Kitabı oku: «Schutzpatrone», sayfa 2
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3.
Für den nächsten Tag, einen Samstag, erwartete Rumpler Besuch. Einer seiner Waldviertler Verwandten hatte sich angesagt, ein entfernter Großcousin. Er würde nach Wien kommen, um seinem etwa sechs oder sieben Jahre alten Buben Schönbrunn zu zeigen. Rumpler hatte vorgeschlagen, gemeinsam den Tiergarten zu besuchen, und er hatte die beiden anschließend zu einer Jause in seine Wohnung eingeladen.
Als sie einander wie vereinbart am Samstag um elf Uhr im Kassenbereich des Tiergartens trafen, bereute Rumpler seine Einladung sofort wieder, so unruhig und quengelig war der Bub, der auf den nicht sehr waldviertlerischen Namen Kevin getauft war. Im Tiergarten klopfte Kevin trotz der gut sichtbaren Verbotshinweise im Aquarien- und auch im Terrarienhaus heftig gegen die Scheiben, wobei er die halbherzig vorgebrachten Ermahnungen seines Vaters komplett ignorierte und wütend wurde, dass er die Affen wegen des allgemeinen Fütterungsverbots nicht füttern durfte. Vom Tiger war er enttäuscht, weil er nicht brüllte.
Rumplers ganze Hoffnung richtete sich darauf, dass der Tiergartenbesuch den Buben ermüden und damit erträglicher machen würde, was sich aber als Trugschluss erwies. Kaum waren sie in Rumplers Wohnung eingelangt, als der Bub auch schon von seinem Vater eine neue Beschäftigung verlangte.
Dieser blickte Rumpler etwas hilflos an und meinte: „Er is ja so gscheit, der Kevin.“
Rosamunde, die die Kunst des spurlosen Verschwindens beherrschte, hatte die Lage sofort richtig eingeschätzt und gab eine Probe ihres Könnens. Rumpler beneidete sie glühend. Schließlich brachte er ohne viel Hoffnung einen Zeichenblock und einen schwarzen Filzstift zum Vorschein, Buntstifte hatte er leider nicht vorrätig, und er schlug Kevin vor, eine Zeichnung zu machen, was dieser zu seinem Erstaunen anstandslos akzeptierte. Das gab Rumpler die Gelegenheit, sich in die Küche zurückzuziehen und die versprochene Jause zu richten.
Als er schließlich einige Brötchen und einen Marmorgugelhupf ins Wohnzimmer brachte, war es mit Kevins Ruhe plötzlich vorbei. Der Bub schrie auf wie am Spieß: „Jetzt is die Zeichnung hin. Hin, hin, hin. Dein blödes Handy is schuld.“
Tatsächlich hatte sein Vater sein Mobiltelefon neben ihm abgelegt, es hatte plötzlich geläutet, Kevin war deshalb zusammengezuckt und hatte die Zeichnung ruiniert. Sein Vater bemühte sich, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, was aber nichts half, sondern Kevins Wut nur noch steigerte.
„Der blöde Stift is mir ausgrutscht wegen dem Handy. Der Strich da vorm Haus gehört weg.“
Rumpler warf einen vorsichtigen Blick auf das Blatt und sah ein typisches Kinderzeichnungs-Haus mit einem Tor in der Mitte, zwei Fenstern links und rechts davon und einem steilen Giebeldach, aus dessen Rauchfang korkenzieherartig gewundener Rauch aufstieg. Direkt vor dem Haus war ein kräftiger, annähernd senkrechter Strich, der dort ganz offensichtlich nicht hingehörte.
