Kitabı oku: «LARP und die (anderen) Künste»

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Rafael Bienia, Gerke Schlickmann (Hrsg.)

LARP und die (anderen) Künste

Aufsatzsammlung zum MittelPunkt 2016


Rafael Bienia, Gerke Schlickmann (Hrsg.)

„LARP und die (anderen) Künste – Aufsatzsammlung zum MittelPunkt 2016“

Erste Auflage 2016

Copyright © 2016 Zauberfeder GmbH, Braunschweig

Herausgeber: Rafael Bienia, Gerke Schlickmann

Lektorat: Rafael Bienia, Gerke Schlickmann

Autoren: Ruth B., Carsten Herbst, Herwig Kopp, Katharina Munz, Marius Munz, Gerke Schlickmann, Daniel Steinbach, Órla Fiona Wittke

Titelbild: Andreas Kaiser

Satz und Layout: Heike Philipp, Christian Schmal

Herstellung: Tara Tobias Moritzen

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Einwilligung des Verlags in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN: 978-3-938922-75-1

www.zauberfeder-verlag.de

Hinweis:

Das vorliegende Buch ist sorgfältig erarbeitet worden. Dennoch erfolgen alle Angaben ohne Gewähr.

Autoren und Verlag bzw. dessen Beauftragte können für eventuelle Personen-, Sach- oder Vermögensschäden keine Haftung übernehmen.

LARP
UND DIE (ANDEREN) KÜNSTE

AUFSATZSAMMLUNG ZUM MITTELPUNKT 2016


INHALT

Vorwort

• Grenzen übertreten – Gedanken über Partizipation, Computerspieltheater und Live-Rollenspiel (Órla Fiona Wittke)

• Traumpark Larp – Über die Vermischung von Fiktion und Realität in Vergnügungsparks (Herwig Kopp)

• Live-Rollenspiel als Erzählform (Daniel Steinbach)

• Theater und Larp – Warum das zusammen gehört! (Ruth B.)

• „Wir müssen über SIGNA reden“ – Larp und Performance-Installationen (Gerke Schlickmann)

• „They have … what?!“ Atmosphere and Storytelling in Larps (Carsten Herbst)

• Mittendrin statt nur dabei. Oder: Warum Partizipation im Larp wichtig ist (Katharina und Marius Munz)

Literatur: Lesenswert

DANKSAGUNG

Ein besonderer Dank gilt, neben dem Hinterlegen mit und dem Team des MittelPunkts 2016, den Sponsoren Troll Factory, Cast4Art, cosplayflex, Historisches Badehaus, Mittelalterlive, Phönix Carta, die dieses Buch erst ermöglicht haben.

VORWORT

Das Verhältnis von Larp zu anderen Künsten ist das Motto dieses Bandes, und wir haben Larper_innen, Künstler_innen und Wissenschaftler_innen dazu eingeladen, dieses Verhältnis in kurzen Aufsätzen auszuloten. Dabei ging es den Autor_innen weniger um die Frage, ob Larp Kunst sei, sondern vielmehr um die vielfältigen Verschränkungen von Live-Rollenspiel und Kunst.

Larp kann zweifelsohne im hohen Maße als schöpferische Spielform angesehen werden. Begreift man Larp zunächst einfach als Methode oder Technik oder als „Satz von Werkzeugen“, dann gibt es auf die Frage „Ist das Kunst?“ ebenso wenig eine pauschale Antwort wie darauf, ob jegliche Malerei als Kunstwerk zu werten ist. Die Antwort hängt im Wesentlichen von der zugrunde liegenden Definition von Kunst ab und weniger vom untersuchten Gegenstand selbst. So sehen wir keinen Grund, warum Live-Rollenspiel nicht zu den darstellenden Künsten gezählt werden könnte, und dass in den hier versammelten Texten der Bezug zum Theater vielfach thematisiert wird, bestärkt diese Sichtweise.

