Kitabı oku: «Liebe und Tod im Grenzland», sayfa 2
2. Kapitel
Adelheid ist dagegen
1903 Breslau
Helene befand sich in höchster Aufregung. Sie hatte rote Flecken am Hals, ihre Haut glänzte feucht. Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Knoten im Nacken gelöst und hingen wirr um den Hals. Sie fuchtelte mit den Armen durch die Luft, dann griff sie an die Schläfen: „Wenn du jetzt gehst, bringe ich mich um“, platzte es verzweifelt aus ihr heraus. Elise kannte ihre Mutter gut genug, um zu wissen, es ging ihr schlecht. Helene stand mit zitternden Lippen vor der Tochter und wischte die silberblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich kann nicht mehr“, flüsterte sie, „bin am Ende.“ Sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme zerbrach bei den letzten Worten. Sie nahm Elises Hand und drückte sie gegen ihre Brust. Sie schluchzte, konnte nicht verhindern, dass Tränen quollen und ihre Schultern bebten. Mit beiden Händen bedeckte sie ihr Gesicht. Sie schämte sich vor der Tochter, weil sie sich so gehen ließ.
Einerseits verstand Elise die Mutter. Andererseits spürte sie tief innen, sie musste sich von Helene lösen, die sich dermaßen an sie klammerte.
Helene hatte vor siebzehn Jahren Elise geboren. Deren Mutter hatte sie nicht aufgeklärt. Über gewisse Dinge sprach man nicht. So war ‚es‘ passiert. Wenn sich ein Kind anmeldete, trug die junge Mutter die ganze Last. Dazu die Häme der Mitwelt. Helene, die außer Arbeit bis zu ihrem 17. Lebensjahr und einer von Mühsal geprägten Atmosphäre zu Hause wenig Anregendes kennengelernt hatte, ahnte etwas von Glück, Liebe und Familie, als er ihr begegnet war. Die gute Zeit, in der Gefühle einen Raum hatten, war zu Ende, als sie ihm mitteilte, schwanger zu sein. Da war er aus ihrem Leben verschwunden.
So war das also mit der Liebe, resümierte Helene für sich und schloss für den Rest ihres Lebens dieses Kapitel. Ich werde es allein schaffen, beschied sie und fand eine Arbeit, mit der sie für sich und ihre Tochter Elise den Lebensunterhalt bestreiten konnte. Da sie wegen des Kindes an das Haus gebunden war, nähte sie Militär-Uniformen im Akkord. Die Bezahlung war schlecht. Gesteigert konnte sie nur durch ein erhöhtes Arbeits-Pensum werden. Die Zeit, um zu Fuß die Stoffe bei einem Depot abzuholen und die fertigen Uniformen dorthin zu bringen, ging von der Zeit für das Nähen ab.
Kaum war Elise in der Lage, den Weg zwischen Depot und ihrem Zuhause mit einem für ein Kind viel zu schweren Paket in der Hand zu bewältigen, war es ihre Aufgabe, das Material abzuholen und die fertigen Uniformen als Paket verpackt wieder im Depot abzuliefern.
Helene arbeitete überwiegend bis in die Nacht, um ihre kleine Unabhängigkeit von ihrer eigenen Mutter zu behalten. Als Elise ins Schulalter kam und Zeit brauchte für ihre Hausaufgaben, musste sie dafür kämpfen, überhaupt in die Schule gehen und am Nachmittag ihre Hausaufgaben erledigen zu können. Helene war von der jahrelangen Überarbeitung inzwischen so erschöpft, dass sie für die Bedürfnisse ihrer Tochter kaum noch Verständnis aufbrachte. Schule, Hausaufgaben, Schönschreiben? Unzumutbarer Luxus, fand sie. So entging ihr, dass Elise an jeder Art von Bildung ein hohes Interesse zeigte. Sie wollte lesen, ein Instrument lernen, stellte viele Fragen, die Helene nicht beantworten konnte. Helene war müde und schuftete ständig an ihren Grenzen. Sie brauchte Elise als Hilfskraft. Elise konnte inzwischen schon kleinere Näharbeiten wie Knöpfe annähen, Kanten säumen neben ihren Botengängen ausführen.
