Kitabı oku: «Totgeschwiegene Leben»
Rut Bernardi
Totgeschwiegene Leben
Literarische Porträts
Ist es zulässig, vor Missständen einfach die Augen zu verschließen? Wie kann sich der verhältnismäßig schwache Mensch gegen die Übermacht der bedrohlichen Wirklichkeit behaupten? Gelingt es ihm tatsächlich nur mithilfe einer Kultur, die sich nicht unmittelbar auf die Welt einlässt, sondern Abstand zu ihr hält?
Inhalt
Vorwort
Luzifer, der Lichtträger
Maria Theresia Sanoner (1759–1809)
Nemo propheta in patria
Matie Ploner (1770–1845)
Der Ledermantel
Rosalia Nogler (1878–1957)
Opportunismus oder Überlebenskunst?
Anna Maria Wanker (1891–1964)
Der Kirschbaum blüht im Frühling
Pepi Demetz (1916–1998)
Anmerkungen
Literarische Quellen und Dokumente
Vorwort
Durch meine Arbeit an der Geschichte der ladinischen Literatur, die 2013 an der Freien Universität Bozen erschienen ist, und durchs Hörensagen wurde ich mit Menschen konfrontiert, die Neugierde in mir auslösten. Es entstanden literarische Porträts über außergewöhnliche Persönlichkeiten meiner näheren ladinischen Umgebung. Das Lokale sollte aber nicht im Mittelpunkt stehen.
Diese Menschen hat entweder das Schicksal oder die eigene Entscheidung auf einen unkonventionellen Lebensweg geführt, der eine Selbstgestaltung fernab von allem Eingespielten, Konformistischen und Philisterhaften ermöglichte. Ob es sich bei den Lebensentwürfen um ein Scheitern oder Gelingen handelt, bleibt offen.
Es wäre schier unmöglich, solch interessante Geschichten für die Literatur zu erfinden, wie sie uns oft vom Leben geboten werden. Das Leben selbst schreibt Geschichten – schöne, hässliche, verschlungene, schauderhafte –, die man nicht glauben würde, wären sie erfunden.
Als Modell dienten die Essays von Michel de Montaigne (1533–1592). Ein Essay (Versuch) ist ein literarischer Text, der sich mit historisch-sozialen Fakten aus dem persönlichen Blickwinkel der Autorin oder des Autors auseinandersetzt. Das Interesse der Leserin oder des Lesers soll dadurch geweckt werden, dass diese Fakten aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufgezeigt und Fragen aufgeworfen werden, die meist unbeantwortet bleiben. Wissenschaftliche Kriterien werden in einem Essay nicht strikt eingehalten und die Autorin oder der Autor hat große gestalterische Freiheit, die historischen Lücken fiktional zu füllen. Der essayistische Stil ist experimentell und soll den Leserinnen und Lesern Denkanstöße bieten. Der Text soll unterhaltend und in einer klaren und leicht verständlichen Sprache geschrieben sein.
Luzifer, der Lichtträger
Es war Hochsommer. Maria Theresia Sanoner1 trat durch das Aufgangstor zum Kloster. In den kühlen Gassen des mittelalterlichen Städtchens hatte sie sich ausgeruht und war nun für den letzten Anstieg bereit.
Der Treppenaufgang bis über die Dächer der Stadt, mit den unregelmäßig hohen Steinstufen, machte ihr zu schaffen. Auch wenn sie noch jung war, spürte sie nach dem stundenlangen Fußmarsch von Wolkenstein über St. Ulrich, St. Peter, Lajen und Albions bis nach Klausen Müdigkeit in den Beinen. Doch sobald sie sich wieder warmgelaufen hatte, fiel ihr das Gehen – auf dem Schotterweg an der Burgruine Branzoll, dem alten Hauptmannsschloss, vorbei und den ersten Stationen des Kreuzweges entlang – wieder leichter. Die Sonne brannte trotz fortgeschrittener Stunde immer noch unerbittlich auf ihr kleines Bündel, das sie am Rücken trug.
Als sie nach der ersten Kehre an der IV. Station den Bischofshof, den einzigen Hof entlang des Weges, erreicht hatte, drehte sie sich um und überblickte gegen Süden das Tal mit dem Eisack, der im Abendlicht wie eine glitzernde Ringelnatter dahinkroch. Auf der gegenüberliegenden Talseite türmten sich über dem dichten Wald von Ciani gewaltige Wolken auf. Zu Hause wird es wohl schon gewittern, dachte sie. Das Grödental lag hinter der Waldkuppe und man konnte es von Säben aus nicht sehen.