Darüberhinaus beinhaltet Larp noch viele andere künstlerische Elemente und bietet Spieler_innen sowie Veranstalter_innen einen Anlass, Kunstfertigkeiten in verschiedenen Disziplinen zu entwickeln. Die Entwürfe und Ausgestaltung der Spielhintergründe und die Entwicklung eines spannenden Plots erfordern schriftstellerisches Geschick und dramaturgische Fähigkeiten. Die Ausstattung wird zu großen Teilen selbst entworfen und hergestellt, die meisten Larper_innen nähen ihre Gewandung selbst und betreiben einiges an maskenbildnerischem Aufwand, nicht zuletzt für die Darstellung nicht-menschlicher Spezies. Auch im Spiel oder als Spiel-im-Spiel sind die verschiedenen Künste ein wichtiges Element von Larp: Es wird musiziert, gesungen und getanzt, es gibt Jongleure und Feuerspucker, es werden Geschichten erzählt, Gedichte vorgetragen, gemalt und gezeichnet, wie auf unserem Titelbild zu sehen. So entstehen flüchtige Momente von Kunstgenuss oder auch greifbare Artefakte, die den Augenblick überdauern. Auch um das Spiel herum entstehen Werke, in denen Elemente und Handlungsstränge dargestellt, ausgeschmückt und weitergesponnen werden oder das Hobby Larp allgemein thematisiert wird.

Der vorliegende Band zur Konferenz MittelPunkt 2016 – … to boldly go, where noone has gone before … versammelt daher Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven, sowohl aus der Forschung als auch aus der Praxis. Die Autor_innen zeigen dabei nicht nur das theoretische Potenzial von Larp als Forschungsgegenstand, sondern verdeutlichen an konkreten Beispielen, wie verschiedene Disziplinen ähnliche Phänomene beleuchten. Dabei erweisen sich zwei Begriffe als Schlüsselbegriffe, die in allen Aufsätzen eine Rolle spielen: Partizipation und Immersion.

Den Einstieg macht Órla Fiona Wittke mit ihrem Essay Grenzen übertreten – Gedanken über Partizipation, Computerspieltheater und Live-Rollenspiel. Vom klassischen Theaterraum mit seinem passiven Publikum nimmt sie die Leser_innen mit auf die Suche nach mehr Mitbestimmung und Partizipation und findet diese im Computerspieltheater von machina eX. Anhand deren Spiel Right of Passage zeigt Wittke, wie in Randgebieten der Kunst- und Performance-Szene spannende Formen entstehen, die sie als Zwischenstufen zwischen dem traditionellem Theater und Live-Rollenspiel verortet.

In Traumpark Larp – Über die Vermischung von Fiktion und Realität in Vergnügungsparks stellt Herwig Kopp die Frage, wie man Besucher_innen von Vergnügungsparks stärker einbinden kann. Kopp wirft einen Blick aus der Gehirnforschung und zeigt, wie neue Konzepte sich an der Grenze von Fiktion und Realität nähern und diese zum Verschwimmen bringen. Hier bekommt die Frage, wie Erlebnisweisen an solchen Orten mittels Live-Rollenspiel-Elementen verändert werden könnten, eine Bedeutung für die Konzeption von Vergnügungsparks auf der ganzen Welt.

In Live-Rollenspiel als Erzählform geht Daniel Steinbach der Frage nach, inwieweit Larp als Literatur zu verstehen ist und welche Analysemöglichkeiten sich ergeben, wenn man Larp als Text betrachtet. Er erläutert wesentliche Grundbegriffe der Erzähltheorie und wendet literaturwissenschaftliche Theorien und Methoden auf Live-Rollenspiel an, mit dem Ziel, das Erzählen von Geschichten durch Live-Rollenspiel besser zu verstehen und vielleicht auch besser zu machen.

Auch Ruth B. macht in Theater und Larp – Warum das zusammen gehört! Vorschläge, wie sich Larp durch die Techniken anderer Künste verbessern ließe. Ausgehend von ihrer Arbeit als Theatermacherin einerseits und Larp-Veranstalterin andererseits berichtet sie, wie sich die beiden Bereiche durch gegenseitige Anleihen besser und intensiver gestalten lassen. Sie plädiert – nicht immer ganz ernsthaft – dafür, beides zusammen zu denken und hemmungslos beieinander abzuschauen. Dabei plaudert sie aus dem Nähkästchen langer Jahre praktischer Erfahrung.