Helene wurde vom Jugendamt ein älterer Herr als Hilfe an die Seite gestellt, der sich darum kümmerte, dass Elise regelmäßig zur Schule gehen und ihre Hausarbeiten machen konnte. „Der alte Quasselkopp hält dich nur von der Arbeit ab“, murrte Helene, die es demütigend fand, dass sich Außenstehende in ihre ganz persönlichen Angelegenheiten einmischten. Der Betreuer, Onkel Tritschke, wie Elise ihn nannte, sorgte außerdem dafür, dass Elise Lauten-Unterricht bekam und später wegen ihres guten Geschmacks, ihrer feinen Umgangsformen und ihres ausgeprägten Handgeschicks eine Ausbildung zur Friseurin.
Jahre gingen ins Land. Aus Elise wurde eine junge Frau, nach der sich die jungen Männer auf der Straße umdrehten. Sie war schön mit ihrem blonden Haar, ihren hellen blauen Augen, ihrem federleichten Gang. Ihren geschmackvollen Kleidern sah man nicht an, dass sie selbstgeschneidert waren und wenig gekostet hatten.
Während die 17-jährige Elise ihren Kunden und Kundinnen die Haare schnitt, färbte und ondulierte, dachte sie an den vorausgegangenen Abend. Ein Hauch von dem Glück, das sie empfunden hatte, schimmerte noch auf ihrem Gesicht. Der Stammkunde, dem sie soeben die Haare schnitt, lächelte sie staunend an. Hatte ihr Lächeln ihm gegolten?
Dass sie vor fünf Monaten Christian begegnet war, war für sie wie ein unbegreiflicher Traum. Oder durfte sie an ein wundervolles Schicksal glauben? Diesen Gedanken wollte sie festhalten. Er gab ihr Kraft und Zukunftshoffnung. Einen Hamburger Kaufmannssohn in Breslau kennenzulernen, empfand sie als selten exotisch. Christian war als Rittmeister der Preußischen Kavallerie zu einer Reserve-Übung nach Breslau abkommandiert. Durch die Scheibe des Frisier-Salons hatte er Elise gesehen; einen Moment lang waren sich ihre Augen begegnet. Ein Haarschnitt war bei ihm ohnehin fällig. So trat er ein und fragte an, ob sie ihm die Haare schneiden könne. Sie erschien ihm wie ein Schmetterling im Frühling, so zart, so jung. Er war bezaubert von ihrem jugendlichen Liebreiz, der Anmut, mit der sie sich bewegte und ihr Handwerk versah. „Ich muss sie kennenlernen“, legte er sich entschieden fest.
Sie scheute vor einem näheren Kennenlernen zurück, als er erzählte, er sei Sohn einer Hamburger Kaufmannsfamilie und als einziger Sohn künftiger Erbe des Familien-unternehmens. Elise dachte an die Armut, der sie entstammte und ihre chronisch überlastete Mutter.
Aber der 24-jährige Rittmeister hatte leidenschaftlich Feuer gefangen. Sein bisheriges Leben schien aus den Fugen. Früheres erschien ihm bedeutungslos, einer belanglosen Vergangenheit angehörend. Zum ersten Mal nahm er die Zärtlichkeit der ersten Frühlingssonne auf seiner Haut wahr. Das Frühlingsgrün der Bäume empfand er als grüner, wie mit magischer Lampe von innen beleuchtet. Der Gesang der Stare, Meisen, Finken erschien ihm melodischer und jubelnder. Der Äther duftete nach feuchter Erde und ersten Veilchen. Der Himmel war eisblau wie frisch gewaschen und blank geputzt. Seine Tage waren eine unvermeidliche Überbrückung zweier inniger Abende mit Elise.
Noch wagte Elise nicht, ihr eigenes Gefühl aus seinem Käfig zu entlassen. Alles schien ihr zu groß und unwirklich, um im Alltag Bestand zu haben. Sie dachte an ihre Mutter und deren abrupten Abschied von der Liebe und der Hoffnung auf ein normales Familienglück, als sie schwanger geworden war. Sie spürte, wie ihr eigenes Empfinden, das bisher geschlummert hatte, zunehmend in die Freiheit drängte. Weder hatte sie ihrer Mutter von ihrem neuen Leben erzählt, noch hatte sie Christian mit nach Hause genommen und Helene vorgestellt. Dieses Zarte, was da entstanden war, wollte sie solange wie möglich vor der rauen Lebenswirklichkeit ihrer Mutter schützen.
Inzwischen war die Reserveübung beendet, und die beiden jungen Menschen konnten sich nur an einzelnen Wochenenden sehen, wenn Christian sie besuchte.
