Kitabı oku: «Verbena II», sayfa 2

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TROPFENTRÄNEN

»Sag, schickt der Baron immer noch so oft Kutschen, um Alraune abholen zu lassen?«, fragte Fria, als wir die Landstraße unter den Felsen, auf denen Burg Seggensee gebaut war, entlang gingen.

»Zu Fuß schafft sie den Weg nicht mehr.«

»Wird das wieder?«

»Glaube nicht. Der Bruch ist nicht gut verheilt.«

»Kannst nicht du das übernehmen? Morgen wirst du volljährig!« Sie stieß ihren Ellenbogen in meine Seite.

Ich grinste in mich hinein. Morgen war mein Geburtstag! Aber warum Alraune mich nicht zum Baron schickte, das hatte ich mich auch schon oft gefragt. Mehr, als ihm einen Magenbitter zu bringen, tat sie ja nicht. Außerdem, was für einen unglaublichen Aufwand der Baron betrieb, um seine Heilerin zu sehen. Direkt nach Alraunes Unfall war er sogar das eine oder andere Mal in die Heilerei gekommen und hatte sich hinter verschlossener Tür mit ihr besprochen. Seit sie wieder halbwegs gehen konnte, ließ er sie für Hausbesuche mit der Kutsche abholen, mindestens einmal jeden Viertelmond.

»Ich habe ihr angeboten, das zu übernehmen. Aber sie sagt, der Baron wünscht nur sie.« Mir gegenüber war er äußerst reserviert, behandelte mich wie Luft. »Die beiden verbindet etwas, ich kann mir das auch nicht erklären.«

»Und wie! Sonst hätte er euch wohl kaum letztes Jahr vor den Hütern gerettet. Das ganze Dorf hat sich darüber gewundert.«

Nicht nur die – auch ich!

»Alraune sagt, sie hat bei ihm etwas gut. Aber du kennst sie ja, sie ist hart wie Stein, wenn sie nicht über etwas reden will.«

Fria rümpfte die Nase. »Jetzt werde ich auch gleich so stinken wie du.«

Wir waren bei der Abzweigung zur Nebelschlucht angekommen. Die Brücke über den Abgrund lag ein Stück vor uns auf der Landstraße. Nebel waberte von unten herauf. Am Himmel schoben sich die dunklen Wolkentürme weiter voran, verdeckten die Sonne und machten alles noch viel düsterer, als es am Vormittag schon gewesen war.

Trotzdem ging ich voran, nahm den Serpentinenweg hinunter zum Nebelbach, tauchte ein in den warmen, stinkenden Dampf.

Was tat ich bloß hier?

Mein Amulett!

Ich berührte die Stelle an meiner Kehle, wo es hängen sollte, und biss die Zähne zusammen. Ich durfte es nicht aufgeben.

Die kalten Wirbel … Waren sie immer noch da? Packten sie mich diesmal fester, ließen mich nicht mehr los?

Vor dem Eingang der Schlucht blieb ich stehen, konnte mich nicht überwinden weiterzugehen. Die Panik vom Morgen flackerte wieder auf. Ich hätte Fria nicht hierherbringen dürfen. Wie eigennützig war ich gewesen? Was, wenn ihr etwas zustieß? Wegen mir …

Auch sie war still, hielt sich einen Ärmel vors Gesicht.

»Warte auf mich – hier, wo man noch ein bisschen was sieht«, flüsterte ich. Dann war wenigstens jemand in der Nähe, jemand, dem ich zurufen, der Hilfe holen konnte.

»Warum? Wir machen das gemeinsam! Wie findet man diese blöden Kröten?«

Fria war die Beste! Sie hatte nur leider keine Ahnung, worauf sie sich hier einließ. »Sie sitzen in den Ritzen der Felsen. Wenn du etwas Glitschiges spürst, hast du eine gefunden.«

»Ernsthaft?« Sie sah mich angewidert an. »Bin ich froh, dass ich keine Heilerin geworden bin!«

Dabei waren die Kröten das geringere Übel. »Du brauchst sie nicht zu suchen, ich mache das. Es ist nur …« Wie sollte ich es ihr sagen, ohne, dass sie mich für verrückt hielt und das gleich jedem erzählte? Solche Geschichten verbreiteten sich im Dorf wie ein Lauffeuer und als Schankmaid bei den Drei Linden war Fria nicht zum ersten Mal der Span, der alles zum Lodern brachte.