Der Weg wurde nun etwas steiler und war mit groben Natursteinen gepflastert. Sie spürte die Hitze am Hinterkopf und zog ihr Halstuch über den Kopf. Ein Kopftuch hatte sie auch zu Hause bei der Arbeit im Stall und auf dem Feld getragen. Die Haube würde für sie keine Umstellung sein. Der Anstieg endete an der VI. Station; dort war sie bereits am hinteren Rand des Dioritfelsens angelangt. Bei Gesteinen kannte sie sich aus, schon seit ihren Grödner Kindheitstagen.
Erschöpft setzte sie sich auf einen großen Stein und sah mit gemischten Gefühlen ins Tal hinunter. Würde sie jemals wieder zurückkehren? Sie wehrte sich gegen diesen Gedanken, wollte ihn nicht weiterspinnen und setzte ihren Weg entlang der Rebmauer fort. Hier raschelte und knisterte es laut im Gebüsch oberhalb des Weges. Eidechsen huschten aufgeregt umher, Vögel flatterten ängstlich davon. Und plötzlich sah sie ein kleines eigenartiges Tierchen, das ihr gänzlich unbekannt war. Erstaunt beobachtete sie, wie es gemächlich an einem Grashalm hochkletterte. Es war weder ein Schmetterling noch eine Heuschrecke. Die gab es auch in ihrem Tal, und sie kannte sie genau. Das Tier sah einer Heuschrecke zwar ähnlich, doch war es größer, grasgrün, hatte Flügel und sechs lange Beine, wobei die Vorderbeine sich wie zwei Zangenarme bewegten. Maria Theresia beobachtete gespannt die langsamen Bewegungen des Tieres, da drehte es seinen dreieckigen Kopf in ihre Richtung und sah ihr mit seinen grünen Facettenaugen direkt ins Gesicht. Da Maria Theresia ihm zu nahe getreten war, hielt es ängstlich inne, hob die vorderen angewinkelten Zangenarme wie zwei gefaltete Hände gegen den Himmel, wobei auf der Brust die Zeichnung eines vorgetäuschten schwarz-weißen Augenpaares sichtbar wurde, das zur Abschreckung diente, wie sie später von der Äbtissin erfuhr. Sie war einer Gottesanbeterin, Mantis religiosa, einer religiösen Seherin, begegnet. Etwas verwirrt und doch zuversichtlich ging Maria Theresia weiter, bis sie nach der letzten Kehre die VIII. Station erreichte. Dort öffnete sich das Rundbogentor der unteren Klausurmauer des Klosters.
Als sie durch das Tor trat, sah sie zu ihrer Rechten die hohe Wehrmauer mit den Schwalbenschwanzzinnen, den Schießscharten und dem großen baufälligen Mäuseturm, in dem sich – wie man im Städtchen erzählte – Geister tummelten. Er wurde auch Herrenturm genannt, denn er diente seit jeher dem Beichtvater, dem Kaplan und von Zeit zu Zeit den Zimmermännern, dem Müller oder dem Altardiener als Herberge, bis eine der ersten Äbtissinnen von Säben, M. Agnes Thekla Zeiller, um das Jahr 1740 das Paterhaus auf der Hinterseite des Klosterkomplexes erbauen ließ. Doch Maria Theresia wusste noch nichts von alledem und betrachtete erstaunt das gewaltige, abbröckelnde Mauerwerk des Säbener Wehrturms, an dem die Steine wie ein Damoklesschwert über den vorübergehenden Pilgern zu hängen schienen. Gleich dahinter erblickte sie die Liebfrauenkirche.
Als sie im offenen Vorhof der Kirche stand, hatte sie nach ihrem langen, beschwerlichen Marsch endlich das Gefühl, angekommen zu sein. Sie betrat die sommers bis am späten Nachmittag offene Kirche. Die Nachmittagssonne, die durch die Fenster strahlte, hatte die Deckenmalerei zu einem hellen Aufleuchten geweckt. Etwas so Schönes hatte Maria Theresia noch nie gesehen. Sie konnte ihren Blick nicht mehr von den prächtigen Bildern und Farben lösen.