An einem Sonntagabend waren sie in den Anlagen entlang der Oder spazieren gegangen. Er hatte ihre Hand genommen und in seine rechte Ellenbeuge gelegt. Mit der Linken streichelte er die Hand und hielt sie wie sacht behütend. Am Abend zuvor waren sie im Dom zu einer Aufführung der Matthäus-Passion. Ihr Spaziergang stand noch ganz unter dem Eindruck dieser Klänge. Die tiefe Traurigkeit des Textes und die ernsthafte Strenge der Musik des Thomas-Kantors hatten sie tief bewegt. Sie sprachen darüber, wie viel ihnen Musik bedeutete. Ihre beiderseitige Liebe zur klassischen Musik gab ihrer Beziehung weitere Tiefe.
Am nächsten Morgen zeigte Elise ihrem Hanseaten ihre schlesische Heimatstadt. Sie bestaunten das Breslauer Rathaus, das Wahrzeichen der Stadt in seiner berühmten Backstein-Gotik, der reich verzierten Ostfassade mit ihren zahlreichen Giebeln und der astronomischen Uhr von 1580. Elise führte Christian zum Dom, erzählte von dessen gotischem Grundbau und seinem Umbau in Renaissance und Barock. „Schau dir mal die übereinander liegenden Fenster der Türme an. Jedes Fenster ist anders.“ Christian lernte mit neuen Augen Dinge wahrzunehmen, die ihm bisher entgangen waren.
Als Elise sich eines Tages entschloss, von ihren häuslichen Verhältnissen zu erzählen, reagierte Christian anders als von ihr befürchtet. Einfühlsam nahm er Anteil und äußerte den Wunsch, ihre Mutter kennenzulernen. Er erzählte von seinem Zuhause, insbesondere seiner Mutter Adelheid, die ein strenges Regiment führte. Der Vater entzöge sich dem so oft als möglich durch seinen Club, wo er Freunde und Geschäftspartner träfe. Die Atmosphäre daheim sei eher unterkühlt, streng und distanziert. Insofern sei er erleichtert, wenn er geschäftlich oder zu Reserve-Übungen nach auswärts könne.
An einem sonnigen, warmen Frühlingstag im Mai fragte Christian Elise, ob sie seine Frau werden wolle.
Diese Frage hatte seit längerem in der Luft gelegen. Elise hatte sie verdrängt, weil sie sich davor fürchtete, die Härte der Wirklichkeit könne den Zauber ihres Märchens allzu schnell beenden. Zwar war sich auch Christian bewusst, ihr Start würde nicht einfach sein. Dennoch war sein Mut an diesem wunderbaren Frühlingstag größer als seine Sorge. Auf den Schrecken in Elises Gesicht als Antwort auf seine Frage war er dennoch nicht gefasst. Wie würden die beiden Mütter reagieren? Er hatte angedeutet, seine Eltern hätten schon seit Jahren mit einem befreundeten Geschäftspartner über die Verbindung von Christian mit Louise, der einzigen Tochter der Freunde, gesprochen. Zwei solide Unternehmen kämen so zusammen. Persönliche Präferenzen der Kinder? Kindereien. Sie seien seinerzeit auch nicht gefragt worden. Familienraison ginge vor. Schließlich lebe man nicht im Märchenland. Das Leben habe seine eigenen Gesetze. Wenn Christian von Elise zurückkam, fühlte er sich jeweils stark, dieser Einstellung seiner beiden Eltern den eigenen Willen als Mann entgegenzusetzen.
„Wie soll das gehen?“, fragte Elise besorgt. Mit der Spitze ihres Schuhes zeichnete sie Kreise auf den Boden, rechtsherum, linksherum. Ihre Stimme klang unsicher. Sie nahm all ihren Mut zusammen, um ein letztes Mal ihre Bedenken zu äußern: „Ich weiß, was meine Mutter sagen wird: ‚Kind, vergiss’ nicht, wo du herkommst. Sowas geht nicht gut.‘ Außerdem braucht sie mich immer noch als Hilfe für Botengänge sowie ihre Haus- und Näharbeiten nach Feierabend.“ Christian hatte bereitwillig zugehört. Er verstand ihre Sorgen. Dennoch bemerkte er nachdrücklich: „Du bist nicht der Besitz deiner Mutter. Du hast ein Recht auf dein eigenes Leben.“ Er schaute sie ernsthaft an und ließ ihr Zeit, bevor er fortfuhr: „Mit meiner alten Dame dürfte es auch nicht leicht werden, aber gemeinsam werden wir es schaffen. Wenn sie dich kennengelernt hat, wird sie ihre Meinung ändern.“
Auf den Frühling folgte der Sommer, für Elise und Christian der glücklichste Sommer ihres bisherigen Lebens. Wenn sie sich nicht sehen konnten, tauschten sie lange, gefühlsstarke Briefe und erzählten sich viele Kleinigkeiten aus ihrer beider Welten, die sich sehr unterschieden. Ein Leben ohne die herzliche Anteilnahme und Zuwendung des anderen konnten sie sich nicht mehr vorstellen.