Sie sah mich erwartungsvoll an. »Jetzt drucks nicht so herum.«

»Heute Morgen … da war etwas dort drinnen, im Nebel … und es stinkt noch fürchterlicher als sonst.«

»Geht das überhaupt?«, murmelte sie durch ihren Ärmel hervor. Einen Moment sah sie zum Himmel hinauf. »Komm schon, bringen wir es hinter uns, möglichst, bevor es dunkel wird.«

Sie hatte recht – wie finster die Wolken inzwischen aussahen! Ich nahm all meinen Mut zusammen. »Ja, bringen wir es hinter uns.«

Wir gaben uns die Hände und gingen voran, hinein in die Schlucht und den dichten Nebel. Ich starrte in den warmen Dampf, suchte nach den Wirbeln. Jeden Moment erwartete ich die kalte Berührung. Wäre doch Malve hier. Er hätte mich wieder gewarnt. Ich umschloss Frias Hand fest, war ihr unendlich dankbar, dass sie mitgekommen war.

Sie erwiderte meinen Griff. »Wie weit willst du gehen?«, flüsterte sie.

Ich drehte mich zu ihr, sah sie kaum noch im Nebel.

Spürte sie es auch? Dass hier etwas nicht stimmte …

»Ein paar Schritte noch. Dort sollten Kröten sitzen.« An der Felswand, die ich im Nebel nicht sah. Zaghaft streckte ich meine Hand aus, hoffte, Stein zu spüren – und nicht irgendetwas anderes.

Endlich. Der Fels, feucht und unnatürlich warm. Ich lehnte mich mit dem Rücken dagegen. »Wir sind da«, wisperte ich. Hier war es heute Morgen passiert. Die kalte Berührung. Ich starrte in den Nebel, fühlte mich wieder beobachtet.

Wo waren sie, die Wirbel?

»Bleib genau hier stehen. Ich suche nur schnell eine Kröte.« Und mein Amulett!

Wie viel Überwindung es kostete, Frias Hand loszulassen. Ich sah gerade noch ihre Umrisse. Mich umzudrehen und an der Wand nach den Kröten zu tasten, schaffte ich nicht – selbst, wenn ich wusste, dass meine beste Freundin direkt neben mir stand. Konnte sie nicht fröhlich vor sich hinplappern, so wie sonst immer?

Ich rutschte die Wand hinunter und hockte mich hin, tastete den Boden ab, fuhr zwischen die Steine hinein. Mit ein bisschen Glück stießen meine Finger ja nicht nur auf eine Kröte, sondern auch auf das Amulett.

»Verbena?«

»Ja.«

»Bei Mavanja, du bist ganz nahe.« Hörte ich da Angst in ihrer Stimme?

Ich hob den Kopf, sah hinauf – dorthin, wo ich sie vermutete. »Ich hätte dich nicht bitten sollen, entschuldige. Aber ich bin so froh, dass du da bist.«

Da spürte ich es. Es klatschte auf meine Stirn. Eiskalt.

Ich schrie.

Und Fria mit mir.

Ich schirmte meinen Kopf mit den Armen ab, kauerte am Boden. Mein Herz pochte.

Weitere Tropfen prasselten auf uns herab. Es begann zu regnen.

Hatte ich mich wegen eines Wassertropfens so erschrocken? Ich lachte auf, erhob mich und umarmte Fria. »Tut mir leid, ich dachte, es wäre … etwas anderes.«

»Verbena …« Es klang vorwurfsvoll. Doch auch sie ließ sich in die Umarmung fallen, sichtlich erleichtert.

Der Nebel wurde vom Regen weggewaschen. Nun sahen wir die enge Schlucht. Feuchtschwarze, zerklüftete Felswände zu beiden Seiten und dazwischen der Nebelbach, recht schmal, sodass beiderseits ein wenig Ufer blieb. Das war das Beste, was passieren konnte! Lieber pitschnass nach Hause kommen, als hier länger blind herum zu tasten.