Die acht birnenförmigen Freskomalereien der Kuppel2 stellten das Leben Marias von der Geburt bis zur Krönung dar, und Maria Theresia erinnerte sich an einzelne Erzählungen aus ihrer Kindheit, die Expositus Dominikus Trocker3 in den Predigten erzählt hatte. Die dutrina, der Unterricht in der christlichen Lehre auf Italienisch und Ladinisch, war ihre einzige Bildungserfahrung in der Jugend gewesen, denn sie war bereits 15 Jahre alt, als Kaiserin Maria Theresia in Tirol die Schulpflicht einführte. Aber da der Landesfürst Ferdinand II. schon im 16. Jahrhundert das Schulwesen in Tirol gefördert hatte, um der Ausbreitung des Luthertums und der Täuferbewegung entgegenzuwirken, hatten etliche Schulmeister und Geistliche auch in kleineren Dörfern die Glaubenslehre sowie Lesen und Schreiben gelehrt. In Tirol hatten vor allem der Bündner Jörg Cajacob aus Bonaduz, der in Gufidaun wirkte und 1529 in Klausen als Ketzer verbrannt wurde, und der Pustertaler Jakob Hutter aus Moos, der 1538 in Innsbruck hingerichtet wurde, großen Anklang gefunden. Zur Zeit der Gegenreformation wurde der Kirche die Wirksamkeit der Schulbildung zur Bekämpfung der neuen Lehre bewusst, und so hatte auch Maria Theresia Sanoner bei Expositus Trocker durch den Religionsunterricht Lesen und Schreiben gelernt.
Jetzt konnte sie es kaum erwarten, das Kloster zu erreichen. Gegenüber dem Mäuseturm stand in der inneren Klausurmauer ein großes Tor offen. Es war der Pilgerweg, der, an den letzten Stationen entlang einer etwas niedrigeren Mauer, durch den Klostergarten hinauf zum Kloster führte. Von dort gelangte man durch einen Torturm und über Stufen in die Klosterkirche. Ein bischöfliches Dekret verlangte, dass die Klosterkirche, die Heilig-Kreuz-Kirche und die Gnadenkapelle bei der Liebfrauenkirche den Pilgern tagsüber immer zugänglich blieben.
Maria Theresia nahm diesen Weg durch den Garten und begegnete höchstwahrscheinlich mehreren Pilgern. Wir stellen uns jedoch vor, wie sie stattdessen den Kreuzweg, der an der Klausurmauer außen entlang und durch zwei Tunnel führte, hinaufging, der freilich erst 100 Jahre später neu errichtet wurde. Um 1880 waren umfassende Umbauarbeiten am Klostergebäude und der Abbruch des Torturmes vonnöten gewesen. Außerdem drohte am östlichen Gartenrand der Felsen abzurutschen, sodass eine neue Kirchenmauer errichtet werden musste. Bei dieser Gelegenheit wurde der Klosterweg nach außen, der westlichen Klausurmauer entlang, verlegt, wobei die zwei Tunnel in den Felsen gesprengt werden mussten. Dadurch verlor die Anlage weitgehend ihr Aussehen einer mittelalterlichen Festung und gewann die Ausstrahlung eines Monasteriums.
Maria Theresia machte sich also auf, das letzte Wegstück zu gehen. Sie hoffte, keinen Pilgern zu begegnen. Den ganzen Tag über war sie allein unterwegs gewesen und hatte sich gedanklich auf die Aufnahme im Kloster vorbereitet. Nun wollte sie nicht noch zudringliche Fragen beantworten müssen, wie „Woher kommen Sie?“ oder „Was haben Sie vor?“.
Der Weg führte an der X. Station vorbei und in leichter Steigung an der Zinnenmauer entlang. Hinter dem Bergrücken hatte Maria Theresia nun einen freien Blick auf den Eingang ins Tinnetal und das Dorf Latzfons, das mit seinem Kirchturm wie ein Vogelnest am Hang klebte. Zu ihrer Linken sah sie, dass sie beinahe die Höhe von Schönberg4 und dem Ansitz Gravetsch erreicht hatte. Die zwei kleinen Kapellen der XI. und der XII. Station, an denen sie kurz innehielt, standen in kurzen Abständen an der Talseite des Weges, und Maria Theresia erreichte bald den ersten in den Felsen gebrochenen Tunnel. Sie hatte ein etwas unheimliches Gefühl, als sie durch den dunklen und engen Durchlass ging. Das Wasser rann an den Felsenwänden herab und tropfte auf ihren Kopf, sodass sie den Schritt beschleunigte, um schneller wieder ans Licht am Ausgang des Tunnels zu gelangen. Dort durchbrach ein zweiter kurzer Tunnel die innere Klausurmauer. Dann stand sie auf dem kleinen Vorplatz am Treppenaufgang zu den Kirchen. Links sah sie die XIII. Station, auf der rechten Seite des Platzes war die Empfangspforte mit dem Sprechgitter und der Windenvorrichtung. Sie hatte ihr Ziel erreicht.