Als Elise mit ihrer Mutter sprach und ihr sagte, sie wolle heiraten und wer ihr Auserwählter sei, fiel Helene in sich zusammen. Sie sah eine Zukunft vor sich, allein mit Bergen von Uniformstoffen, dem Geruch und Dampf des Bügeleisens. Den Wegen zum und vom Depot, ohne Elises Hilfe. Vor allem aber ohne Elises Gesellschaft. Die Gespräche mit Elise beim gemeinsamen Bügeln, Waschen, Abwasch und Wäsche-Reparieren gaben Helene das Gefühl, eine Freundin an ihrer Seite zu haben, die ihr zuhörte, sie verstand, auf sie einging und mit ihr fühlte. Mit Elise zusammen konnte Helene ihr karges, arbeitsreiches Leben ertragen, das sich deutlich anders gestaltet hatte, als einstmals in Jugendjahren erhofft.
So war Elises Eröffnung, heiraten zu wollen, ein Erdbeben für das innere Gleichgewicht von Helene. „O bitte, nein, das nicht“, beschwor sie ihre Tochter, wohl ahnend, dass sie weder eine Heirat verbieten noch verhindern konnte. Dass Elise eines Tages ihren eigenen Weg gehen würde und auch musste. Elise war ihr starker Anker, der sie festhielt und ihr Kraft gab. In höchster innerer Not und Verzweiflung drohte sie deshalb, sich umzubringen, wenn Elise von ihr ginge.
Christian sprach zuerst mit seiner Mutter, dann mit dem Vater. „Du heiratest keine Friseuse“, war die kategorische Aussage. „Ich werde Elise heiraten, denn ich liebe sie“, entgegnete Christian. „Dann werden wir dich enterben, und du wirst keine Existenzgrundlage haben. Dann kann die Friseuse euch beide ernähren“, sagte der Vater zynisch.
Christian war tief verletzt. In rotem Zorn stürmte er aus dem Raum. Die Tür knallte hinter ihm zu. Zwar hatte er gelernt, Haltung auch dann zu bewahren, wenn etwas schwierig wurde. Das war nun vergessen. Er konnte nicht zulassen, dass seine Liebe zu Elise in dieser Weise geringgeschätzt wurde. Vor allem, dass Elise, ihre Arbeit, ihr Leben wie geschehen, geringgeachtet wurden. Er packte seinen Reisekoffer und fuhr mit dem nächsten Zug nach Breslau, ohne sich von seinen Eltern zu verabschieden.
„Wir könnten unsere Eltern vor vollendete Tatsachen stellen“, erwog Christian, nachdem sie stundenlang ihre Lage besprochen hatten. Beide waren tief aufgewühlt. Einen für alle Beteiligten gangbaren Weg sahen sie nicht. Dennoch gelang ihnen gegen Ende dieses Wiedersehens und Zusammenseins, die Ruhe, den Frieden, ihr Glück zurückzuholen und als starke Kraft in sich zu spüren. Die Widerstände von außen nahmen sie dennoch als große Bedrohung wahr, geeignet, das Zarte zu beschädigen, dass sie verband. Elise spürte wieder die innere Stimme, die sie ganz zu Beginn ihrer Liebe gewarnt hatte vor dieser anderen Welt, der sie nicht angehörte und die sie als unüberwindliche Hürde empfunden hatte. Das Zittern ihres Herzens war auf leisen Sohlen zurückgekehrt.
