Kitabı oku: «In des Teufels Gasthaus»
Ruth von Wedemeyer
IN DES
TEUFELS GASTHAUS
Eine preußische Familie
1918 – 1945
Herausgegeben von Peter von Wedemeyer und Peter Zimmerling
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
5.Auflage 2010
ISBN 978-3-86506-804-0
© 1997 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Quellenhinweis:
Die Abbildungen stammen aus Familienbesitz.
Texte: S. 129 ff., 184 f., 189 f.
© Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelfoto: Getty Images
Satz: Satzstudio Winkens, Wegberg
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Vorwort von Peter Zimmerling
Einführung von Peter von Wedemeyer
I. Hans von Wedemeyer – Erinnerungen aus seinem Leben
Es begann in Pommern
Unsere Verlobung 1918
Der will ‘was und der kann ‘was
Hans’ Weg nach Kieckow
Trauung in aller Stille
Revolution in Berlin und Hochzeit in Kieckow
Eine schöne und karge Welt
Leben in Pätzig 1918 bis 1945
Ich habe immer so viel zu danken
Gutsherr von Pätzig in Feld und Wald
Ich freu’ mich, dass Sie singen!
Mitarbeiter in Pätzig
Ganz auf die Wahrheit gestellt
Bei Franz von Papen im Kampf gegen Hitler 1932/33
Verräter der guten Sache
Prozess 1936
Nur keine Überschwemmung, das mindert die Freude!
Vater von sieben Kindern
Leben in des Teufels Gasthaus
Soldat im Zweiten Weltkrieg
Da hat auch der Tod seinen Schrecken verloren
Erinnerungen an den Sohn Max von Wedemeyer
… in die Schrift hinein und ins Gebet hinein
Predigt von Dietrich Bonhoeffer zur Konfirmation Max von Wedemeyers
Junge, mach’ die Augen auf!
Konfirmationsansprache von Hans von Wedemeyer
Verliebt und glücklich über alle Bäume
Streiflichter aus einer besonderen Ehe
Es war so schön, deine Stimme zu hören
Briefe aus dem Krieg von Hans von Wedemeyer
II. Hans von Wedemeyer – Freunde erinnern sich
Warum mir dieser Mann zuerst auffiel
von Klaus von Bismarck
Ein geborener Herr
von Hans-Jürgen von Kleist-Retzow
Instinktsichere Witterung für alles Dämonische
von Wilhelm Stählin
Ein gekröntes Leben
von Fabian von Schlabrendorff
III. Freundschaft mit Bonhoeffer
Ruth von Kleist-Retzow und Dietrich Bonhoeffer
IV. Wieder in Pommern – Am Sterbebett meiner Mutter im Oktober 1945
Ein Reisebericht
V. Wer war die Autorin Ruth von Wedemeyer?
von Peter von Wedemeyer
VI. Erinnerungen an die Familie
von Ruth-Alice von Bismarck
VII. Anhang
Lebensdaten von Hans von Wedemeyer
Anmerkungen
Genealogie
Landkarte
Personenregister
Fußnoten
Meiner Tochter Maria
in Liebe zugeeignet
VORWORT
Im Herbst 1990 waren wir als Kommunität der »Offensive Junger Christen« zur Jahresklausur im Kloster Kirchberg, dem Berneuchener Haus bei Sulz am Neckar. Beim Stöbern in der Hausbibliothek fand Horst-Klaus Hofmann das kopierte Manuskript des nun vorliegenden Buches. Er gab es mir zu lesen, und ich war begeistert. Nach der nächtlichen Lektüre stand für mich fest: Dieses Buch müsste einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Besonders dankbar bin ich, dass die Familie von Wedemeyer nach anfänglichem Zögern ihre Zustimmung zur Veröffentlichung gab und Peter von Wedemeyer als Mitherausgeber beauftragte.
Die vorliegenden Erinnerungen an Hans von Wedemeyer stellen ein einzigartiges Zeugnis der Bewährung des christlichen Glaubens in schwerer Zeit dar: Der lebendige Christus ist da, auch wenn sonst alles zusammenbricht. Das vorliegende Buch ermutigt, Gott zu vertrauen. Daneben zeigt es, dass der Glaube eine unvergleichliche Quelle der Inspiration darstellt. Christsein muss weder Lebensbeschränkung noch Rückzug aus der Weltverantwortung bedeuten. Die nachfolgenden Seiten belegen, dass Christsein vielmehr zur Lebensfreude und zur Verantwortung befreit.