Es war das Jahr 1785. Bei Tagesanbruch, als die Sonne hinter dem Sellastock aufging, war Maria Theresia Sanoner von zu Hause aufgebrochen. Der elterliche Hof Burdengëia auf Daunëi in Wolkenstein am nördlichen Sonnenhang war im Sommer von prächtigen Wiesen und im Winter von einer hohen Schneedecke umgeben, mit einem Rundblick vom Langental über die Berge von Puez, die Cirspitzen, die Sellagruppe und den Langkofel.5 Der Entschluss der jüngsten Tochter, ins Kloster zu gehen, kam für die Familie unerwartet, und Maria Theresia wurde unter Tränen verabschiedet. Aber sie hatte sich schon seit ein paar Jahren mit diesem Gedanken beschäftigt. Im Dorf hatte sie sich nur der drei Jahre älteren Maria Dominica Senoner anvertraut, die ebenfalls die Absicht hatte, ins Kloster Säben einzutreten, und die ihr fünf Jahre später tatsächlich folgte.
Am frühen Morgen war Maria Theresia noch wie jeden Tag in den Stall gegangen und hatte dem Vater beim Füttern und Ausmisten geholfen. Doch vor allem wollte sie sich von den Tieren verabschieden. Das Leben ohne ihre geliebten Tiere war das Einzige, vor dem sie Angst hatte.
Maria Theresia wurde am 23. Mai 1759 zu Burdengëia in Wolkenstein geboren. Schon als kleines Mädchen hatte sie die Gewohnheit, die Erwachsenen bei allem, was sie taten, und bei allem, was sie sagten, genau zu beobachten. Sie verstand so vieles nicht und dachte stets, dass sie als Erwachsene sicherlich alles durchschauen würde. Damals wunderte sie sich immer über das hohle Gespräch der Leute und verbrachte ihre Zeit am liebsten bei den Tieren. So ergab es sich, dass sie frühmorgens wie abends mit ihrem Vater in den Stall ging. Sie liebte es, die Kühe, die Kälber, die Ziegen und die Schafe, die Hennen und alle anderen Kleintiere zu versorgen. Ohne die Schweine zu vergessen, denen sie besonders zugetan war. Sie sprach immerfort mit ihnen, denn sie hatte das Gefühl, dass sie sie sehr gut verstanden.
Die Gewissheit, in dieser Welt fremd zu sein, hatte sich bereits früh bemerkbar gemacht. Es verwirrte Maria Theresia, wenn die Menschen das eine sagten und das Gegenteil taten. Sie war immer davon ausgegangen, dass alle es gut mit ihr meinten. So wurde sie öfters enttäuscht. Aber sie verlor dennoch nicht das Vertrauen in die Menschen. Als sie schon eine junge Frau war, drehte sie sich immer häufiger einfach auf die andere Seite, um nichts zu sehen und nichts zu hören.
Maria Theresia war nicht stark genug. Jeder Hausschlachtung versuchte sie durch eine Ausrede fernzubleiben. Sie erfand Verpflichtungen im Dorf oder kleine Arbeiten im Wald, um nicht sehen zu müssen, wie der Metzger die Kälber, die sie oft mit einem Stoffschnuller aufgezogen hatte, aus dem Stall zerrte und abstach. Am schlimmsten war im Herbst das Schweineschlachten.
Im Laufe der Jahre war sie immer empfindlicher und so verletzbar geworden, dass sie keinen Lärm mehr ertrug. Sie hatte zwar gehofft, dass für sie das Leben mit der Zeit erträglicher würde, doch das Gegenteil war eingetreten. Das Wegschauen oder Nichtdarandenken halfen zwar vorübergehend, doch es waren nur kurzfristige Selbsttäuschungen. Ihre Empfindsamkeit verwandelte sich immer mehr in Angst vor den Menschen und vor dem Alltag, und sie konnte kaum noch ins Dorf hinunter oder in die Messe gehen. Sie wurde immer misanthropischer und der Abstand zur Welt jedes Mal größer. Ans Heiraten war überhaupt nicht zu denken. Die Vorstellung, sich einem Mann zu unterwerfen und ein Kind nach dem anderen zu gebären, erfüllte sie mit Entsetzen.