Doch aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine Bewegung. Vielleicht drei Schritte entfernt. Da war sie wieder, die Gänsehaut, die meinen Nacken entlang lief.

Ich schaute genauer hin. Nichts.

Oder doch?

»Siehst du das?« Zaghaft streckte ich einen Finger aus.

Fria erstarrte.

Ich wollte laufen, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Da war etwas, ganz sicher, auch wenn ich mehrmals hinsehen musste, um es zu erkennen.

Durchscheinend, aber doch sichtbar stand da jemand. Direkt vor uns.

Er tat einen Schritt auf uns zu. Mein Schrei versiegte in der Kehle. Fria klammerte sich an mich. Ich wich nach hinten aus, prallte gegen die Wand.

Er streckte die Hand nach uns aus.

Ich packte Fria, zog sie den Fels entlang, rannte los und rutschte aus, fiel auf eine glatte Steinplatte. Fria konnte sich gerade noch halten, presste sich gegen die Wand.

Eine eiskalte Hand griff nach mir, glitt durch mich hindurch. Mich fröstelte.

»Weg von mir!«, zischte ich.

Der Geist ließ von mir ab, seine Hände erhoben.

Ich wischte mir über das nasse Gesicht, konnte nicht glauben, was ich sah.

Er streckte mir eine Hand entgegen. Wollte er mir hochhelfen?

Diese Nase, woher kannte ich diese Nase?

»Ulrik?«, flüsterte Fria.

War das wirklich …? Ich sah genauer hin.

Er drehte sich Fria zu und verbeugte sich.

Sie hielt den Atem an, stand wie gelähmt an der Wand.

Er ließ die Schultern sinken und wandte sich wieder mir zu. Ich spürte die kalte Berührung seiner Hand, als er versuchte, mich hochzuziehen.

Auch ich wich aus. Konnte das wahr sein? War ich mitten in einer Schauergeschichte? Ein Geist stand vor mir!

»Seid das wirklich Ihr, Euer Hochgeboren?«

Er kniff die Lippen zusammen, nickte.

Mir schossen die Tränen in die Augen. »Es tut mir so leid! Wir haben nach Euch gesucht.«

Fria stimmte ein: »Wir alle. Aus beiden Dörfern.«

Ich rappelte mich auf. So gerne er wollte, er konnte mir nicht helfen, der Schemen, der er nun war. Er ging einige Schritte weiter in die Schlucht hinein. Seine Lippen bewegten sich, aber wir hörten ihn nicht.

Fria griff wieder nach meiner Hand, sah mich fragend an.

Ich hob die Schultern.

Dann winkte er uns, ihm zu folgen.

»Er will uns etwas zeigen«, sagte Fria.

»Mutter des Lebens, was ist ihm passiert? Hier an diesem schrecklichen Ort …«

Frias Griff um meine Hand wurde fester. Unsere Blicke trafen sich wieder. In ihren Augen spiegelte sich die Angst, die ich selbst empfand.

Aber wir waren es ihm schuldig. Er war einer von uns – selbst, wenn er der Sohn des Barons war. Er war der Einzige der von Seggensees, der sich nicht zu gut gewesen war, sich mit uns abzugeben.

Er wartete an einer Biegung des Bachs. Wie viel Zeit hatte er hier verbringen müssen, gefangen im Nebel, nicht einmal ein Schatten seiner selbst? Neun Monde war es her, dass Korvinus den jüngeren Bruder gesucht und nie gefunden hatte.

Fria und ich folgten ihm zaghaft in die Schlucht hinein. Dorthin, wo der Gestank noch unerträglicher war.

Als wir ihn erreichten, zeigte er hinauf und wir sahen die Brücke, die sich über die Klamm spannte, von unten. Dann ging er weiter um die Kurve, bedeutete uns mitzukommen.

Entsetzen durchfuhr mich. Eine Kutsche, nein zwei, vielleicht sogar drei. Zerborsten zwischen den Felswänden. Räder und Holzplanken lagen verstreut. Dazwischen die Körper derer, die hier in den Tod gestürzt waren. Tränen liefen meine Wangen hinunter, vermischten sich mit den Regentropfen. So viele. Ein Schlachtfeld.