Wer war Hans von Wedemeyer?
Aus allen Facetten seines Lebens geht hervor, dass er ein außergewöhnlicher Mann gewesen ist. Das gilt zunächst für sein Wirken als politischer Mensch: Franz von Papen, Hans von Wedemeyers Freund aus dem Ersten Weltkrieg, war von Hindenburg im Mai 1932 zum Reichskanzler ernannt worden. Hans suchte ihn in einsamer und resignierter Lage auf, um ihm in dieser verzweifelten Situation zu helfen. So hat er in der für Deutschland entscheidenden Zeit vom 17. November 1932 bis Ende Mai 1933 Papen beratend zur Seite gestanden. Er hatte den Auftrag, ihm bei der Zusammenstellung eines neuen Kabinetts zu helfen, das eine Beteiligung der Nationalsozialisten an der Regierung verhindern sollte. Sowohl bei Unterredungen mit Hitler wie auch mit Göring und anderen nationalsozialistischen Führern war Hans von Wedemeyer als dritter Mann zugegen. Die Autorin, seine Frau Ruth, schreibt von dieser Zeit: »Dann kam es vor, dass er mitten in der Nacht aufrecht in seinem Bett saß und alle Schrecken kommen sah, die uns dann tatsächlich beschieden waren: der Zusammenbruch der alten Welt ohne Hoffnung …« Prophetisch hat Hans von Wedemeyer das Unheil vorhergesehen, das Deutschland treffen würde. Trotzdem scheute er keine Minute davor zurück, weiterhin Verantwortung zu übernehmen. Das zeigte sich auch an den ständigen Diskussionen in Pätzig über die Rangordnung der Werte. Immer war Hans von Wedemeyer darum bemüht, den roten Faden im Leben zu finden und festzuhalten.
Auch als Soldat ist er sich selbst treu geblieben. Die Ausbildung als Rekrut hatte ihm gezeigt, dass man seiner selbst gewiss sein muss, um scheinbar demütigende Gehorsamsforderungen nicht als persönlichkeitszerstörend zu empfinden. Nur aufgrund dieser Erziehung wie auch der seines Elternhauses wird verständlich, dass er später in Familie und Beruf selbst sosehr Autorität war und Menschen an ihm wachsen konnten.
Die Ehe zwischen ihm und seiner Frau Ruth muss außergewöhnlich glücklich gewesen sein. So berichten es alle, die sie gekannt haben. Die entsprechenden Abschnitte der Erinnerungen zeigen, dass Hans von Wedemeyer gerade seiner Ehe viel Zeit und Kraft gewidmet hat. Es ging ihm um vollständige Transparenz zwischen den Ehepartnern. Kein Schatten eines Unverständnisses sollte ihre Gemeinschaft trüben. In einer bindungsscheuen Zeit, die vom Zerbruch menschlicher Beziehungen in der Gesellschaft geprägt ist, stellt ein solches Zeugnis heute eine große Herausforderung dar.
Als Mann charakterisiert Hans von Wedemeyer eine besondere Mischung von Zartheit und Konsequenz. War es ihm in seiner Jugend äußerst wichtig, die Wahrheit über jede Sache herauszufinden und zu verbreiten, sodass er gelegentlich die Menschen darüber vergessen konnte, wurden ihm mit zunehmendem Alter der einzelne Mensch immer wichtiger und die Erforschung dessen, was diesem im Augenblick Not tat.
Den Familienvater charakterisiert ein ausgeprochenes pädagogisches Geschick. Er ist in seinen Erziehungsgrundsätzen fordernd. Doch vermittelt er gleichzeitig allen seinen Kindern und Mitarbeitern, dass er sie bedingungslos zu lieben sucht. Sie waren gewollt, geliebt und wurden gebraucht. – So könnte man seine Einstellung der Großfamilie im Gutshaus gegenüber beschreiben. Die Lebensweise in Pätzig unterschied sich wesentlich von einer heutigen Kleinfamilie. Bei einer siebenköpfigen Kinderschar war eine Überbehütung des Einzelnen gar nicht möglich. Hinzu kam das Eingebettetsein in den Gesamtrahmen des großen Gutsbetriebes. Stille und Andacht am Morgen waren die Basis des alltäglichen Zusammenlebens. Man wurde nicht gezwungen, die Andachten zu besuchen. Doch spürte jeder sehr schnell, dass in ihnen die einende Mitte des gemeinsamen Lebens lag.
