Kitabı oku: «Die Zeit ohne uns», sayfa 3

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»Ich hab die ganze Zeit an dich denken müssen. Vor noch nicht allzu langer Zeit konnte ich mir nicht einmal eingestehen, dass ich je einen Mann wirklich mit allen Konsequenzen lieben könnte.«

Schweigen erfüllt den Raum. Aaron lässt das Gesagte auf sich wirken, er nimmt Herberts Hände, schaut ihm in die Augen.

Herbert senkt den Kopf. »Ich meine – schau mich an – so sieht Herr Unterdurchschnitt aus.« Er zeigt mit herunterfallenden Armen auf sich. Er trägt ein Hemd, darüber einen leichten Pullunder, eine Kniebundhose, grobe Schnürschuhe. Ausstaffiert von seiner Tante, und im Vergleich zu Aaron fühlt er sich doch nur als der Junge, der vom Land in der aufregenden Metropole gelandet ist. »Exklusivität sieht anders aus.«

Aaron umarmt Herbert.

»Du bist ein Dummkopf! Glaube mir, ich habe einen Blick für beste Qualität und du brauchst dich wirklich nicht zu verstecken.«

Sie ziehen sich einander schnell aus, schauen sich dabei verliebt und neugierig an. Ihre Blicke gehen hinunter, pure Erregung zeichnet sich für beide. Herbert fühlt Beklemmung in sich aufsteigen. Nackt zu sein erfordert seinen ganzen Mut, jedoch ist ein Zurück keine Option. Er will den Mann hautnah erleben. Aaron genießt den Blick auf den schüchternen Herbert, der versucht seine Erregung zu verdecken. Aaron nimmt Herberts Hände in seine, zieht ihn an sich heran. Sie küssen sich. Herbert lehnt sich an seinen schlanken Körper, die Hände lösen sich voneinander. Herbert umfasst Aarons Hüften. Dieser windet sich hinaus, kniet sich auf den zu harten Boden, um Herberts Glied mit dem Mund zu umschließen. Das Stöhnen wird lauter. Aaron erhebt sich. Der Tisch dient als Liebeslager. Stecknadeln, Zeichnungen, Zirkel, Maßbänder, Stoffstreifen, Pappkartons, Skizzen fliegen auf den Betonboden. Die beiden jungen Männer verschmelzen auf der Tischplatte, sie streicheln sich, schauen einander immer wieder verliebt an. Lippen sind auf Wanderschaft, die Zunge spürt der salzigen Haut nach. Herberts Atem stockt, er kann nicht genug bekommen. Seine Erregung füllt den Raum aus, längst ist die Unsicherheit verflogen, er will nur noch lieben. Aaron genießt Herberts Zärtlichkeiten. Seine Fingernägel hinterlassen leichte Kratzspuren auf dem Rücken seines Liebsten. Beide umschließen jeweils mit einer Hand das erigierte Glied des anderen. Aus einem sanften Umfassen wird ein kräftiges Auf- und Abbewegen der Hände. Und immer wieder küssen sie sich. Herbert will an diesem Tag Aaron besitzen, er will in ihn eindringen, will seine Männlichkeit entladen, pulsierend, laut stöhnend will er kommen. Er hebt Aarons Beine an, zärtlich wird der erregte, angefeuchtete Penis eingeführt. Die beiden schauen sich an, wissen, dass sie das Schönste auf der Welt miteinander teilen. Aaron stöhnt leicht auf, ist ausgefüllt, kein Schmerz, nur Lust und Verlangen, sie lassen sich aufeinander ein, finden ihren Rhythmus. Kurz darauf entladendes Schreien, Stöhnen, Aaron und Herbert kommen beinahe zeitgleich. Ihre Liebesgeräusche bleiben im dicken Gemäuer hängen. Nackt betrachten sich die beiden, ihre Hände streicheln zärtlich die noch immer erregte Haut des anderen. Lachen befreit, wird unterbrochen von Küssen, die kein Ende nehmen wollen.

Die Zeit rückt voran, sie sollten vernünftig sein, sich anziehen, sich verabschieden, sie zögern die Trennung hinaus. Herbert ist auf seinem Ellenbogen gestützt, zärtlich streichelt er Aarons behaarte Brust, die Finger wandern über einen ermatteten Körper, die Augen folgen der Hand, diese berührt flüchtig den beschnittenen Penis. Herbert schaut Aaron fragend an, dieser schließt seine Augen. »Jude eben«, flüstert er unbekümmert.