Fria schluchzte auf, vergrub ihr Gesicht in meinem Nacken. Ich umarmte sie, weinte mit ihr und mit Ulrik.

»Wir sagen es Eurem Herrn Vater, heute noch!«, versprach ich. »Findet Ihr dann Eure Ruhe?«

Er hob die Schultern.

Hoffentlich.

»Ich brauche ein Beweisstück … sonst glauben die hohen Herren mir nicht.«

Ob der Baron diese Nachricht verkraftete? An Korvinus’ Rage wagte ich gar nicht erst zu denken.

Ulrik ging weiter vor, blieb neben einem der Körper stehen. Ich wollte ihm nach, doch Fria verkrampfte. Sie war blass geworden, drehte sich zur Wand und übergab sich. Ich hielt ihr die Locken hinter den Kopf.

»Kann nicht«, raunte sie und winkte ab.

»Warte«, sagte ich zu dem Geist.

Sie sackte auf einen Stein. »Mach schnell«, hauchte sie und vergrub den Kopf zwischen den Armen.

Ulriks Schemen hockte neben einem Körper. Seinem Körper. Er lag am Ufer des Baches, einen Köcher mit Deckel im Arm. War das ein Behältnis für Schriftrollen? Das Wams war vergilbt und zerfetzt, sein Gesicht zur anderen Seite gedreht. Mavanja sei Dank! Am Hinterkopf waren noch Haare, ehemals dunkelblond, nun überzogen mit gelblichem Staub. Haut war nur noch teilweise über die Gebeine gespannt. Ein Bein hing ins Wasser. Aus dem Unterschenkel stand der Rest eines Knochens hervor, der Fuß war verschwunden.

Ich schluckte, verhinderte mit Mühe, dass nun auch mir alles hochkam.

Ulrik deutete auf einen Ring an einem der Finger – einen Siegelring mit dem Wappen der von Seggensees.

Den würde ich erst abziehen müssen. Brach der fragile Finger dann ab? Nein, das war zu viel verlangt! Selbst für mich. Mein Blick fiel auf den Köcher. Ehemals musste er aus dickem Leder gearbeitet gewesen sein. Denn die Prägung auf ihm hob sich nach wie vor ab. Sie zeigte das gleiche Wappen wie der Ring.

»Den Köcher, darf ich den mitnehmen?«

Ulrik nickte.

Ich hockte mich neben ihn, spürte seine Eiseskälte. Wie gerne hätte ich ihn getröstet, ihn, der immer so fröhlich und mitreißend gewesen war. Doch meine Hand wischte durch ihn hindurch.

Vorsichtig zog ich den Köcher unter dem toten Körper hervor, fürchtete bei jedem Zoll, dass das mürbe Gewebe des Arms zerfallen würde. Der Verschluss verhakte sich an einem Stein und der Deckel sprang auf. Es waren tatsächlich Schriftrollen darin.

Endlich war es vollbracht. Schnell verschloss ich den Köcher wieder und steckte ihn unter meinen Umhang, um das Pergament vor dem Regen zu schützen.

Ulrik geleitete mich zurück.

Ich zog Fria hoch von ihrem Stein, nahm sie mit, weg von diesem traurigen Ort.

Zum Abschied verbeugte sich der Geist des Baronssohns vor ihr. Er ging vor ihr auf die Knie und streckte ihr die Hand entgegen. Zaghaft legte sie ihre in die seine und es mutete an, als küsste er sie.

Sofort kullerten wieder Tränen über ihre Wangen. »Wie oft ich von Euch geträumt habe, Euer Hochgeboren«, wisperte sie.

Er presste die Lippen aufeinander und legte eine Hand auf sein Herz.

Der Regen wurde schwächer und Ulriks Konturen verschwammen im wiederkehrenden Dunst.

Er wandte sich mir noch einmal zu, bedeutete mir mitzukommen. Doch ich konnte nicht mehr ausmachen, wohin er ging. Da spürte ich es kalt an der Hand und folgte der Berührung. Er führte mich zu der Stelle, von der ich am Morgen in Panik geflohen war. Vor mir an der Felswand saßen gleich mehrere …

»Nebelkröten!« Ich packte eine davon in den Korb.