Ein Leben im Kloster erschien ihr als der verlockende Weg, den Aufdringlichkeiten der Welt zu entrinnen. So wurde sie von Tag zu Tag entschlossener, auf Säben um Aufnahme zu bitten. Sie war 26 Jahre alt, als sie ihren Wunsch zu Hause mitteilte und bald darauf an jenem Sommermorgen zum großen Leidwesen ihrer Eltern von daheim wegging, obwohl das Grummet noch aufzunehmen gewesen wäre.
Nun stand sie vor der Klosterpforte und musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um an der Glockenkordel zu ziehen. Sie wusste nicht, was sie erwartete. Zu Hause war sie zwar sonn- und feiertags immer in die Messe gegangen, doch über Religion, Glauben und den Orden wusste sie nicht viel.
Eine noch recht junge Klosterpförtnerin schien schon auf sie gewartet zu haben. Es war Schwester Veremunda, Gräfin von Graßegg, die sie auch gleich ins Obergeschoss führte, wo die Äbtissin in einem kleinen Kabinett die Gäste zu empfangen pflegte. Maria Theresia spürte ihr plötzliches Herzklopfen und wäre am liebsten wieder davongelaufen, aber da stand schon die Äbtissin, Chorfrau Maria Candida Mayr, vor ihr, reichte ihr beide Hände und umarmte sie herzlich. Sie sprach nur wenige einfache Grußworte, und Maria Theresia stammelte leise vor sich hin: „Ehrwürdige Mutter, ich …“ Doch die Äbtissin beruhigte sie und führte sie ins große Dormitorium6, den Schlafsaal der Schwestern, und zeigte ihr die Bettstatt, auf der sie sich ausruhen sollte.
Nun war Maria Theresia allein. Sie lauschte der vollkommenen Stille. Da spürte sie die tiefe Ruhe ringsum und bemerkte, dass ihre vorige Ängstlichkeit verschwunden war. Erschöpft hatte sie sich auf das Bett gelegt und war offensichtlich sofort eingeschlafen, denn ihr schien, eine Ewigkeit wäre vergangen, als sie von einer der Schwestern sanft geweckt wurde.
Es war Abendessenszeit. Auf Säben war sie sehr früh angesetzt. Während eine Schwester aus der Bibel vorlas, aßen Chorfrauen und Laienschwestern gemeinsam in aller Stille ihre Suppe und ein Stück Brot. Nach dem Essen standen die Schwestern erst auf, als die Äbtissin ein Glockenzeichen gegeben hatte. An jenem Abend trat die Äbtissin noch an Maria Theresia heran, die ganz rot wurde und aus Verlegenheit den Kopf senkte. Da es draußen noch hell war, ermunterte sie die Äbtissin: „Kommen Sie, ich zeige Ihnen unseren Garten.“
Die Äbtissin Maria Candida ging voraus, um Maria Theresia den Weg durch Gänge und über Treppen in den Garten zu zeigen. Zuerst betraten sie den inneren, durch hohe Mauern geschützten Garten, wo sich betäubend duftende Kräuterbeete direkt am Kücheneingang befanden.
Da trat Magdalena Told aus der Küche und kam auf sie zu. Chorfrau Magdalena, genannt die Toldin aus dem Pustertal, war schon seit zehn Jahren auf Säben und eine tüchtige Küchenmeisterin. Sie erklärte Maria Theresia fachkundig die einzelnen Kräuter: Petersilie, Koriander, Dill, Kümmel, Bohnenkraut, Liebstöckel, Gartenkresse, Lorbeer, Rosmarin, Salbei, Schnittlauch, Thymian, Melisse, Estragon bzw. Kaiserkraut oder Schlangenkraut, Senfkraut und Bärlauch, der in einer schattigen Ecke unter Laubgehölz wuchs. Für Maria Theresia waren all diese Namen und Gräser unbekannt, hatten sie doch bei ihr zu Hause, auf 1700 Meter Meereshöhe, nur für zwei Sommermonate einen kleinen Garten mit etwas Salat und Pastinaken sowie ein kleines Feld für Gerste und Kartoffeln gehabt.