Im August vertraute Elise Christian an, dass sie schwanger sei. Obgleich sie es gewollt hatten, ließ diese neue Situation sein Herz einen Moment lang stocken. Zu seinem Kampf mit den Eltern, insbesondere der Mutter, kam Verantwortung hinzu, die Verantwortung zu einer klaren Entscheidung für Elise und das neue Leben, das da entstand. Er hatte Angst, ihm könne die Kraft, der Mut, die klare Entschiedenheit seiner Empfindungen ausgehen, jetzt, da er Elise nicht mehr täglich sehen konnte. Die Ablehnung seiner Eltern und die Unmöglichkeit, mit ihnen über Elise und ihre gemeinsamen Pläne zu reden, zermürbten ihn. Auch sein Arbeitsalltag in der Firma, erschwert durch die Spannungen zwischen seinem Vater und ihm, sog einen großen Teil seiner Energie auf. Bei solchen Anwandlungen schalt er sich einen Feigling. Wenn er sich im Spiegel anschaute und seine müden, verzagten Augen seinem kritischen inneren Blick ausweichen wollten, verachtete er sich selbst zutiefst. Er holte Elises Briefe hervor mit all ihrer Liebe, Klarheit und Innigkeit, um sich daran aufzurichten und seinem eigenen Gefühl neue Kraft einzuflößen.
Er hatte den Eltern von Elises Schwangerschaft erzählt und bat seine Mutter wiederholt im Guten, Elise kennenzulernen und ihre harte Meinung zu ändern. Er drohte, tobte und war entschlossen, mit seinen Eltern zu brechen. Wenn sie dann vor ihm standen, und er das Unglück in ihren Gesichtern sah und sich vorstellte, dass auf ihm, dem Einzelkind, alle ihre Hoffnungen ruhten, hielt er seine gewollte Festigkeit nicht aufrecht und versuchte erneut, einvernehmlich ein Treffen der Mutter mit Elise an einem neutralen Ort zu bewirken.
Adelheid stimmte schließlich wider Erwarten zu. Sie hörte in Gedanken die spöttischen Kommentare aus ihrem Freundeskreis über diese Mesalliance. ‚Eine Friseuse, dazu schwanger, also irgend so ein Flittchen.‘ Ihr innerer Widerstand war unerschütterlich, und sie schob dieses Treffen, das sie zutiefst verabscheute, immer wieder auf. Als sie einwilligte, sah sie darin eine reine Formsache im Dienste des Familienfriedens. Ihre Entscheidung stand vorher fest. Sie würde dieser Heirat nicht zustimmen.
Elise hatte es schwer mit ihrer eigenen Mutter. Helene bettelte und flehte Elise an, bei ihr zu bleiben und nicht zu gehen. Das war für Elise schwerer zu verkraften, als wenn die Mutter geschrien oder gezetert hätte. „Bleib, ich ziehe dein Kind mit groß. Du kannst arbeiten gehen. Aber bleib.“ Klein, zerbrechlich und hilflos wie ein Kind stand die Mutter vor ihr und rührte ihr Herz, bis es schmerzte.
Das Treffen war endgültig für einen Tag im März in Hannover vorgesehen. Mutter Adelheid und Christian fuhren mit der Bahn bis Hannover, dann mit offener Droschke weiter bis zum vereinbarten Treffpunkt am Eingang zum Welfen-Schloss. Die Mutter war, je näher sie dem Treffpunkt kamen, zunehmend eisiger geworden, ihr Gesicht zu einer Maske erstarrt, die Lippen ein schmaler Strich. Zwischen den Brauen drohte eine steile Falte. Christian vermied, seine Mutter anzusehen. Der kalte Zorn auf diese Frau, die seine Mutter war, stieg wieder in ihm hoch. Er hinderte ihn, noch einmal begütigend auf Adelheid einwirken zu wollen. Sie hatte Herz und Gefühl hinter einem Eispanzer eingeschlossen.
Elise stand hochschwanger und verloren am Straßenrand. Sie erwartete den Mann, den sie liebte, den Vater des werdenden Kindes unter ihrem Herzen und dessen Mutter. Dick und unförmig fühlte sie sich. Vier Wochen zuvor hatte sie einen neuen Mantel für dieses Treffen genäht, der wieder zu eng war und sich nicht mehr schließen ließ. Sie schämte sich wegen ihres Erscheinungsbildes. So viel hing vom heutigen Tag ab. Ihr war speiübel vor Angst. Die Bahnfahrt hatte sie angestrengt. Sie war abgespannt. Zehn Minuten Liegen täten ihr jetzt gut. Ihre geschwollenen Füße brannten in den zu eng gewordenen Schuhen. Ihr aufgewühltes Herz klopfte bis zum Hals. Ruhig sollte ich jetzt bleiben, gebot sie sich. Da sah sie die Droschke. Ihre Knie begannen zu zittern. Das Kind in ihrem Leib rumorte.