Doch war es nicht das gewesen, was er mir zeigen wollte? Noch immer ließ er mich seine kalte Berührung spüren. Ich sah mich um, suchenden Blicks, bis ich das zerrissene Lederband am Boden liegend fand.

Das Amulett! Es war in eine Ritze zwischen zwei Steinen gerutscht. Ohne Ulrik hätte ich es nie wiedergefunden.

»Danke, Euer Hochgeboren! Ihr wisst ja gar nicht, was mir das bedeutet!« Ich knickste in die Richtung, in der ich ihn vermutete. Dann band ich es mir erleichtert um den Hals und ließ es unter meinem Kleid verschwinden.

GESEGNET DIE UNWISSENDEN

Vor der Schlucht ließ Fria sich auf einen Baumstumpf fallen. »War das wirklich Ulrik?« Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Was hat er dir am Schluss gezeigt?«

Ich zog das Amulett unter meinem triefend nassen Kleid hervor. »Habe es heute Morgen verloren … als ich vor ihm davongelaufen bin.«

»Ist das nicht der Anhänger, den Valerian für dich geschnitzt hat?«

Ich nickte und ließ ihn wieder verschwinden, presste ihn mit der Hand fest auf mein Herz. Durch die Berührung spürte ich umso deutlicher, dass Malve in der Heilerei inzwischen erwacht war. Bleib wo du bist!, schickte ich ihm in Gedanken zu und hoffte inständig, dass er auf mich hörte. Mit dem Baron zu sprechen, würde auch ohne ihn schwierig genug werden.

Die Sonne näherte sich inzwischen dem Horizont. Der Himmel war für den Moment nicht ganz so finster. Aber neue graue Wolken schoben sich bereits hinter den Hügeln hervor. Nicht mehr lange und es würde weiterregnen. Mich fröstelte.

»Bringen wir das schnell zu den von Seggensees!« Ich holte den Köcher unter meinem Umhang heraus und versuchte, den Deckel wieder besser zu befestigen. Die hohen Herren brauchten nicht zu wissen, dass ich ihn verbogen hatte.

Neugierig stand Fria auf. Die Farbe in ihrem Gesicht kehrte langsam zurück. Ihre Finger glitten über das Wappen am Leder. »Hat Ulrik den aus Kronenburg mitgebracht?«

»Ja, es sind Schriftstücke darin.«

Sie sah zu mir auf, hatte ein Blitzen in den Augen. »Lass uns nachsehen!«

Das ließ mich schmunzeln. Da war sie wieder, die Fria, die ich kannte! »Aber wir können doch nicht die Post der von Seggensees lesen!«

»Ulrik hätte das letzten Sommer hierher bringen sollen. Für die ist das bestimmt ein alter Hut!«

War es das? Der Winter war hart gewesen und nicht einmal die Postkutschen waren wegen des vielen Schnees ihre gewohnten Strecken gefahren.

»Vielleicht weiß Korvinus das hier noch gar nicht.«

»Umso spannender!« Schon war der Deckel offen und Fria beäugte die eingerollten Schriftstücke.

Schnell zog ich ihr den Köcher aus den Händen. »Seit wann kannst du lesen?«

»Ich nicht, aber du!«, warf sie schmollend zurück.

Ich biss mir auf die Unterlippe.

Gemeinsam zogen wir die dicke Rolle aus dem Köcher. Mehrere Pergamente waren ineinander gerollt. Deren äußerste Schicht war so brüchig, dass sie unter unseren Fingern zerbröselte.

»Sei vorsichtig!«, hauchte ich. Korvinus würde außer sich sein – noch viel wütender, als er sonst immer war – wenn das Pergament nicht unberührt aussah.

Fria stöhnte. »Diese Bögen liegen seit neun Monden in der Schlucht. Natürlich zerfallen sie! Es wird schon niemand bemerken, dass wir kurz einen Blick darauf werfen.«

Ich stellte den Lederbehälter ab und half Fria, die großen Pergamente auseinander zu rollen. Ein mit einer Schleife eng zugebundener und versiegelter Brief segelte auf den nassen Boden.