Gerke Schlickmann blickt in „Wir müssen über SIGNA reden“ – Larp und Performance-Installationen auf Probleme in der Erfassung neuerer Formen der Theater- und Performance-Kunst und eröffnet mögliche praktische und theoretische Lösungen aus der Sicht von Larp. Anhand der SIGNA-Arbeit Wir Hunde macht Schlickmann deutlich, wie fruchtbar eine Verbindung von gegenwärtiger Performance-Kunst und Larp sein kann – sowohl für Performance-Installationen als auch für Larp.

Carsten Herbst reflektiert Partizipation aus Spielleitersicht in „They have … what?!“ Atmosphere and Storytelling in Larps. „Spieler haben immer Recht“, so lautet die These, und Herbst liefert neben handfesten Beispielen aus seiner Erfahrung als Halloween-Spielleiter auch eine Reihe von gestalterischen Grundprinzipien, wie Immersion durch Partizipation erreicht werden kann.

Katharina und Marius Munz zeigen, wie auch erfahrene Spieler_innen sich weiterhin von Larp verzaubern lassen können, wenn sie teil haben an der Gestaltung von Prozessen, Strukturen und Inhalten eines Larp. Der Beitrag Mittendrin statt nur dabei. Oder: Warum Partizipation im Larp wichtig ist schildert aus Spielleiterperspektive, wie psychologische Mechanismen der passiven Konsumentenhaltung mittels Partizipation verändert werden könnten, um allen Spieler_innen mehr Freude am Rollenspielen zu ermöglichen.

In diesem Sinne wünschen wir vielfältige Anregungen und viel Vergnügen mit dem vorliegenden Band,

Rafael Bienia und Gerke Schlickmann

Órla Fiona Wittke
GRENZEN ÜBERTRETEN
GEDANKEN ÜBER PARTIZIPATION, COMPUTERSPIELTHEATER UND LIVE-ROLLENSPIEL

Attention, you‘re about to enter the game!

Das Licht geht aus, der Vorhang öffnet sich. Still und unauffällig sitzt das Publikum auf den samtig roten Theatersesseln. Ein Lachen, ein Schluchzen, manchmal hustet jemand. Das Geschehen auf der Bühne ist fokussiert, oft hell erleuchtet, dadurch scheinbar abgegrenzt vom Publikumsraum. Doch ein Austausch ist in Form von Reaktionen im Publikum und der Wahrnehmung dieser durch die Schauspieler_innen pausenlos präsent, die Existenz einer vierten Wand ist deshalb eine Illusion. Nun endlich der Applaus, das Licht geht wieder an, die Schauspieler_innen verbeugen sich, lassen sich noch eine Weile beim Ab- und wieder Aufgang auf die Bühne feiern und schließlich verschwinden sie. Die Wege trennen sich. Das Publikum reibt sich die Augen, manche flüstern, andere sagen noch nichts, um den Zauber der eben erlebten Aufführung noch etwas länger aufrechtzuerhalten, den Moment auszukosten, langsam wieder ins Hier und Jetzt zurückzufinden.

Voilà – das allseits bekannte Theater. Ziemlich klassisch, das Publikum augenscheinlich passiv, lediglich aufnehmend. So war es schon im 18. und 19. Jahrhundert üblich, so wirkt es bis heute nach. Jedenfalls in der traditionellen Bühnensituation mit einer physischen Abgrenzung von Bühne und Zuschauerraum.

Zur Zeit der Klassik und Aufklärung stand die erzieherische Funktion des bürgerlichen Theaters im Vordergrund. Eine klare Dramaturgie, möglicherweise „die Moral von der Geschicht‘“ fein säuberlich zwischen den Zeilen des auf der Bühne gesprochenen Textes verpackt. Das Theater als Bildungsstätte, die Zuschauer_innen von gutem Stand, aufnahmewillig und an der Selbstpräsentation im öffentlichen Raum interessiert.