Adelheid war fein gekleidet. Blitzartig nahm Elise deren Erscheinungsbild wahr: den langen, glockigen, gestuften, rauchfarbigen Roch, dazu die taillierte kurze Jacke in gleicher Farbe, darüber das dunkelbraune Mardercape, die passende Marderkappe mit einer nach vorn gerichteten Feder und den kleinen zierlichen Muff aus Marderfell.
Christian war totenblass und ernst. Keine Regung zeigte sein Gesicht, das wie aus Marmor gemeißelt schien.
Elise konnte sich vor Aufregung kaum noch auf den Beinen halten.
Christian trug einen kurzen Mantel mit großen Revers und eine Melone. Wie fremd er aussah neben dieser fremden Frau. Elise fühlte sich wie durch eine Wand aus Eis von diesen beiden Menschen in der Droschke getrennt. Jetzt müsste ein Wunder geschehen, ich möchte erwachen und alles wäre nur ein böser Traum gewesen, dachte Elise.
Die Droschke fuhr an ihr vorbei. Sie hielt nicht an.
Aus Christians Gesicht war der letzte Rest Farbe gewichen vor Wut und Zorn. Die Mutter hatte nur einen Sekunden-Blick auf die Frau geworfen, die sein Sohn liebte. Danach schaute sie wieder eisig und schmallippig geradeaus. Christian bog sich nach vorn zum Kutscher und versuchte, ihm in die Zügel zu greifen: „Halten Sie an“, zischte er mit kalter, zorniger Stimme. Der Kutscher fuhr weiter. „Sie sollen anhalten!“ Die beiden Pferde bäumten sich auf und wieherten. Die Mutter rief metallisch und durchdringend: „Sie fahren weiter!“
Für sie hatte von vornherein die Antwort festgestanden: „Diese Heirat kommt nicht infrage.“
Drei Tage später gebar Elise in Hannover ihre Tochter Emma. Niemand war bei ihr außer der Hebamme. Drei weitere Tage später fuhr sie mit dem Baby nach Breslau zurück.
Christians Kampfkraft hatte sich erschöpft. Er gab auf. „Du widerlicher Feigling“, sagte er am Abend zu seinem Spiegelbild. „So wirft ein Feigling sein Glück fort.“ Er hatte keine Kraft mehr für den Kampf gegen seine Mutter.
Elise sah Christian nicht wieder.
Jahre später hörte sie von Emma, die ab und zu ihren Vater Christian in Hamburg besuchte, von dessen Lebensbedingungen.
Er hatte die ihm von seinen Eltern bestimmte Louise geheiratet. Sie hatten zusammen ein Kind, Berta. Wenn Emma kam, richtete die Haushälterin für die beiden Halbschwestern Kakao und Kekse, einen Tisch mit Spielen wie Halma, Domino oder Karten. Die Mädchen taten, was man von ihnen erwartete. Berta war sehr ernst. Emmas Großmutter Adelheid ließ die Mädchen meist allein. Sie fragte Emma nicht nach ihrer Mutter oder ihrem, Emmas Leben in Breslau.
Den Vater bekam Emma meist nur kurz zu sehen. Freudlos sah er aus, als wenn er nie lachte, dachte Emma. So freudlos, wie auch Berta war und die ganze Atmosphäre in diesem Haus mit den hohen Fenstern, den schweren samtenen Vorhängen und der dunklen Vertäfelung in allen Räumen. Düster, fand Emma. Man konnte kaum atmen, so merkwürdig war hier die Stimmung. Ernst, traditionell, gesittet, ohne Lachen. Zeit ging ins Land. Emma war um die zehn Jahre, als ihr mehr und mehr widerstrebte, zu ihrem Vater zu fahren. Ihr Empfinden, sein ganzes Inneres sei erstarrt, ohne Wärme, ohne Liebe, taten ihr weh. Sie erreichten einander nicht. Er hatte Emma nie nach Elise, ihrer Mutter, gefragt. Berta sagte, ihr Vater habe viel zu tun, daher wäre er so ernst.
Großmutter Adelheid hatte nie den Wunsch, Emma, ihre Enkelin, näher kennenzulernen, das Kind ihres Sohnes, das Elise unter dem Herzen getragen hatte, als Adelheid zusammen mit Christian in Hannover vor dem Welfen-Schloss an ihnen vorübergefahren war ohne anzuhalten.