»Mist!« Ich ließ die Ecken der Rolle los, um ihn möglichst schnell aufzuheben, und wischte die Kleckse feuchter Erde wieder ab. »An Korvinus von Seggensee«, las ich. Mich fröstelte. Was taten wir hier bloß? Ich steckte den Brief vorsichtig in den Köcher zurück.

Fria hatte die großen Schriftstücke inzwischen selbst aufgerollt.

»Steckbriefe!«, rief sie.

»Pssst!« Die Landstraße war nicht fern. Wenn uns jemand erwischte!

Mein Blick fiel auf das Bild des Gesuchten. Es verschlug mir den Atem. Sogar sein immer leicht nach oben gezogener Mundwinkel, dieses wissende Schmunzeln, war perfekt getroffen.

»Lies vor!«

Ich brauchte einen Moment, meine Stimme zu finden.

»Gesucht. Tot oder lebendig. Belohnung 2000 Kronen.«

»2000 Kronen? So viel war es noch nie! Wer ist das?«

»Valdemar von Vernon.« Ich sah noch einmal hin. Diesen Namen hatte ich noch nie gehört … aber das Bild! Neben dem gezeichneten Kopf war ein rundes Siegel abgebildet, eines mit drei Bäumen.

Hatte Alraune recht gehabt? War er doch adelig? Es war das gleiche Wappen, das auch den Griff von Valerians Dolch zierte. Genau der Dolch, der in meiner Kammer unter dem Bett lag.

»Ein Familienerbstück«, hatte er gesagt, als er ihn mir, knapp nachdem er schwer verletzt bei uns erwacht war, beschrieben hatte. Und direkt davor hatte er mir offenbar eiskalt ins Gesicht gelogen und sich unter falschem Namen vorgestellt.

Mein Blick wanderte hinunter zur Beschreibung. Mit belegter Stimme fuhr ich fort: »Angeklagt wegen Hochverrats. Begabt und gefährlich! 20 Winter, mittlere Größe, dunkelbraunes Haar, braune Augen.« Ich las es wieder und wieder. Es musste er sein. Wer sonst?

»Was ist mit dir?«

Ich sah zu Fria auf. »Erkennst du ihn nicht?«

»Valdemar von Vernon? Nein.« Sie sah noch einmal genauer hin, schüttelte den Kopf.

Ach, Fria hatte ihn nie ohne die Augenbinde gesehen! Seit er bei seinem Unfall erblindet war, hatte er sie in der Öffentlichkeit immer getragen. Aus gutem Grund, offenbar!

Ich streckte zwei Finger aus und verdeckte die Augenpartie des Bildes.

»Valerian!« Schon wieder viel zu laut.

»Pssst!«

»Aber er hieß doch Gundermann … von diesem teuren Geschäft in Kronenburg?«

Ich nickte langsam. Hatte irgendetwas von dem gestimmt, was er uns erzählt hatte?

»Und überhaupt … Valdemar!? Was für ein unpassender Name!«

Fria sprach mir aus der Seele.

»Moment, stand da ›begabt‹? Hast du das gewusst?«

Ich erstarrte. Dieses Detail war nicht gelogen. Er hatte sich lange bemüht, es zu verbergen, aber ich war ihm auf die Schliche gekommen. Unsicher, wie ich antworten sollte, starrte ich zu Boden.

Fria warf mir einen schiefen Blick zu. Zum Henker, sie erkannte sofort, was ich dachte. »Wirklich? Er ist begabt? Was kann er? Warum hast du es mir nicht erzählt?«

»Er war nicht gefährlich. Und über Begabungen spricht man nicht!« Wenn Alraune und später auch Valerian mir etwas eingebläut hatten, dann das.

»Deshalb war er auf einmal weg? Ist er geflüchtet?«

Es zu leugnen ergab keinen Sinn mehr.