»Wenn das mein alter Herr wüsste ... oh-oh!«, erwidert Herbert, »aber natürlich darf er gar nichts wissen von dem, was wir hier tun«. Er legt sich auf Aaron, verweilt und küsst ihn, dann krabbelt er vom Tisch und seufzt beglückt. Aaron folgt ihm, schaut auf den breiten Rücken, betrachtet die etwas schmalere Taille, den prachtvollen Po, er ist hingerissen von dem, was er sieht. »Ich muss zur Universität, eine Klausur schreiben. Wann sehe ich dich wieder? Ich brauche dich jeden Tag!« Sanft löst Herbert sich aus Aarons Armen.

»Mein Herz, Freitagabend können wir uns sehen, du holst mich nach meinem Feierabend ab, ja?«

»Aaron, erzähle mir niemals mehr von deinen Kunden und nimm auch nicht mehr das Wort ›Liebesdienst‹ in den Mund, es schmerzt zu sehr. Ich will glauben, dass ich der Einzige bin, den du liebst.«

»Aber das bist du doch, glaube mir.«

Sie ziehen sich schweigend an, Herbert ist in Gedanken schon an der Universität. Wird er seine Eifersucht bezwingen können, wird er ihn anschauen können, ohne an die Freier denken zu müssen, die sich Aaron bemächtigen? Aaron steht hinter Herbert, legt seine Hände auf dessen Hüften, küsst den Nacken. Herbert lehnt sich zurück, will nicht denken, nur diesen einen Moment genießen, hört leise an seinem Ohr: »Ich liebe dich jetzt schon.«

Berlin-Dahlem – Herbst 1957

Herbert und Aaron verlassen das Schlafzimmer. Warum verdrängen sie immer wieder, dass der Sex ihnen nicht hilft, ihre Probleme zu lösen? Immer öfter verletzen sie sich. Worte werden zu Handgranaten. Was ist ihre Liebe noch wert, besteht sie überhaupt noch? So oft machten sie Klimmzüge, schlugen sie Bögen, verschwanden in Hauseingängen, hielten den Atem an. Längst vergangene Zeiten.

»Möchtest du einen Kaffee?«

Aaron füllt den Kessel mit Wasser, entzündet den Gasherd. Sie schauen sich an.

»Der Bundespresseball, du hast eine Einladung, wirst du hingehen? Soweit ich weiß, wird Hildegard Knef dort sein, Schmeling und seine Frau Anny Ondra auch, Magda Schneider und Tochter werden erwartet.«

»Aaron, wenn wir nichts tun, verlieren wir uns!« Herbert ist verzweifelt, seine ruhige Art verliert sich. »Hilf mir, lass mich nicht allein.« Er hoffte, wie alle anderen auch, dass es nach dem Krieg wieder werden würde wie damals. Die Menschen spuckten in die Hände, glaubten an eine Zukunft. Das Schlagwort hieß »Wiederaufbau«, alle waren voller Hoffnung. Alte Freunde kamen nach und nach wieder aus den Zuchthäusern, den KZs in die so sehr vermisste Stadt zurück. Unvergessen die, die von den Nazis ermordet wurden. Endlich konnten aufregende Pläne geschmiedet werden. Nur ein Wermutstropfen hing in der Luft: Aaron und er konnten sich in der zerstörten Kraterstadt nicht finden. Wie viel Leid kann ein Mann ertragen?

Die Flöte vom Wasserkessel pfeift. »Wie lange kämpfen wir schon? Wann hat unsere Liebe aufgehört, selbstverständlich zu sein?« Aaron bereitet den Kaffee. »Herbert, ich weiß oft nicht weiter. Sobald ich dir die Wagentür öffne, damit du in den Wagen steigen kannst, möchte ich einen Fussel von deiner Anzugjacke zupfen, lasse es aber, es könnte ja jemand sehen und Andeutungen machen ... Wir sind Gefangene, unsere Gehege haben Höhlen, dort können wir ungestört sein. Unser Gefühl von Sicherheit haben sie uns ausgeschlagen. Schau dir mein Gebiss an, der beste Beweis dafür! Jedes Mal, wenn wir unsere Burg verlassen, schauen wir uns in sämtliche Richtungen um. Bloß nicht auffallen und dadurch verdächtig wirken, nie kann man sich sicher sein. Die Denunzianten haben ihre Arbeit wieder aufgenommen. Sie sollen sehr erfolgreich sein, obwohl es für ihre Arbeit keine Prämien gibt, Ehrensache eben.«

Herbert holt das Kaffeegeschirr aus dem Schrank, sie setzen sich an den Tisch. Müde sind sie. Die beiden fühlen sich um so vieles betrogen. Hände liegen auf der Tischplatte, bewegen sich aufeinander zu. Augen suchen im anderen Halt, doch die Kräfte sind ausgezehrt.