Die Äbtissin bemerkte, wie befangen Maria Theresia zuhörte, und sagte aufmunternd: „Wir wollen in den unteren Garten gehen, denn hier ist das unheimliche und obskure Reich der Chorfrau Karitas, der Apothekerin des Klosters. Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Das Heilwissen unserer Apothekerin wird in der ganzen Umgebung sehr geschätzt, und nicht selten kommen Bauern zu uns, denen die Ärzte nicht mehr helfen können. Chorfrau Karitas hat nach der Viersäftelehre schon so manchen Todkranken mit ihren wirksamen Extrakten und Elixieren wieder zum Leben erweckt. Sehen sie da drüben an der Klausurmauer am Abhang des Felsens das kleine Häuschen? Das ist die Apothekerküche, das Laboratorium.“ Und leise fuhr die Äbtissin fort: „Dort stellt Schwester Karitas Mixturen und Pulver her und destilliert Öle und Essenzen wie eine echte Alchemistin. Aber das muss nicht jeder wissen.“
Da huschte plötzlich ein kleines kohlrabenschwarzes Wollknäuel zwischen den Beinen von Maria Theresia durch und verschwand in Richtung Küche. „Und was war das?“
„Das war Luzifer, den uns vor ein paar Wochen ein Bauer gebracht hat. Er ist frech und schnell wie der Leibhaftige, doch wir lieben ihn alle“, gestand die Äbtissin und lachte kurz auf.
Nun stiegen sie eine Steintreppe hinunter. Auf der rechten Seite war ein großes Hühnergehege mit einem hohen Zaun. Die Hennen hatten als Auslauf eine große Wiese, in der sie nach Würmern und Insekten picken konnten. Maria Theresia freute sich sehr, so viele Hennen zu sehen, denn sie hatte zu Hause auch einige gehabt, die sie versorgt und gehätschelt hatte. Sie nahm all ihren Mut zusammen und fragte, ob es im Kloster noch andere Tiere gebe.
„Ja“, sagte die Äbtissin, „einige unserer Tiere für die tägliche Versorgung sind in Bethlehem.“
„In Bethlehem?“, fragte Maria Theresia ganz erstaunt.
Die Äbtissin schmunzelte. „Ja, das ist das große Mannschaftsgebäude bei der Marienkirche auf der linken Seite, wenn man durch das Tor der unteren Klausurmauer tritt. Dort sind Ställe für Pferde, Kühe, Ochsen und Schweine. Das Gebäude ist noch im Klausurbereich, und, wenn Sie möchten, können Sie morgen hinuntergehen.“
Maria Theresia nickte zufrieden. „Wissen Sie“, ergänzte sie, „wir hatten zu Hause einen großen Stall mit einigen Stück Vieh, denn bei uns in Wolkenstein ist der Ertrag der Felder fürs Überleben zu klein.“
Um in den Garten zu gelangen, mussten sie durch den Torturm gehen. Hier sei die Metzgerei und zuhinterst die Waschküche, erklärte die Äbtissin. Beide Räume hatten eine Gewölbedecke und an der Außenwand große Fensteröffnungen. Auf der Zurichtplatte der Metzgerei lag die Hälfte eines frisch geschlachteten Kalbes, das noch zerlegt werden musste. An den seitlichen Fleischerhaken hingen Dutzende von Kaminwurzen, geräucherte Schweinswürste und der Rest einer Speckseite. Die Fleischerbeile, Knochensägen und andere Metzgergeräte auf dem Schneidebrett waren sauber geputzt. In der hintersten Ecke befand sich der große Holztrog für die Schweineschlachtung. In der anschließenden Waschküche standen große Holzzuber, Waschbretter, Wäscheschlägel und Wäschezangen und ein gemauerter Holzofen für den Waschkessel. Durch beide Räume verlief in der Mitte des Estrichs ein Wasserlauf, durch den das Wasser aus der Waschküche und das Blut aus der Metzgerei abfließen konnten.
Maria Theresia kannte dies alles von den Hausschlachtungen zu Hause. Bei der vorweihnachtlichen Schweineschlachtung musste nach dem Halsstechen das Blut gleich aufgefangen und in einem Kübel mit Schnee verrührt werden, damit es nicht stockte. Sie hasste diese Zeit, und während es für alle anderen ein Schlachtfest war, war es für sie ein Trauerfest.