„Das ham wir gleich“, sagte der Vater plötzlich mit unerwarteter Zuversicht, „wir machen einfach einen Zaun draus.“
Während ihn Kevin ungläubig anstarrte, hatte der Vater neben den missratenen Strich eine ganze Reihe paralleler Striche gesetzt, die mit etwas Fantasie tatsächlich als Zaunlatten durchgehen konnten. Während Rumpler noch mit einem neuerlichen Wutausbruch Kevins rechnete, sagte er anerkennend: „Das mit dem Zaun habts ihr aber ganz toll hingekriegt.“
Kevin legte seinen Kopf schief, sah Rumpler für kurze Zeit prüfend an und sagte dann für diesen völlig überraschend: „Ich schenk dir die Zeichnung.“
Rumpler atmete auf, bedankte sich höflich und holte rasch, um das Geschenk entsprechend zu würdigen, einen alten leeren Fotorahmen aus seinem Schreibtisch und platzierte das Bild im Rahmen. Die nunmehr gerahmte Zeichnung stellte er auf seinen Schreibtisch.
„Jetzt kannst sie immer anschauen“, meinte Kevin zufrieden und wandte sich sofort einem neuen Thema zu, indem er seinem Vater klarmachte, dass es hoch an der Zeit wäre, den McDonalds, ganz so, als ob es nur einen einzigen gäbe, zu besuchen. Rumpler war weit davon entfernt, die Missachtung seiner liebevoll gerichteten Jause zu bedauern, und riet Kevin, einen extra großen Burger zu bestellen, was dieser auch gerne versprach. Vater und Sohn hatten es plötzlich mit ihrem Aufbruch sehr eilig und schon nach wenigen Minuten herrschte in Rumplers Wohnung wieder eine selige Ruhe.
Er atmete durch. Nachdem seine verstorbene Frau Elsa und er kinderlos geblieben waren, hatte er oft eine unbestimmte Sehnsucht nach Kindern, aber jetzt fragte er sich doch, ob ihm diese Kinderlosigkeit nicht vielleicht auch viel erspart hatte. Während er kurz überlegte, Kevins Zeichnung wieder von seinem Schreibtisch zu verbannen, erschien plötzlich, wie bei einem Zaubertrick, Rosamunde quasi aus der dünnen Luft, forderte vehement ihr Futter – und so blieb die Zeichnung, wo sie war.
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4.
Am darauf folgenden Montagnachmittag saß Rumpler mit Ferdl und Leni in der Schwarzen Krot, einem Beisel, das diese Bezeichnung tatsächlich noch verdiente und auch Obdachlose als Gäste anstandslos akzeptierte, sofern sie auf ihre Sauberkeit achteten und nicht alkoholisiert waren. Auf Rumplers Einladung hin hatte Ferdl nur gemeint: „Bist halt wieder im Dienst, weils ned weiterkommen, deine Kollegen“, und hatte mit diesem Kommentar ziemlich ins Schwarze getroffen.
Ferdl hatte eine Blunzen mit Kraut und Erdäpfeln bestellt und Rumpler, der die einfache, aber grundsolide Küche der Schwarzen Krot kannte und schätzte, schloss sich an. Nachdem Alkohol für Ferdl ein absolutes Tabu war, verzichtete Rumpler mit leisem Bedauern auf den reschen Grünen Veltliner, der in der Krot als Hauswein ausgeschenkt wurde, und ließ sich einen großen Apfelsaft, gespritzt mit Leitungswasser, bringen. Für Leni hatte Rumpler bei der Köchin unter Einsatz seines ganzen Charmes und seiner braunen Augen einen ordentlichen Kalbsknochen herausverhandelt, den sie unter dem Tisch mit großem Behagen und dank ihres kräftigen Gebisses auch mühelos bearbeitete. Ferdl sah zufrieden auf seine Leni, während sie nur ganz kurz aufblickte, um dann umso kräftiger mit ihrem Werk fortzufahren. Als die Herren ihre respektablen Portionen schließlich fertig gegessen hatten, bestellte Rumpler noch Kaffee. Ferdl nahm ein großes Häferl mit Filterkaffee, Rumpler einen Espresso, wobei er wohl nicht zu Unrecht in der winzigen Schale das gleiche Gebräu vermutete, das Ferdl trank.