»Wäre die DDR keine gute Idee gewesen? Du bist Kommunist, mit offenen Armen hätten sie dich aufgenommen. Der Schriftstellerverband, hat dich das nie gereizt? Deine Themen wären tiefgreifender, reflektierter, gesellschaftspolitisch von Relevanz. Produktivität auf der ganzen Linie, du hättest wieder Spaß am Schreiben bekommen.«

»Ich war Kommunist? Das ist lange vorbei.«

»Bundespresseball, ja oder nein?«

»Gib mir noch Zeit.«

Champagner und Wodka – Frühling 1927

Feierabend vom KaDeWe. Aaron läuft, was das Zeug hält, er biegt in die Nürnberger, klingelt bei »von Lugenhold«, wirft sich gegen die schwere Haustür, welche sogleich aufspringt. Vier Treppen zu überwinden kann eine Ewigkeit dauern, wenn man es eilig hat. Seine Freundin Anton steht in der Wohnungstür und schaut einem Wirbelwind entgegen. Aaron versucht, Luft zu holen, immer wieder setzt er zum Sprechen an, stolpert über die lästigen Endsilben.

»In Ordnung, wie heißt er? Was will die berühmteste Berliner Edelhure trinken? Ist Champagner gut genug?« Anton hängt Aarons Mantel an die Garderobe und führt ihren zwanzig Jahre jüngeren Freund, der voller Energie Funken zu sprühen scheint, in den Salon. Dort sitzt bereits eine elegant gekleidete, dickliche Frau auf einer Chaiselongue, die nackten Füße auf einem antiken Beistelltischchen abgelegt.

Aaron berichtet, dass er sich verliebt habe, in den süßesten Mann Berlins.

»Aber natürlich. Was denn sonst?«

»Du glaubst es nicht, aber ich schwöre dir, er hatte erst zwei Männer vor mir, natürlich war ich sehr zärtlich, ist ja klar, stell dir vor: im Lager des KaDeWe. Es war so unbeschreiblich romantisch«, Aaron lässt sich in einen Sessel fallen, »na, du weißt ja nicht, wie es sein kann, wenn man den Kopf verliert?« Er seufzt und stellt fest, dass sein Glas leer ist.

»Nein, nein, natürlich nicht, wie auch? Darf ich vorstellen: Claire, die kennst du sicher? Wir haben es uns ein wenig gemütlich gemacht und genießen ein Glas Champagner.«

»Nö, woher denn? Ich brauche noch einen Schluck, kann ich zum Essen bleiben, ich muss mich stärken, na, bei meinen Berufen, da soll man nicht verrückt werden. Diese ganze Anstrengung, und allem muss man gerecht werden ... Claire, was machen Sie beruflich? Oder sind Sie vielleicht einfach nur reich? Ach, das muss so wunderbar sein, man genießt jeden Tag, der alltägliche Kram wird vom Personal erledigt. Ich bräuchte meinen Luxuskörper nicht zu verkaufen, an nie zufriedenzustellende Kunden, deren Wünsche ja auch immer ausgefallener werden. Wenn Sie wüssten ... na ja, ich will mich nicht beschweren, immerhin lohnt es sich finanziell. Na ja, was kann ein unbedarfter Junge wie ich schon tun?«

Anton schenkt Champagner nach. Aaron fläzt sich in einen Ohrensessel, sein linkes Bein hängt über der Armlehne. Seine Stirn legt er in Falten, schaut in die Gesichter der beiden dicklichen Frauen.

»Anton, ich kann auf Dauer so nicht weitermachen, die Lage ist kompliziert, Herbert hat so seine eigenen Moralvorstellungen, und ist somit gegen Prostitution. Aus seiner Sicht verständlich.«

»Du willst aufhören?«

»Aber nein, ich muss das Geld nur gewinnbringend anlegen, verstehst du?«

»Nein.«

»In einer Ausbildung, ich meine, für mich kommt nur Schauspielerei oder Tanz in Betracht, bei meinem Talent, das versteht ihr doch?«

»Aber natürlich. Woher weißt du das, mit dem Talent, meine ich?« Anton schmunzelt.