»Du wusstest es und hast es nicht gemeldet?«

»Ist dir nicht klar, was das bedeutet hätte?«, zischte ich sie an. »Dann hätten gleich drei Scheiterhaufen gebrannt – nur weil Alraune und ich ihn beherbergt haben. Korvinus sucht doch nur nach einer Ausrede, uns auflaufen zu lassen.«

Schmallippig betrachtete sie mich. »Und Alraune und du?«

»Was ist mit uns?«

»Du bist auch begabt, richtig?«

Redlich bemühte ich mich, so empört wie möglich auszusehen. Dabei wäre es ein Wunder gewesen, wenn sie mein Herz nicht klopfen hörte, so laut wie es gerade pochte. »Wie kommst du denn darauf?«

»Lüg nicht! Du bist so komisch, seit … seit letztem Jahr.«

»Danke aber auch!« Ich stemmte die Hände in die Hüften, wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.

»Ich meine das ernst! Was ist los mit dir? Du bist so verschlossen, hast ständig Ausreden. Ich dachte, wir sind beste Freundinnen. Mir kannst du alles sagen!«

»Dir? Du erzählst doch alles im Dorf herum!« Meine Güte, hatte ich es jetzt zugegeben? Schnell fügte ich hinzu: »Valerians Begabung geheim zu halten war – und ist immer noch – nötig, weil die Hüter sonst wieder vor unserer Tür stehen! Verstehst du das nicht?«

Ihr Gesichtsausdruck versteinerte. »Glaubst du das wirklich?«

»Das glaube ich nicht nur, das weiß ich!« Leider. »Sag mir irgendetwas, was du nicht sofort weitererzählt hast.«

Sie schwieg.

Ihre Augen wurden glasig. »Wenn du das so siehst … gehab dich wohl!« Damit drückte sie mir die Steckbriefe in die Hand und stapfte davon.

»Fria, warte!«, rief ich ihr nach.

Doch sie drehte sich nicht um.

Ingrun, bewahre mein Geheimnis. Wenn sie all das nun im Dorf verbreitete! Ich warf die Rolle neben den Köcher und lief ihr nach.

»Fria, bitte, erzähl nichts über den Steckbrief. Dass wir Ulrik gefunden haben, in Ordnung, aber nichts über Valerian, bitte.«

Sie schnaubte und rannte davon.

Ich sah ihr nach, bis sie hinter einer Biegung verschwand, konnte nicht glauben, was gerade geschehen war. Dann kehrte ich um und hob die Schriftrolle auf, wischte den Schmutz außen ab. Noch einmal rollte ich sie auf, starrte auf das Bild in meiner Hand.

Den ganzen Winter hatte ich mir wieder und wieder vorgestellt, wie es gewesen wäre, wenn wir gemeinsam aufgebrochen wären. Aber er war weg, hatte mich zurückgelassen, uns belogen, die Drachenzahnessenz gestohlen! Trotzdem wurde mir bei seinem Anblick so warm ums Herz wie schon lange nicht mehr, und tief in mir hoffte ich für ihn, dass er es tatsächlich bis in die Baronie Hellenfels geschafft hatte.

Schnaubend schüttelte ich den Kopf. Das musste ein Ende haben! Weder Finn noch er waren gut für mich.

Mit klammen Fingern blätterte ich durch die Bögen. Es waren fünf, alle über Valdemar von Vernon oder wie auch immer er wirklich hieß.

Valdemar.

Fria hatte recht, dieser Name passte nicht zu ihm. Vielleicht machte es das einfacher, ihn zu vergessen.

Ich sah hinauf zur Burg. Würde Korvinus den Bezug zwischen dem Steckbriefbild und dem Blinden aus der Heilerei herstellen? Valerian war über alle Berge, aber Alraune und ich mussten dafür geradestehen, dass wir einen Verräter beherbergt hatten, egal ob wir das damals wussten, oder nicht.

Diese Post durfte Korvinus nie erreichen, zumindest nicht in leserlicher Form.

Gesteuert von dieser Gewissheit, gingen meine Beine hinüber zum Nebelbach. Ich tunkte jeden Bogen einzeln in die gelbe Brühe, egal wie brüchig das Pergament schon war. Valerians Bilder zerflossen vor meinen Augen. Genauso wie ich seine Bilder vom Pergament wusch, musste ich es mit meinen Gefühlen für ihn tun. Es hatte keinen Sinn, ihm noch länger nachzuhängen.