Dieser stellte sein Häferl ab. Jetzt war es Zeit zum Reden. „Was willst wissen, Hans?“
„Hast vielleicht von den drei, die umbracht worden sind, wen näher gekannt?“
„Am öftesten hab ich noch den Heinzi Schummer gesehen, immer gemeinsam mit dem Rudi Schätter. Den zweiten, er hat, glaub ich, Mirko geheißen, hab ich gar nicht gekannt, aber den dritten ham wir alle gekannt, du sicher auch, den Totenvogel.“ Ferdl sprach dieses Wort auf eine ganz spezielle, sehr weiche Art aus, sodass es wie Doudenvougl klang. „Ich weiß gar net, wie er richtig geheißen hat, aber wir ham alle Totenvogel zu ihm gsagt.“
Rumpler erinnerte sich sehr gut an den Totenvogel, einen etwa sechzig Jahre alten, großen, mageren, vornübergebeugten Mann mit einem kleinen, vollkommen kahlen Kopf, der auf einem seltsam nach vorne verschobenen Hals saß. Auf Wunsch seines jeweiligen Publikums hatte der Totenvogel, meist im Austausch gegen eine Zigarette, weit ausladende, langsame Flügelschläge gezeigt, indem er seine überlangen dürren Arme auf und ab bewegte, dazu auch öfters einmal ein paar Schritte oder eigentlich Hüpfer, wie man sie von Geiern her kennt, die sich mit besonderer Vorsicht einem Stück Aas nähern. Im Gegensatz zu seinem gruseligen Aussehen war der Totenvogel ein ausgesprochen friedlicher, netter Mann gewesen, mit einem sehr sanften Lächeln und einer unendlichen Langmut.
„Den Totenvogel hättens nicht derschlagen dürfen“, sagte Ferdl und fügte leise, fast flüsternd hinzu „Den Tod kannst doch ned umbringen.“
Rumpler nickte zustimmend. Er glaubte zu verstehen, was Ferdl meinte. Der Totenvogel war eine Institution gewesen, kraft seines Amtes als eine Art Bote des Todes ebenso unsterblich wie dieser – und in diese unverbrüchliche Ordnung hatte ein Mörder eingegriffen.
„Alsdann, was willst wissen, Hans?“
„Hast vielleicht was gehört, ob einer von euch was gsehen hat, aber mit der Polizei net redt?“
„Das hab ich dir eh schon gsagt, am ehesten der Rudi Schätter. Er is ja immer mit dem Schummer Heinzi mitgangen, und der wollt ihn dann nicht fortschicken, auch wenn ihm der Rudi mit seinen Kasperlgeschichten ganz ordentlich auf die Nerven gangen is. Der Rudi is immer auf ihm draufpickt. Es würd mich sehr wundern, wenn der Rudi nicht in der Näh gwesen wär, wie’s den Heinzi umbracht ham. Aber er is halt komisch, der Rudi, seit dem Mord angeblich noch mehr wie vorher. Da kannst nicht wissen, ob er was erzählt, was er gsehn hat, oder ob er was erfindet. Er bringt einfach keinen graden Satz heraus.“
„Ich hab ghört, er is jetzt am Steinhof in der Psychiatrie.“
„Ja, da geht er wenigstens nicht ganz vor die Hund, weil ohne den Heinzi wärs aus mit ihm. Ich glaub, er würd sich über deinen Besuch freuen.“
„Ich probiers. Mehr als schiefgehn kanns nicht.“
Unter dem Tisch ertönten mittlerweile leicht sägende Schnarchgeräusche.
„Jetzt schlafts, die Leni“, sagte Ferdl zufrieden.
„Ein guter Hund“ bestätigte Rumpler und fügte, etwas besorgt: „Pass gut auf dich auf, Ferdl“, hinzu.
„Eh klar. Mir passiert schon nix. Außerdem hab ich die Leni.“
Rumpler winkte der Kellnerin, einer Frau Rosi, die ihn in Namen und Figur an seine Rosamunde erinnerte und schon seit vielen Jahren in der Krot servierte. Während er die erstaunlich moderate Rechnung bezahlte, bemerkte Leni trotz ihres vernehmbar tiefen Schlafes in der Sekunde die Zeichen des Aufbruchs, dehnte und streckte sich und schüttelte sich zuletzt ihre Steifigkeit aus den Gliedern.
Nachdem Rumpler mit dem Auto gekommen war, bot er Ferdl an, ihn ein Stück weit mitzunehmen, was dieser aber dankend ablehnte.