»Na, darüber müssen wir wohl nicht diskutieren. Aber wie funktioniert das? Die von der Ufa oder der TOBIS und wie sie alle heißen warten doch nicht auf einen wie mich.«

»Wenn ich mich einmischen darf ...«, Claire lässt ihr zartes Champagnerglas in der Hand kreisen, »das Beste ist, wenn Sie Rollen einstudieren, dann sprechen Sie bei einschlägigen Schauspielschulen vor. Reinhardt würde ich empfehlen, mit viel Glück können Sie dort als Eleve eine Ausbildung beginnen.«

»Kann man mit ihm auch über die Art der Bezahlung reden?«

»Ich verstehe nicht.«

»Doch, Claire, du verstehst! Außerdem kannst du den Jungen duzen, sonst glaubt er noch, etwas Besonderes zu sein«, wirft Anton ein, »und nein, mein Lieber, Reinhardt bevorzugt Bares.«

»Der Vorteil ist, dass Reinhardt eigene Theater in Berlin betreibt, in denen er seine Schüler auftreten lässt«, gibt Claire noch zu bedenken.

Aber Aarons Kopf ist schon wieder ganz woanders. »Was gibt es zu essen, Anton?«

»Kalten Braten, Salat, ein schönes Bier dazu.«

Der Abend nimmt kein Ende, der Alkohol macht langsam besoffen, albernes Lachen erfüllt den Raum, die drei sind aufgekratzt. Wohin kann man noch gehen? Eine Frage, beinahe lallend in den Salon geworfen, wartet auf Beantwortung. Das »Cosy-Corner« wird nach heftiger Diskussion endlich als Möglichkeit akzeptiert. Anton weiß zu berichten, dass Klaus Mann hin und wieder mit seiner Schwester dort auftaucht. »Klaus soll dort immer viel Spaß haben, wird erzählt, leider hat er Probleme und konsumiert einfach zu viel, wovon, brauche ich wohl nicht zu erzählen«, endet sie.

Ein Knopf neben dem Lichtschalter wird gedrückt und nur wenige Augenblicke später steht Charlotta in der Tür.

»Gnädige Frau haben gerufen?«

»Ich brauche den Brennabor. Wir möchten noch das Haus verlassen, bitte fahren Sie den Wagen vor.«

Claire und Anton haken sich unter, verschwinden ins Schlafzimmer, um sich in Hosen und Jackett zu werfen. Aaron hat wieder auf Champagner umgestellt, er füllt sein Glas erneut auf.

Endlich sind die Damen wieder zurück, haben sich zu stark geschminkten Männern herausgeputzt. Rote Stola, um den Hals gelegt, sie spielen mit den Geschlechtern, lieben es, Menschen zu verwirren.

»Nun, meine Lieben, dann nichts wie los! Das ›Cosy‹ ruft.«

Die Damen setzen sich ihre Männerhüte auf. Der brummende Wagen steht bereit. Charlotta wirft die Wagentür zu, klemmt ihren dicken Körper hinter das Lenkrad, stöhnt leise:

»Das kann ja wieder eine lange Nacht werden.«

Aus dem »Cosy« erklingt Musik, noch spielt die Kapelle. Die Stimmung ist heiß im Lokal, es wird getanzt, Zigarettenrauch brennt in den Augen. Aaron hat sich entschlossen, die Nacht zum Tag zu machen, das heißt für ihn: mit allen Konsequenzen. Am Morgen wird er mit Kaffee wieder in Gang kommen.

»He, Aaron, lange nicht gesehen. Wo treibst du dich denn in letzter Zeit so rum?«

»Ach Eckbert-Dieter, das Leben fordert mich, aber davon hast du eh keine Ahnung.«

»Aaron, du wirst auch immer eingebildeter!«

»Nimmst du deine Hand von meinem Arsch, ich bin nämlich neuerdings glücklich vergeben, große Liebe und so ... aber das kennst du ja nur vom Hörensagen, nun, jeder muss sein Schicksal annehmen, wie es kommt.«

Aaron bekommt ein Glas mit Champagner in die Hand gedrückt, lässt Eckbert-Dieter stehen, verhindert so, dass seine vergangene Affäre ihn auf die Tanzfläche zieht und zudringlich wird. Die beiden üppigen Frauen tanzen eng umschlungen.