Ein paar hundert Jahre später leben wir im sogenannten ‚post-digitalen Zeitalter‘. Der öffentliche Raum: digitalisiert. Facebook, Twitter, Instagram – die Möglichkeit zur Selbstpräsentation ist so omnipräsent wie nie. Wir ‚liken‘, ‚sharen‘ und ‚haten‘, was das Zeug hält, es gibt kaum Grenzen innerhalb des World Wide Web. Aber was ist eigentlich noch ‚wirklich da‘? Und was nur imaginiert oder philosophiert? Was wird von uns zur Wirklichkeit gemacht und ist doch eigentlich unfassbar? Wer ist heute noch wirklich in der Lage, eine Grenze zwischen Realität und Fiktion zu ziehen? Und gerade diese Fiktion ist doch so wichtig für uns. Um dem Alltag zu entfliehen, der – getrieben vom Konsum – immer hektischer und stressiger wird. Der trotz oder gerade wegen der sozialen Netzwerke und ihres großen Einflusses auf uns immer unpersönlicher wird, die Privatsphäre von Smartphone und Smart-TV ausradiert, die Identität an diverse Plattformen verkauft.

Stop.

Gebt mir mein ‚Ich‘ zurück. Ich möchte es wieder selbst in die Hand nehmen und formen, wie ich will. Nicht, wie Ihr wollt und es mir mit Werbung und mithilfe ominöser ‚Cookies‘, die scheinbar auf mich und meine Interessen abgestimmt sind, vorschreiben wollt. Wer seid Ihr überhaupt? Für wen sprecht beziehungsweise arbeitet Ihr? Gibt es Euer allgemeines Publikum überhaupt? – Ich aber will meine Geschichte wieder selbst bestimmen und Einfluss darauf haben. Mitbestimmen, wie das Märchen ausgeht, und tatsächlich etwas sagen dürfen. Ich will mir selbst meine Rolle in der Welt aussuchen und spielen, wie ich will. Und ich will eine Heldin sein und mit meinem Vampir-Zombie-Superschurken-Team diese Welt retten. Gebt mir die Chance, mich auszuprobieren, und das Gefühl, wichtig zu sein. Gebt mir alle Freiheiten, die tatsächlich nur von den Grenzen der Realität eingeschränkt werden und dann doch so leicht mit unserer Phantasie zu durchbrechen sind. Und gebt mir einen sicheren Raum, wo ich das alles erleben und ausprobieren kann. Gebt mir das Theater.

Weiter.

Schon vor Jahrzehnten formten sich mit Happenings und Performances partizipative Alternativen zum klassischen Theater. Der Drang nach politischen Diskussionen und der Möglichkeit der Mitbestimmung hält sich über die Jahre bis heute, ist noch weiter geformt, verändert, modifiziert worden und vielleicht sogar gerade jetzt wichtiger denn je für einen sozialpolitischen Diskurs innerhalb der Gesellschaft. Neben den atemberaubenden Performance-Installationen à la SIGNA und Thomas Bo Nilsson1 gibt es noch eine Vielzahl anderer immersiver Theaterprojekte, in denen sich die Teilnehmer_innen unterschiedlich frei innerhalb der vielseitig inszenierten Räume bewegen können.

MACHINA EX – THEATER ALS POINT‘N‘CLICK-ADVENTURE

2010: Eine Gruppe von (mittlerweile ehemaligen) Student_innen der Universitup Hildesheim findet sich zusammen und konzipiert als machina eX das sogenannte Computerspieltheater. Seitdem können sie auf viele erfolgreiche Projekte zurückblicken; das neueste ist bald im Theater Hebbel am Ufer in Berlin zu erleben. Die Teilnehmer_innen finden sich hier in von Projekt zu Projekt unterschiedlichen Räumen und Raumstrukturen wieder. Machina eX selbst beschreiben ihr Konzept so:

