dann sind diese Bemühungen oftmals fruchtlos.

War es falscher Stolz, der mich jetzt zu einer raschen Antwort drängte – die es aber gar nicht geben konnte –, nur um meine Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren?

Ein zu langes Schweigen musste ja zwangsläufig das Vertrauen der jungen Frau in mich erschüttern, hier heroben, in dieser lebensfeindlichen Umgebung und Höhe. Also hörte ich mich mit möglichst großer Überzeugung sagen (und Salami übersetzte mit ebensolcher Stimmlage): „Beten. Du musst viel beten. Das wird helfen!“

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