Die Kapelle räumt lange nach Mitternacht die Instrumente zusammen. Die drei ziehen weiter, in ein anderes Tanzlokal, die Nacht ist noch jung, die Stimmung ausgelassen. Alkohol und Drogen fließen in großen Mengen.

Zwei Stunden noch, dann muss Aaron im KaDeWe seinen Dienst antreten. Sein Kopf ist schwer. Die Küche in Antons Wohnung ist hell erleuchtet, seine Augen wollen sich nicht gewöhnen, verweigern dem beginnenden Tag den Zutritt. Aspirin liegt vor ihm auf dem Tisch. Der Kessel pfeift, terrorisiert Aarons Ohren. Kaffeeduft verteilt sich im Raum. Zwei Tassen werden gefüllt. Übermüdet verbrennt sich ein champagnerumnebelter, großer Junge seine Lippen am dampfenden Getränk, unterdrücktes Fluchen bricht sich Bahn.

»Oh Gott, wie soll ich diesen Tag nur hinter mich bringen?«

Aspirin landet im Mund und wird runtergewürgt. Seine Tasse wird immer wieder mit Kaffee aufgefüllt. Der Badeofen ist schon angeheizt.

»Willst du ein Bad nehmen? Mit irgendetwas muss ich dich doch auf Vordermann bringen«, sagt Anton.

Wasser ist eingelassen, Aaron entkleidet sich, rutscht vorsichtig ins heiße Schaumbad, Anton sitzt in einem eleganten Pyjama auf der Toilette.

Die Tablette beginnt zu wirken, Aaron ist schon wieder voller Tatendrang. »Was hältst du davon, am Wochenende an die Ostsee zu fahren? Wir könnten Herbert fragen, ob er Lust hat, mitzukommen.«

»Ich glaube, du hast gar nichts mehr mitbekommen ...« Anton erzählt über die letzte Nacht, wie Aaron kaum noch auf die Beine stehen konnte, »... und wolltest unbedingt mit Claire noch vor dem Chicago tanzen ... die Straßenreiniger waren schon unterwegs, wir mussten dich immer wieder überreden, in den Wagen zu steigen«, wie ihre Chauffeurin Charlotta mithelfen wollte, Aaron ins Auto zu bugsieren, sie dabei ausrutschte, ihren Fuß verstauchte und ein Taxi gerufen werden musste, und dass sie zurzeit niemanden habe, der ihren Wagen fahren könnte. »Ich will mich jetzt nicht als Großtante Hildegard aufspielen, aber solltest du dir nicht mal über deinen außergewöhnlichen Champagnerkonsum Gedanken machen?«

»Nun übertreibe mal nicht ... hin und wieder kann man doch das Leben genießen und über die Stränge schlagen.«

»Aaron, du redest Quatsch. Willst du nicht Karriere machen? Berühmt sein? Von Kunst machen will ich gar nicht reden. ›Star‹ sein, was immer das auch ist, aber es bedeutet auf jeden Fall, hart zu arbeiten, und wenn ich jetzt ins Detail gehe, ohne Namen nennen zu wollen, weiß ich von Claire, dass Alkohol oder Kokain viele Schauspieler kaputtgemacht haben, die dann in der Gosse gelandet sind.«

»Jaja, Anton, bist du mit der Gardinenpredigt endlich fertig? Wenn du so weiter meckerst, rufe ich dich bei nächster Gelegenheit mit deinem richtigen Namen auf dem Ku’damm: ›Mechtild!‹«.

Anton will sich entrüsteten, fängt jedoch herzlich an zu lachen. »Kein Mensch hier in Berlin weiß, dass ich nach dem zweiten Vornamen meiner Patentante heiße ... und das soll auch so bleiben!« Sie steht auf, öffnet das Fenster, damit der Dampf abziehen kann, »du weißt doch ...«, sie dreht sich wieder zu Aaron, »dass sich viele meiner Freundinnen einen Männernamen gewählt haben.«

Aaron lässt heißes Wasser nachlaufen. »Na wunderbar, da hast du Personal, und wir müssen uns über deren Eskapaden beziehungsweise deren Beinbrüche und was weiß ich noch Gedanken machen.« Er rutscht bis zum Hals in die Wanne. »Unabhängig von Lohnempfängern sollte man sein.« Zwei spitze Knie schauen aus den Schaumbergen heraus. »Na klar, wir machen den Führerschein, das wird super. Abgemacht?«