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5.
Am nächsten Morgen fuhr Rumpler gleich nach seinem Frühstück im Café Sperl zum Steinhof, suchte aber zunächst nicht die Psychiatrie auf, sondern umrundete die Otto Wagner Kirche. Rumpler fand es völlig richtig, dass dieses Bauwerk mit seiner perfekten Schönheit genau dort stand, zur Verfügung der Schwierigen und oft auch Verzweifelten, die in den Pavillons ganz in der Nähe untergebracht waren, und er hoffte, diese Schönheit würde auch und gerade ihnen, die es am meisten brauchten, helfen. Die Kirche am Steinhof faszinierte ihn nicht nur wegen ihrer augenscheinlichen Schönheit allein, sondern vor allem deshalb, weil der Architekt, Otto Wagner, seine ganze Sorgfalt und Aufmerksamkeit darauf ausgerichtet hatte, sie in allen Details für die doch sehr speziellen Bedürfnisse ihrer Besucher auszugestalten. Das Weihwasser wurde aus hygienischen Gründen nicht, so wie in anderen Kirchen üblich, in Becken angeboten, sondern es wurde durch Herabtropfen zur Verfügung gestellt, um das sonst kaum vermeidbare Gepritschel hintanzuhalten. Die Bänke waren sehr kurz, um im Bedarfsfall eine leichte Zugänglichkeit zu sichern, es gab eine Toilette und der Boden der Kirche fiel nach vorne hin etwas ab, um auch den weiter hinten Stehenden einen freien Blick auf den Altarraum zu sichern. All das war mit einer unglaublichen Schönheit umgesetzt worden. Einfach genial.
Nachdem Rumpler die Pracht der Kirche voll in sich aufgenommen – oder eigentlich eingeatmet – hatte, weil einen wirklich gute Bauwerke immer auch freier atmen lassen, obwohl man ihren Anblick doch paradoxerweise als atemberaubend bezeichnet, wie er dachte, ging er, geleitet von den Orientierungstafeln, zu Pavillon Nummer Vier, in dem Rudi Schätter, wie ihm Moser gesagt hatte, untergebracht war. Er sprach kurz mit der diensthabenden Schwester, um sich einen Spaziergang mit Rudi Schätter genehmigen zu lassen, was sich als völlig problemlos erwies, nachdem Moser offensichtlich bereits mit ihr gesprochen hatte. Sie begleitete Rumpler in ein Zimmer im ersten Stock, das am Ende eines langen Ganges mit vielen weiß lackierten Türen lag. Die Schwester klopfte energisch an und sperrte dann die Tür auf. Während des Hinaufgehens hatte sie Rumpler erklärt, dass Rudi Schätter sich auf ausdrücklichen eigenen Wunsch in seinem Zimmer einsperren ließ, weil er Angst hatte. Am Ende des eher schmalen Zimmers war ein Fenster und dort saß an einem kleinen Tisch mit Resopalplatte ein etwa vierzig- bis fünfundvierzigjähriger Mann, mittelgroß, mit mausgrauem, in Büscheln vom Kopf abstehendem Haar, erstaunlich großen Ohren, einem fliehenden Kinn und Augen von einem wässrigen Blau. Er ließ seinen ruhelosen Blick blitzartig über die beiden Eintretenden laufen. „Ah“, sagte er mit überraschend kräftiger Stimme. „Die Gretel hat einen Seppel mitbracht.“
„Sie haben Besuch, Herr Schätter“, sagte die Schwester etwas lauter als nötig in einem aufgesetzt fröhlichen Tonfall, dem der mühsam unterdrückte Ärger über Schätters Gretel-Zuschreibung deutlich anzumerken war.
„Der Herr Rumpler ist gekommen und macht mit Ihnen einen Spaziergang.“
„Der Kasperl fehlt halt sehr. Seppeln gibt’s genug, aber kan Kasperl.“
Rumpler wusste nicht recht, ob er darauf eingehen sollte, und entschied sich spontan dagegen. Er richtete ihm, um einen Anknüpfungspunkt zwischen ihnen herzustellen, Grüße vom Ferdl aus.