Als sie aus dem Halbdunkel und der Kühle ins Freie traten, empfingen sie ein lauer Sommerabend und ein großer herb duftender Garten mit weitem Ausblick aufs Eisacktal. Rechts sah Maria Theresia Obstbäume und links eine Laube und einen kleinen turmartigen Rundbau. Bis zur Klausurmauer hinunter waren stufenförmig angelegte Rebpergeln zu sehen.
Die Äbtissin wies darauf hin, dass das Kloster sich möglichst durch Selbstversorgung zu erhalten versuche. Nur das Getreide und zum Teil das Fleisch würden von den Pachthöfen – wo übrigens noch viele Tiere des Klosters untergebracht seien – bezogen. Die Obstbäume, die sie sicher erkannt habe, seien Apfel- und Birnenbäume, Feigenbäume, Pflaumenbäume und ein großer Nussbaum. Doch Maria Theresia hatte bisher nur die kümmerlichen Apfelbäume in St. Ulrich gesehen, das 500 Meter niedriger als ihr Heimathof in Wolkenstein gelegen war. Obstbäume einer solchen Sortenvielfalt kannte sie natürlich nicht, und sie sahen für sie zunächst alle gleich aus.
Unter dem ersten Trockenmäuerchen gelangten sie in den Gemüsegarten. Maria Theresia kam aus dem Staunen nicht heraus. Hier hing das Obst an den schwer beladenen Ästen und das Gemüse reifte gerade üppig in den dunkelerdigen Beeten. Die Äbtissin zeigte ihr die Ecke mit den Zwiebeln und dem Knoblauch, dem Lauch und dem Sellerie. In den sonnigen Mittelanlagen wuchsen Chicorée, Endivien, Portulak, Weißkohl für Kraut, Gurken, Bohnen, Mangold, Rote Bete, Pastinaken, Rettiche und Erdbeerspinat. Seit Kurzem bauten die Schwestern auch Kürbisse, Spargeln und Rosenkohl an. Verschiedene Salatsorten – Kopfsalat, Eissalat, Maikönig, gelber und brauner Wintersalat und weichblättriger Nansen-Salat – waren nahe der Steinwand in gemauerten Kastenformen gepflanzt. Diese konnten im Spätsommer und im Frühjahr gegen den Frost mit Scheiben abgedeckt werden. An den Rändern blühten Blumen in bunter Fülle: wachsfarbige Lilien für den Altarschmuck, Rosen und verschiedenfarbige Dahlien zum Schutze des Gemüses gegen Insekten. Und die Freude aller Schwestern seien natürlich die Sonnenblumen, die alle anderen Pflanzen überragten, aber auch die Gartenerdbeeren und die süßen Walderdbeeren, die vor sommerlichen Kirchenfesten für die Süßspeisen der Feiermahle gepflückt wurden, erklärte die Äbtissin.
Maria Theresia war überwältigt, sie brachte kein Wort heraus. Die Äbtissin bemerkte dies und verabschiedete sich freundlich: „Sie müssen sehr müde sein. Der Tag war lang und anstrengend. Ruhen Sie sich aus, morgen sieht alles leichter aus. Sie werden sehen.“
Die Äbtissin sollte Recht behalten. Am nächsten Morgen, als Maria Theresia durch einen Glockenklang für die Laudes geweckt wurde, fühlte sie sich so ausgeruht wie schon lange nicht mehr. In ihrer Unkenntnis der Klosterregeln hatte sie auch nicht bemerkt, dass sie in ihrer ersten Nacht im Kloster nicht zur Matutin oder der Vigil, dem Nachtgottesdienst, geweckt worden war.
Voller Erwartung ging sie mit den anderen Schwestern in den Chor zum Morgengebet, um das aufgehende Licht am Peitlerkofel, der Pütia, im hinteren Villnößtal zu grüßen und preisen. Auf dem kurzen Weg durch den Gang des Schlafsaals bis zur Klosterkirche strich ihr plötzlich etwas Flauschiges um die Beine, sodass sie für einen kurzen Augenblick erschrak. Natürlich hatte Luzifer, der Lichtträger, Venus schon lange vor den Nonnen begrüßt und begleitete diese nun noch einmal zum Gebet. Maria Theresia setzte sich zuhinterst in eine Bank und der schlaue Luzi versteckte sich unter ihrem langen schweren Rock, den sie auch am Vortag auf ihrem Fußmarsch getragen hatte.