»Aaron, du spinnst. Nur weil Charlotta einmal ausgefallen ist. Vielleicht hast du schon mal davon gehört: Von Berlin aus fährt auch die Reichsbahn an die See, oder wir mieten eben eine Fahrerin.«

»Nein wirklich, Anton, mit der Bahn, das ist zu gewöhnlich. Unabhängig von deiner zweiten Idee können wir das Autofahren lernen, dann lasse ich mich ausnahmsweise auch darauf ein, mit der Bahn an die See zu fahren. Victors Fahrer hat mir eine Fahrschule empfohlen.«

Anton reicht Aaron ein Badelaken.

»Ich überlege es mir, und werde Fahrkarten reservieren lassen.«

Aaron kleidet sich an, bürstet sein feuchtes Haar.

»Dann treffen wir uns am Samstag in der Früh bei mir, die genaue Uhrzeit lasse ich dir noch zukommen. Übrigens bin ich neugierig auf deinen neuen Liebhaber«, spöttelt Anton.

Alle auf die Bühne! – Frühling 1927

Herbert sitzt im Vorlesungssaal, versucht, seinem Professor zu folgen. Nur Fetzen kommen bei ihm an. Es ergibt keinen Sinn: Pressefreiheit, Unabhängigkeit. Als aufklärender Reporter hat man eine besondere Verantwortung. Herbert hängt seinem großen Traum nach: Einmal nur möchte er in die Sowjetunion reisen. Als Reporter über die Erfolge des Kommunismus berichten, wie sich die Menschen vom Feudalsystem befreit haben, nicht zuletzt auch durch Waffengewalt. Jeder war bereit, alles zu riskieren, auch das eigene Leben. Kolchosen würde er besuchen und ergründen, sehen, wie die Landwirte zusammenarbeiten auf den großen, weiten Feldern und sich von der großartigen Alphabetisierung berichten lassen. Neugierig zuhören, im Einzelnen erfahren, dass die Frauen die gleichen Rechte wie die Männer haben. Und dann, zurück in Deutschland, würde er niemanden in Unkenntnis darüber lassen. Die gerechte Verteilung der Nahrung. Hunger ist zum Fremdwort geworden. Und zu guter Letzt noch Genosse Stalin interviewen. Er könnte in Zeitungen eine Serie über dieses wunderbare Land und seine Erfolge schreiben. Herbert versucht wieder, seinem Professor bei dessen Ausführungen zu folgen. Doch die Gedanken schweifen zu seinem Freund. Er schaltet im Kopf einen Schalter um. Andere Bilder drängen an die Oberfläche. Sein Vater wird nach Berlin kommen. Text muss er auch noch lernen. Heute treffen sie sich im Proberaum, um weiter am Stück »Hallo, Kollege Jungarbeiter« zu proben. Hoffentlich hat Valentin ihn nicht wieder so im Blick, der ist immer besonders kritisch, nur weil Herbert, im Gegensatz zu den Arbeitern aus der Truppe, ein Studium absolviert.

Wodka fließt in Gläser, da ist er dann wie alle anderen auch. Na dann, viel Spaß und Arbeiter an die Macht! Herbert fühlt sich aufgehoben, er weiß, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hat. Ja, er ist mit Leib und Seele Kommunist und denen gehört die Zukunft.

»Leute, alle auf die Bühne! Manchmal denke ich, ihr seid nur ein Haufen Hummeln ... nicht nur, dass ihr euren Text nicht gelernt habt, ihr fühlt auch eure Rollen nicht.« Valentin bewegt sich hin und her. »Herbert, glaubst du wirklich, dass ein Arbeiter nach einem Zwölf-Stunden-Tag so die ungeheizte Küche betritt? Seine Frau versucht, aus Mehl, einigen Kohlrüben und verfaulten Kartoffeln ein Abendessen zu bereiten. Die Kinder sind hungrig, die Betten sind feucht, eines wurde vermietet. Sobald der älteste Sohn auf Nachtschicht ist, wird das Bett vom Produktionsarbeiter Michael in Beschlag genommen.« Die Stimme des Regisseurs ist eifrig. »Ich sage: Nein, du verstehst es nicht, hier geht es um mehr, die grenzenlose Armut, die Verzweiflung, das Geld reicht nie, die Menschen träumen von einer gerechten Welt. Sie haben von der Sowjetunion gehört, wissen, dass sie einen hoffnungsvolleren Weg vor sich haben. Die Weltrevolution. Doch bis dahin bohrt der Hunger jeden Tag tief in die Magengruben.« Der Macher ist außer sich. »Verdammt noch mal, gib dir endlich Mühe! Hier geht es nicht nur um Schauspielerei, wir müssen immer die neue Zeit im Kopf und vor allem in unseren Herzen tragen, verstehst du?«