„Bist ein braver Seppel“, meinte Rudi nur und ließ sich von Rumpler zur Tür hinausführen.
Solange Rumpler ihn am Arm berührte, und sei es noch so leicht, ging Rudi mit ihm wie selbstverständlich mit, sobald dieser Kontakt jedoch unterbrochen war, blieb er sofort stehen wie eine Straßenbahn, die plötzlich keine Verbindung mehr zur Oberleitung hat. Rumpler verzichtete darauf, sich Rudi gegenüber als Hans vorzustellen, da er ja doch wusste, dass er ein Seppel war, Hans hin oder her. „Bist gut untergebracht?“
„Schon“, meinte Rudi. „Immer genug zum Essen und eine Dusch hab ich auch. Aber eingsperrt bin ich halt.“
„Darfst net raus?“
„Schon. Aber wohin sollt ich denn gehen?“
„Kriegst Besuch?“
„Na. Nur die Polizisten waren bei mir. Die ham mich komische Sachen gfragt und dann sinds wieder gangen.“
„Was hams dich denn gfragt?“
Bevor er hätte antworten können, blieb Rudi stehen und wies vorsichtig auf eine kleine Frau mit scharfen Gesichtszügen, die soeben aus dem Pavillon getreten war, an dem sie gerade vorbeikamen.
„Zerst hab ich glaubt, das is die Hex, aber es is die Großmutti. Schiach is halt wia in Teifl sei Hazer, aber liab.“
Während Rumpler noch ordentlich damit zu tun hatte, ein Lachen über den Vergleich mit dem Heizer des Teufels zu unterdrücken, grüßte sie, wie zur Bestätigung ihrer Rolle als Großmutti, die beiden Herren besonders freundlich. Rumpler war ziemlich überrascht, als Rudi die vorherige Frage problemlos wieder aufnahm, beinahe so, als hätte es überhaupt keine Unterbrechung gegeben. „Sie ham gsagt, ich wär ein Zeuge, und wollten wissen, ob ich was gsehn hätt, wegen dem Heinzi. Ich hab aber nix sagen können. Gar nix. Dann hams mich gleich herbracht.“
Mittlerweile waren sie wieder beim Ausgangspunkt ihres Rundgangs eingelangt.
„Magst wieder besucht werden?“, fragte Rumpler.
„Schon“, meinte Rudi. „Auch wennst kein Kasperl bist.“
„War der Heinzi einer?“, fragte Rumpler einer plötzlichen Eingebung folgend.
„Ah, der Heinzi“, seufzte Rudi. „Ja, der war ein Kasperl. Aber jetzt is er weg. Nur Seppeln gibt’s viel. Bringst mir was mit, wennst wieder kommst?“
„Was denn?“
„Manner Schnitten. Aber Zitrone!“
„Mach ich.“ Rumpler erinnerte sich plötzlich an seine Schikurszeit vor etwa fünfzig Jahren, als ihm genau diese Manner Schnitten mit Zitronengeschmack die Abende in den Schikursquartieren versüßt hatten, und lächelte. „Ich komm wieder zu dir und bring dir welche mit.“
„Is gut.“
Rumpler meldete sich anlässlich ihrer Rückkehr bei der Schwester, einer Gretl, wie er bereits wusste, und verabschiedete sich.
Zu Hause angekommen, musste sich Rumpler mit Rosamundes Unmut auseinandersetzen. Ihr Stimmungsbarometer stand ganz offensichtlich auf not amused. Lange fortbleiben und dann auch noch nichts mitbringen, das ging gar nicht. Während er, dicht gefolgt von Rosamunde, rasch in die Küche ging, um seine Versäumnisse wieder gutzumachen, verlegte er sich aufs Verhandeln, auf das, was er schön sprechen nannte. Rumpler konnte das gut. Sein Charme in Verbindung mit seinen ausdrucksstarken Augen hatte oft genug Erfolg gehabt. Bei Rosamunde verfing das diesmal nicht. Sie warf ihm einen kalten Blick zu. Rumpler lächelte, während er für sie ein kleines Stück Schinken leicht anwärmte, der verführerische Duft machte Rosamunde wieder etwas umgänglicher. Als er schließlich ihren Napf mit dem fein geschnittenen Schinken auf den Boden stellte, rieb sie sich angelegentlich an seinen Beinen, aber nur kurz, weil ihre Mahlzeit duldete keinen Aufschub.