Die Kantorin stimmte den feierlichen Lobchoral Wie schön leuchtet der Morgenstern für den himmlischen Bräutigam an. Ergriffen von der Melodie und dem Text, kniete Maria Theresia bis zum Ende bewegungslos und andächtig und vergaß dabei völlig, dass Luzi immer noch auf ihren Unterschenkeln schlief. Dieser war indessen von der Wärme unter dem dicken Rock, wie man ihn nur in hochgelegenen Bergtälern trug, so begeistert, dass er es sich auch nach der Einkleidung Maria Theresias wie selbstverständlich jeden Morgen unter der dicken Kukulle aus Wolltuch bequem machte.
Den Laudes waren nach einer kurzen Pause die Meditation und die kleinen Horen, beginnend mit der Prim, gefolgt. Es wurde schweigend ein leichtes Frühstück eingenommen, bis es im Kapitelsaal mit der Lesehore zur geistlichen Vertiefung der Heiligen Schrift weiterging. Der 13. August war der Tag des Heiligen Kassian, des legendären ersten Bischofs von Säben. Daher wurde anschließend noch das Martyrium des Kassian von Imola, der im 3. Jahrhundert als Schulmeister in antiheidnischem Eifer das Christentum lehrte und von seinen wütenden Schülern mit ihren Schreibgriffeln erstochen wurde, vorgelesen. Zur Ankunft der Novizin wurden zudem noch einige Kapitel aus der Regula ora et labora et lege vorgetragen, die von Gehorsam, Schweigen und Demut handelten.
Dann ging jede Schwester an ihre Arbeit, und Maria Theresia wurde an ihrem ersten Morgen im Kloster in die Bibliothek geführt, wo Franziska Xaveria, die Bibliothekarin des Klosters, sie empfing. Die nur sechs Jahre ältere Chorfrau war schon seit zwölf Jahren auf Säben und hatte den Auftrag bekommen, Maria Theresia ins Klosterleben einzuführen. Diese sollte in den ersten sechs Monaten ihrer Postulatszeit die Ordensgemeinschaft und die Grundlagen des geistlichen Lebens kennenlernen, sich im Gemeinschaftsleben erproben und sich in die monastische Spiritualität einüben.
Notwendige Voraussetzung für ein kontemplatives Leben sei vor allem die inwendige Stille, hob Schwester Franziska hervor, wobei sie die Reaktion ihres Schützlings genau beobachtete, der ihr unerwartet erfreut zulächelte. Als junges Mädchen hatte Maria Theresia Deutsch, genauer gesagt, deutsche Dialekte, nur von den auswärtigen Waldarbeitern, die für Holzschlägerungen ins Tal gekommen waren, gehört. Sie hatte diese auch bald weitgehend verstanden, wie Kinder eben schnell und unbewusst fremde Sprachen verstehen. Doch das vornehmere Hochdeutsch der Chorfrauen jagte ihr Furcht ein, und sie war zunächst froh, schweigen zu dürfen. Für Maria Theresia war alles neu und fremd, und auch die vielen Bücher irritierten sie.
Es folgten die tägliche Konventsmesse und, da es ein Feiertag war, noch zusätzlich die Terz, das dritte Stundengebet mitten am Vormittag. Um nicht aufzufallen, beobachtete Maria Theresia genau, was die Mitschwestern taten, um es ihnen gleichzutun. Nach den Zeremonien und den Litaneien begann wieder die Zeit des labora, und die Schwestern machten sich an die Arbeiten, die ihnen zugewiesen waren.
Der Vormittag ging bis zur Mittagshore schnell vorüber. Nach der Sext versammelten sich die Schwestern wieder im Refektorium, wo nach dem Tischgebet schweigend zu Mittag gegessen wurde, wobei wie am Vorabend eine Schwester aus der Bibel vorlas. Danach konnten sich die Schwestern bis zur Non, der Todesstunde Christi, ein wenig ausruhen.
Vor dem Abendessen traf man sich nochmals in der Kirche zum Vespergebet, der letzten Tageshore, die mit einem Vaterunser abgeschlossen wurde. Die monoton-einschläfernden Wiederholungen des Ave-Maria ließen Maria Theresia in ein Wohlsein sorgloser Leere fallen. Auch daheim, das spürte sie, betete die Familie zur selben Zeit dasselbe Gebet zur Glorreichen, vielleicht ein wenig unaufmerksamer und flüchtiger, um dann die immergleiche Brennsuppe zu essen. Freilich, dort blieb nun ein Stuhl frei, aber man würde darüber kein unnützes Gerede vergeuden.