Ich rollte die verschwommenen Pergamente wieder ein und steckte sie zurück in den Köcher. Doch sie wollten nicht hineingleiten. Etwas verkeilte sich.

Ach, der Brief!

Ich drehte den Behälter um, bis die kleine Rolle mir entgegen rutschte, wendete sie in meinen Händen. Das Siegel war durch die Hitze in der Nebelschlucht geschmolzen. Das Wachs hatte sich als dünnes, rotes Rinnsal ins Papier gesogen. Sollte ich wirklich?

Egal! Genauso wie die Steckbriefe würde auch dieses Schriftstück ein Bad im Nebelbach nehmen müssen.

Ich zog das Band ab und rollte den Brief auf.

Kronenburg, den 27. Tag des 5. Mondes 765

Werter Freund!

Schön, Euren Bruder kennengelernt zu haben. Bestimmt wird er bald genauso für unsere Sache brennen, wie Ihr es tut!

Anbei übersende ich Euch Steckbriefe eines besonders gefährlichen Begabten. Der flüchtige Valdemar von Vernon ist Gedankenleser und wird nichts unversucht lassen, unseren Zielen zu schaden. Es ist dringend, ihn zu finden und auszuschalten. Zögert nicht, seine Vergehen unmittelbar zu ahnden. Ebenso alle Personen, die er mit dem falschen Gedankengut angesteckt hat.

Für die kommenden Monde werde ich mich auf Reisen begeben und zur Insel Tempesta segeln. Dort wurde mir ein Alchimist empfohlen, der in der Lage sein soll, einen Trank herzustellen, mit dem es möglich sein wird, Begabte von Nicht-Begabten zu unterscheiden. Wenn das gelingt, steht einem reinblütigen Rohnland im Namen Mavanjas nichts mehr im Wege!

Es fällt mir schwer zu glauben, dass es in Eurer Baronie weniger Begabte gibt als anderswo in unserem Reich. Aber ich bin überzeugt davon, dass Ihr alles in Eurer Macht Stehende tut, um unser Land zu reinigen.

Seine Exzellenz Helleborus von Resede,

Regent zu Rohnland,

Großmeister der Hüter und

ergebener Diener der Mutter des Lebens

Ich ließ den Brief sinken, stolperte auf den Baumstumpf zu, musste mich setzen. Meine Gedanken schwirrten durcheinander. Valerian, freigegeben, um standrechtlich getötet zu werden. Die Begabten – also auch ich! – sollten flächendeckend ausgemerzt werden.

Wir mussten flüchten.

Aber Alraune … Wie konnte ich sie mitnehmen? Angespannt stand ich auf, raufte mir die Strähnen.

Ich fühlte den Schmerz an meiner Kopfhaut, als wäre es eben erst geschehen. Der verfluchte Hüter – Aurelio hatte er geheißen – hatte mich an den Haaren quer durch unser Haus geschleift. Ich lief auf und ab, drehte und wendete mich, wusste nicht wohin.

Es fing wieder an zu regnen. Dicke Tropfen klatschten auf das Papier, ließen die Tinte verrinnen. Gut so! Diese grauenhaften Worte sollten davon geschwemmt werden. Ich tauchte das Blatt tief in die Fluten, schaute zu, wie die Schrift verschwand.

Fein säuberlich mit der Schleife wieder zugebunden, steckte ich auch dieses Schriftstück zurück in den Köcher. Was jedoch, wenn Korvinus auffiel, dass die Pergamente nass waren, aber der Lederbehälter zumindest innen gut erhalten?

Heilfroh war ich, dass Fria mich dazu gebracht hatte, die Rolle zu öffnen. Nicht auszumalen, was geschehen wäre, wenn Korvinus diese Schreiben letzten Sommer bekommen hätte! Wir wären gefangen genommen worden – alle drei!

Ulriks Tod hatte uns das Leben gerettet.

Ich hockte mich ans Ufer und füllte kleine Steine in den Köcher, ließ sie zwischen den Pergamenten hinunterrieseln. Dann warf ich die Rolle in die Fluten und sah zu, wie sie unterging.

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302 s. 5 illüstrasyon
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9783944788982
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