„Wir gestalten ein immersives Erlebnis irgendwo zwischen Computerspiel, Theater und interaktiver Installation. Durch ein komplexes System von Sensoren, Elektronik und Computerprogrammen schaffen wir inter-reaktive Räume, in denen die Geschichten spielbar werden. Gemeinsam tauchen die Spielergruppen in die Welt des Spiels ein und finden sich inmitten der Handlung wieder, die ohne deren Initiative nicht voranschreitet: Sie folgen den Performer_innen – den ‚Computerspielfiguren‘ – durch die lebensecht gestalteten [sic] Räume, untersuchen Schubladen und Schränke, lösen die Rätsel und treffen Entscheidungen, die Ereignisse auslösen und den Fortgang der Geschichte wesentlich beeinflussen.“2

Als Beispiel ein Einblick in das Projekt Right of Passage3, an dem ich im Juni 2015 im Hebbel am Ufer, Berlin, teilgenommen habe.

Beim Eintritt erhält jede_r einen kleinen Zettel mit einer Nummer darauf, dann werden wir in kleinen Gruppen in einen Raum geführt – ein Wartezimmer. Karten und Infomaterial zu fiktiven Ländern an den Wänden, eine kostümierte Performerin an einem Schreibtisch, ernster Blick. Um sie herum – überall Requisiten. Der Raum ist ausgestaltet, wir befinden uns bei Eintritt bereits auf der ‚Bühne‘, in der Welt von machina eX, am Set von Right of Passage. Wir werden gebeten, auf den Stühlen Platz zu nehmen und uns zu gedulden. Noch wissen wir nichts von dem Schicksal, das uns als Spielteilnehmer_innen zugewiesen wird. Nacheinander werden wir beziehungsweise unsere Nummern aufgerufen. Der erste Schritt auf dem Weg, unsere Spieler_innen-Identität anzunehmen. Also: Nummer aufgerufen, vor der jungen Dame am Schreibtisch Platz genommen, sie macht ein Foto mit einer Webcam, dann wieder auf den Wartestühlen warten. Schließlich bekommt jede_r einen Pass und damit eine Geschichte, wir werden verschiedenen fiktiven Ländern zugeordnet, die sich in einem Konflikt befinden und teilweise seltsame Traditionen pflegen. Wir bekommen einen Grund, warum wir hier die Grenze überqueren wollen. Vielleicht sind wir in einer Untergrundorganisation tätig, vielleicht Mitglieder einer Gegenbewegung, sind der Regierung jedenfalls negativ aufgefallen, stehen auf der bösen Liste. Fakt ist: Wir wollen und müssen den Grenzübergang passieren, um dem Elend zu entfliehen.

Ich bin aufgeregt und mich beschleicht gleichzeitig ein beklemmendes Gefühl. Grenzübergang, Kontrolle, Unsicherheit und mögliche Gefahr in ‚meinem eigenen‘ Land – das kenne ich nicht. Nur aus Berichten, von Bildern, ich merke, wie privilegiert ich bin. Bereits jetzt regt schon allein die Ausgangssituation diese politisch motivierten Gedanken an, dabei hat das Spiel noch gar nicht richtig begonnen. Man findet sich selbst in einer unbekannten Lage wieder, mit einer Geschichte und Nationalität, zu der man noch keinen Zugang hat, mit der man sich vielleicht nicht identifizieren möchte. An dieser Stelle habe ich keine Wahl: Es geht los.