„Gute Katze“, sagte Rumpler, machte sich einen Espresso, in einer hell gehaltenen Schale, die er von einem Italienaufenthalt aus der Gegend von Palmanova mitgebracht hatte und die ihm Inspiration verhieß, und holte sein kürzlich eröffnetes Moleskinbuch hervor. Seine Eintragungen waren für Außenstehende völlig unverständliche Sätze, teilweise Abkürzungen und manchmal auch Zeichnungen. So zeichnete er beispielsweise ein gugelhupfartiges Gebilde für die Kuppel der Otto Wagner Kirche, die ihn auch diesmal, wie schon so oft, schwer beeindruckt hatte. Er genoss den ersten Schluck Kaffee aus seiner dickwandigen Schale, streifte dann seine Orchideen, die ihn immer wieder durch ihre Genügsamkeit überraschten, mit einem anerkennenden Blick auf ihre herrlichen Blüten, legte das Moleskinbuch schließlich zur Seite und nahm die Protokollkopien, die ihm Moser gegeben hatte, zur Hand.
Rosamunde, die in der Zwischenzeit ihre Mahlzeit schon längst verspeist hatte, war damit beschäftigt, sich mit größter Sorgfalt ihren Bart zu putzen. Auch hier im Wohnzimmer gab es für sie eine Aufstiegshilfe, eine stabile Schachtel, die Rumpler an einen der Sessel herangeschoben hatte, um ihr das Erklettern des Schreibtischs, an dem er arbeitete, zu ermöglichen. Sie liebte es, auf seinen Unterlagen zu ruhen, und griff so gelegentlich auch durch die Auswahl der Papiere, auf die sie sich legte, in Rumplers Arbeit ein. Obwohl er sonst alles andere als abergläubisch war, war Rumpler doch davon überzeugt, dass es sich auf das Lösen eines Falles gut auswirkte, wenn Rosamunde das eine oder andere Mal auf dem entsprechenden Moleskinbuch lag. Auch diesmal enttäuschte sie ihn nicht und lag schon nach kurzer Zeit schnurrend auf seinem neu eröffneten Notizbuch, das unter ihrer Leibesfülle fast verschwand und nur da und dort ein wenig hervorlugte.
„Gute Katze“, sagte Rumpler nochmals und vertiefte sich in die Moserschen Protokollkopien. Dank jahrzehntelangen Trainings hatte er diese in Polizeideutsch gehaltenen Texte, einer speziellen Sprache ähnlich dem Juristendeutsch in Urteilen oder Gerichtsbeschlüssen, die für Außenstehende befremdlich klingen musste, sehr rasch gelesen. Er blickte von den vor ihm ausgebreiteten Seiten auf und strich Rosamunde über den Rücken, nur ganz leicht, um sie nicht in ihrer Kontemplation zu stören. Als Reaktion auf seine behutsame Berührung schwoll ihr Schnurren für kurze Zeit ganz leicht an, um dann sofort wieder zur Ausgangslage zurückzukehren. Ob das als Zeichen der Zufriedenheit oder als kleine Warnung zu deuten war, ließ sich nicht sagen. Wahrscheinlich beides.
Die Protokolle hatten für Rumpler kaum neue Erkenntnisse über die Mordserie gebracht. Zwar enthielten sie ausführliche Beschreibungen der Obduktionsergebnisse, die aber kaum Abweichungen voneinander zeigten. Jedes Mal waren die Obdachlosen zunächst mit einem Elektroschocker außer Gefecht gesetzt worden und anschließend mit einem Holzprügel, vielleicht einem Baseballschläger, mit unglaublicher Brutalität erschlagen worden. Nach den Umständen der Fälle und dem Ausmaß der angewendeten Gewalt ging die Polizei von einem ziemlich kräftigen Mann als Täter aus. Ein ersichtliches Motiv fehlte und Zeugen gab es auch keine. Auch die bei den Mordopfern gefundenen DNA-Spuren erbrachten nichts, zum einen, weil es sich um ziemlich viele verschiedene DNA-Spuren handelte, zum anderen, weil es in der Mordserie keine DNA-Proben mit identem Code gab, die man dem unbekannten Täter hätte zuordnen können. Der Mörder war wohl sehr auf der Hut und trug mit großer Wahrscheinlichkeit Handschuhe.