Herbert erschrickt, die Lautstärke, in der man ihm Vorwürfe macht, verunsichert ihn und lässt ihn zu einem beschränkten Nichtsnutz werden. Röte schießt ihm ins Gesicht. Er hört genau zu, was Valentin zu sagen hat, wie er ihm begreiflich macht, dass er darauf zu achten hat, sich wie ein ehrlicher Arbeiter zu fühlen.

»Wir machen eine Pause.« Valentin hat wieder rumgepoltert, Floskeln werden zwischen den Schauspielern hin und her geworfen, bevor der Regisseur seine Truppe wieder zusammenpfeift. »Seid vernünftig ... alles auf Anfang!« Nun treibt er die jungen Leute wieder in ihre Rollen, peitscht Befehle von seinem Regiestuhl aus, hilft bei Texthängern. Er ist Perfektionist und auch stolz darauf, dennoch bereit, das eine oder andere durchgehen zu lassen, doch bei der Arbeit hier verlangt er höchste Konzentration. Eine russische Delegation wird in zwei Monaten erwartet, vor denen wollen sie ihr Stück aufführen. Nach zwei Stunden ruft er: »Feierabend! Nächste Woche habt ihr den Text gelernt, ist das klar, Genossen?«

»Genossen« kommt einem Ritterschlag gleich. Herbert inhaliert jede Silbe. Er gehört zu ihnen.

KaDeWe. Die letzten Kunden haben das Warenhaus verlassen. Aus dem Personalausgang strömen Sekretärinnen und Kassiererinnen, Verkäuferinnen, Schneiderinnen, Dekorateure, Buchhalter und Kantinenarbeiterinnen.

Auf dem Bürgersteig ein blonder Kopf, überragt viele, wird von Aaron erfreut wahrgenommen.

»Wie verabredet: Hier bin ich.« Herberts Augen strahlen Unsicherheit aus.

Sie stehen sich nah gegenüber.

»Gehen wir essen?« Aaron lächelt. »Nicht weit von hier gibt es eine kleine, gemütliche Kaschemme mit alten, groben Holztischen.«

Sie spüren den Atem des anderen.

»Wohin willst du mich entführen? In die Unterwelt?«, witzelt Herbert.

Sie verweilen, schauen sich zärtlich an.

»Na, wer weiß, was der Abend noch mit sich bringt.«

Die Decke hängt tief, in kleinen Nischen auf den Fensterbänken stehen wappenverzierte Bierkrüge. Rauchschwaden von russischen Zigaretten hängen in der Luft. Der Kellner bringt Eintopf. Die beiden trinken Bier, essen mit großem Appetit. Küsse sind in dieser Umgebung ausgeschlossen, jedoch finden sich unter dem groben Holztisch ihre freien Hände, wollen sich nicht voneinander lösen. Sie verschlingen sich mit den Augen, der Wunsch, sich ungestört zu küssen, ist spürbar. Seufzer werden unterdrückt.

»Du willst sicher nach Hause!« Herbert hat Aarons Gähnen hinter vorgehaltener Hand längst wahrgenommen. »Ich sehe doch, dass du kaum noch die Augen aufhalten kannst ...«

Sie lächeln, legen die Löffel beiseite, schauen sich an, um dann vom Tisch aufzustehen, die Rechnung wird im Stehen beglichen.

Im Freien, die Luft ist warm, streichelt die beiden Verliebten. Sie gehen nebeneinander, Aaron gibt die Richtung vor. In einer engen Gasse bleibt er unerwartet stehen, hält Herbert an seinem Hemdsärmel fest.

»Ich möchte noch nicht nach Hause«, flüstert Aaron, abrupt muss Herbert stehen bleiben, ihm zugewendet, »ich will die Nacht mit dir verbringen.« Fragend schaut Aaron Herbert tief in die Augen. »Einige Straßen weiter kenne ich eine kleine Pension, dort werden wir heute übernachten ... außer du ziehst es vor, die Nacht allein zu verbringen?«

»Nein, ganz und gar nicht«, erwidert Herbert und spürt, wie ihm die Hitze ins Gesicht steigt.