Die zweite Tür öffnet sich zum Kontrollstützpunkt. Kiosk, Fabrik, Krankenstation, unbewohnte Büroräume, Kneipe mit dubiosem Hinterzimmer, in dem Glücksspiele gespielt werden. Und ganz hinten – sehr zentral und etwas bedrohlich – die Grenzkontrollstelle. Ein kleiner Schalter mit einem Kontrolleur, der nichts und niemanden passieren lässt. Er händigt uns Dokumente aus, die ausgefüllt werden müssen, und eine Liste mit diversen anderen Bescheinigungen, die es zu erbringen gilt. Ab jetzt geht das Spiel richtig los. Wir müssen unter anderem (Spiel-)Geld von der Arbeit in der Fabrik und eine ärztliche Bescheinigung für die Ausreise beschaffen, doch der Ablauf wird von einem schnellen Tag-Nacht-Rhythmus bestimmt und immer wieder unterbrochen. Ungefähr zehn Minuten Aktion und Bewegungsfreiheit am Tag, dann wird es Nacht und alles schließt, der Grenzübergang ist dicht, das Licht geht aus. Wir können die eben angefangenen Handlungen nicht abschließen, müssen bis zum nächsten Tag warten. Kurze Zeit später wird es wieder hell, etwas ist passiert. Die Teilnehmer_innen, die eben noch gewissermaßen als Einzelkämpfer_innen unterwegs waren, finden sich spätestens jetzt als Team zusammen. Die Performer_innen stellen szenisch eine Aufgabe. An dieser Stelle merken wir alle, dass sie Spielfiguren sind und in ihren Äußerungen und Handlungen beschränkt, unfrei, programmiert. Ein Beispiel: Wir brauchen einen Arzt, jemand (eine von einem Performer verkörperte Spielfigur) ist verletzt, in einem Schockzustand. Aber der Arzt kann nicht helfen, er hat gestern zu lange in der Kneipe gesessen. Wir müssen die Medizin besorgen. Aber wo ist das Rezept? – Die Kneipenbesitzerin redet vor sich hin, wir fragen nach, sie redet an uns vorbei und schaut uns doch dabei an. Ihre Aussagen wiederholen sich in verschiedenen Satzkonstruktionen, sie gibt Hinweise wie in einem Loop, so lange, bis wir das Rätsel lösen. Wir spielen und raten und suchen und finden das Rezept. Da ist die Medizin, geschafft. Und weiter geht es, jede_r wieder für sich, mit dem eigenen Ziel vor Augen, dem Ziel, die Grenze so bald wie möglich passieren zu können. Wir alle wollen gewinnen, ich will die Erste sein. Das muss doch funktionieren. Aber nein! Jedes Mal, immer wieder, wird ein neuer Grund gefunden, warum ich nicht hier wegkomme. Der Grenzwärter ist unerbittlich. Manchmal zwinkert er, vielleicht habe ich eine Chance? Aber nein, das alles ist Teil des Spiels. Ich bin frei und doch eingesperrt. Ich kann mich entscheiden, kann sagen, was ich will. Aber ich kann niemanden überreden. Die Avatare sind so komplex und doch gescripted. Wie in einem Computerspiel programmiert, sie verlassen ihre Vorgaben nicht, und manchmal hat man doch das Gefühl, dass man sich mit ihnen anfreunden kann. Aber das ist wohl alles Schein, Teil der Immersion. So echt und unecht zugleich.

Nach circa vier Stunden ist es vorbei, wir haben alle verloren. Nein, eigentlich hat nur niemand gewonnen. Niemand hat die Grenzkontrolle passiert, das war trotz Vorlage aller Dokumente und den süßesten Überredungsversuchen für uns nicht möglich. Und genau das ist hier so interessant. Hier finden wir uns doch im eingangs beschriebenen theatralen Raum wieder. Ein unüberquerbarer Grenzübergang. Menschen – hier eben die Spieler_innen –, die vor einer unbekannten Gefahr fliehen wollen, die das Ziel haben, einfach rauszukommen und zu sehen, was auf der anderen Seite ist. Manchmal kommt einem diese andere Seite wie das unerreichbare Paradies vor. Es muss da so schön sein. Das Gefühl kommt auf, nicht an den übermächtigen Instanzen vorbeizukommen und das ‚Paradies‘ nicht zu erreichen, egal, wie sehr man sich bemüht. Egal, wie viele Dokumente man sich erkämpft hat, alles ist da – nur nicht die Erlaubnis. Das Spiel lässt uns nachdenklich und im ersten Moment unbefriedigt zurück. Es ist vorbei, es hat nicht funktioniert, ich habe es nicht geschafft. Und trotzdem habe ich gewonnen, so viele Eindrücke und Erfahrungen. Gefühle, über die ich nachdenken kann. Noch Jahre später.

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