Rumpler beschloss, auch die Zeitungsmeldungen zu der Mordserie zu studieren, und machte sich mithilfe seines Laptops auf die Suche. Der erste Mord war an einem Samstag am frühen Morgen entdeckt worden und laut Obduktionsbericht am Abend davor erfolgt, der nächste ebenfalls in der Abenddämmerung am darauf folgenden Montag. Der dritte Mord, jener am Totenvogel, war eine Woche später geschehen. Rumpler war über die sehr kurze Abfolge der Morde verblüfft. Gerade bei Serienmördern war es nach seiner Erfahrung häufig so, dass nach dem ersten Mord eine längere Pause folgte und sich erst mit der Zeit der Abstand zwischen den jeweiligen Morden verringerte. Hier war es umgekehrt. Interessant.
Rumpler zeichnete eine Zeitlinie in sein Moleskinbuch und markierte die Morde mit kräftigen Querstrichen. Beim Überfliegen der Nachrichten im Chronikteil der Zeitungen hielt er plötzlich inne. Irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Rumpler scrollte zurück und sah stirnrunzelnd die Meldung Junge Frau spurlos verschwunden. Der Artikel war an einem Dienstag, unmittelbar nach den Berichten über den zweiten Mord, erschienen. Das zugehörige Foto zeigte eine ausgesprochen hübsche junge Frau mit blasser Hautfarbe, einem vollen, sensiblen Mund, ausdrucksstarken Augen und fülligem blondem Haar, eine gewisse Anita Tolser. Aus dem Text war ersichtlich, dass sich der Freund der jungen Frau am Wochenende Sorgen gemacht hatte, weil er sie telefonisch nicht erreichen konnte und daher die Polizei kontaktiert hatte. Am folgenden Montag war es Arbeitskollegen von Anita Tolser ebenso ergangen und die Polizei startete ihre für Vermisste vorgesehenen Ermittlungsroutinen, allerdings ohne Erfolg. Die Tatsache, dass sich das Mobiltelefon der jungen Frau nicht orten ließ und zudem ihre Papiere, vor allem der Reisepass, in ihrer Wohnung gefunden wurden, ließen eher ein Verbrechen befürchten, als ein absichtliches Untertauchen. Jedenfalls blieb Anita Tolser spurlos verschwunden. Weder ihr aktueller Freund noch ihr Ex-Freund hatten zur Aufklärung ihres Verschwindens irgendetwas beitragen können. Die Zeitungen nutzten diesen Fall gleich für einen umfassenden Artikel über in Österreich spurlos verschwundene Personen, aber das war es dann auch schon.
Der dritte Mord im Obdachlosenmilieu, noch dazu am Totenvogel, war natürlich eine Sensation und verdrängte daher Anita Tolser aus den Zeitungen.
Rumpler griff zum Telefon und rief Moser an, der sich, wie gewohnt, sofort meldete. „Moser hier.“
„Hallo Stinker. Ich hätt gern eure Unterlagen zu der jungen Frau, die vor ungefähr zwei Wochen verschwunden ist, der Anita Tolser.“
„Das hat aber wirklich gar nichts mit den Obdachlosenmorden zu tun. Wir haben das schon genau abgeklärt.“
„Hab ich mir eh gedacht. Ich würds mir trotzdem gern anschauen.“
Moser seufzte resignierend. „Ist gut. Hast morgen früh Zeit für ein Frühstück im Café Rathaus? Dann bring ichs dir mit.“
„Passt neun Uhr für dich?“
„Bestens. Bis morgen.“
„Bis morgen, Stinker.“