Aaron bittet Herbert, einen Moment vor der Pension zu warten. Nun steht er im Eingangsbereich am Tresen, erklärt der alten Greta, dass er diesmal nicht mit einem Kunden erscheint, sondern mit seinem süßen neuen Freund, bittet darum, keine Bemerkung fallen zu lassen, die darauf hindeuten könnte, dass er sich hier immer wieder mal mit Kunden blicken lässt. Aaron holt seinen Herbert in die Pension, sie nehmen die Treppe in die erste Etage, nichts, was an seinen Beruf erinnert, zeigt sich heute, keine Sektflasche, keine speziellen Spielzeuge, die rote Birne muss nicht in die Fassung gedreht werden, die Beleuchtung der Nachttischlampe reicht für zwei Verliebte aus.

Die Männer stehen mitten im Raum. Für einen Moment ganz still. Sich ganz tief in die Augen schauend. Und dann fallen sie übereinander her.

Das alte Bett macht bei jeder Bewegung Geräusche, es ist nur neunzig Zentimeter breit, viel mehr Platz brauchen sie nicht. Die Vorhänge sind zugezogen, die Hinterhöfe noch hellwach. Aaron und Herbert küssen sich. Immer wieder. Immer in Leidenschaft versunken. Aus dem halbgeöffneten Fenster ein Kindergeschrei, eine Frau verlangt nach Ruhe. Teppiche werden geklopft. Ein Ball knallt immer wieder gegen die Mauer. Eine Frauenstimme schreit »Essen fertich!«. Die Geräusche streifen zwei liebende, junge, nackte Körper, die Dunkelheit umarmt beide Männer und segnet sie sanft ab. Der Mond schenkt ihnen zärtliches Nichtstun, die Nachttischlampe ist ausgeknipst, zufriedenes Schnarchen weiß noch nichts vom Morgen danach.

Die Sonne kitzelt Nasen. Arme liegen übereinander, Augen blinzeln. Lippen berühren sich zärtlich.

»Guten Morgen«, flüstern sich die beiden zu, obgleich es keinen Grund gibt, leise zu sein. Herbert streckt sich, Aaron steht auf, um nach den Zigaretten zu kramen, legt sich mit diesen wieder zu Herbert. Er steckt sich zwei in den Mund und zündet sie an, Herbert nimmt sich eine davon und atmet den Rauch tief ein.

»Von einem Leben wie diesem träume ich schon sehr lange, nur dachte ich nie daran, dass es eines Tages wahr werden könnte. Meine Familie ist katholisch, alles, was nicht der heiligen Ehe entspricht, ist Sünde. Mein Vater liebt mich sehr, aber er würde mir dieses hier nie verzeihen.« Herbert ascht seine Zigarette im Aschenbecher ab, er setzt sich auf die Bettkante.

»Meine Mutter ist Kommunistin ...«, Aaron drückt seine Zigarette in dem ihm gereichten Aschenbecher aus. Er küsst Herbert oberhalb des Pos. »Kommunisten kämpfen für die Gerechtigkeit, aber uns so leben zu lassen, wie wir es wollen, ist mit ihrem Denken auch nicht vereinbar ... Und deine Mutter ...? Ist sie Hausfrau?«

»Sie ist verstorben, ich erinnere mich nur sehr dunkel an sie. Ich glaube, meine Eltern waren glücklich.« Herbert erhebt sich aus dem Bett, drückt seine Zigarette aus, greift nach seiner Unterhose.

In dem kleinen Frühstücksraum steht der Kaffee schon dampfend auf dem Tisch.

»Meine Freundin Anton und ich wollen an die Ostsee fahren, hättest du Lust, mitzukommen?«

»Das wird leider nichts, mein Vater ist am Wochenende in Berlin.«

»Ist da wirklich nichts zu machen?« Aaron rollt die Augen, wirft die Stirn in Falten, spitzt seine Lippen. »Mein Herz, bitte, das wird wunderbar, wir werden auf weißem Sand liegen, Burgen bauen, Fisch essen und uns verliebt anschauen.«

»Ich schau, was sich machen lässt, aber ich kann dir nichts versprechen.«

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