Hans von Wedemeyer gehört zu den Gründungsmitgliedern der Berneuchener Bewegung, aus der später die Michaelsbruderschaft hervorgegangen ist. Es ging ihm darum, die Nähe Gottes mitten in der Welt zu erfahren. Dankbarkeit wurde darum für ihn zum hervorragenden Lebenselement. – Genau dies versucht auch die »Offensive Junger Christen« heute als seelsorgerliche Grundhaltung auf Schloss Reichenberg vielen Teilnehmern der Seelsorge-Kurse und den jungen Erwachsenen unserer Lebensgemeinschaft mitzugeben.
Als Landwirt war Hans von Wedemeyer ein Mensch, der die Natur achtete und hegte. Selbst in seinen Briefen aus dem Krieg spricht noch seine Liebe zur Natur. Er hatte mitten in den unmenschlichen Kämpfen an der Ostfront noch Augen für die Schönheit der Schöpfung. Seine Ausführungen sind angefüllt mit Poesie.
Schließlich war er von seinem ganzen Selbstverständnis her Preuße. Er fühlte sich immer für das Gemeinwohl mitverantwortlich. Damit verbunden war die Bereitschaft, das Recht im Land weit über den eigenen Vorteil und das eigene Wohlergehen zu stellen. Hans von Wedemeyer hatte die Freiheit, furchtlos in unmittelbarem Kontakt mit Gott zu leben und bereit zu sein, diese Überzeugung zu bekennen. So schreibt es seine Frau Ruth.
Unserer Gesellschaft ist die Verantwortung des Einzelnen für andere fremd geworden. Sich durchzusetzen auf Kosten des Nächsten gilt als normal. Vor diesem Hintergrund soll das vorliegende Buch eine Hilfe zum Nachdenken und zum Umdenken werden. So empfehle ich es allen, Jungen und Alten, die als Christen Verantwortung für ihre Mitmenschen übernehmen wollen.
Ich danke der Großfamilie der »Offensive Junger Christen« in Reicheisheim im Odenwald für die Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage sowie besonders Gerrit Boomgaarden, Helmut Hammer, Evelyn Hoffmann, Philipp Meier, Tobias Weisflog und Michael Weyer-Menkhoff.
Schloss ReichenbergPeter Zimmerling
EINFÜHRUNG
1965 holte mein Bruder Hans-Werner unsere Mutter zu sich in den Schwarzwald in die Stille und Geborgenheit seiner Gaststube. Er fühlte, dass sie in diesem Moment die Kraft hatte, Rückschau zu halten. So schrieb sie in wenigen Wochen ihre Lebensgeschichte mit ihrem Mann nieder. Heiße Tränen mischten sich mit großem Glücksempfinden. Sie verstand selber kaum, wie unter ihren Händen die Gestaltung dieser Erinnerungen entstand.
Ich selber war als der Jüngste nach dem Krieg lange an ihrer Seite und erlebte, wie sie bis an ihr Ende im inneren Dialog mit meinem schon 1942 gefallenen Vater war. Gerade deswegen bin ich für dieses Buch besonders dankbar, weil es, im Grunde für die Enkel geschrieben, meinen Vater und die Welt meines Herkommens schildert. Für mich, der ich jetzt kaum älter bin als Vater zum Zeitpunkt seines Todes 1942, ist diese Zeit 1918 - 1945 recht schwer zu verstehen. Das Buch regt mich an zum Dialog mit der noch lebenden Generation vor mir und insbesondere mit meinen Geschwistern, die Vater noch als Vater erlebt haben und mir noch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vermitteln können. Dabei fehlt allerdings meine Schwester Maria. Sie starb 1977 in Boston. Sie stand unserem Vater besonders nah. Ich vermute, dass Mutter ihr deshalb dieses Buch widmete.
So ist ein Gedanke an sie, ihre unendlich glückliche und so schmerzvoll endende Verbindung zu Dietrich Bonhoeffer, in den »Erinnerungen an die Familie« enthalten. Seine Freundschaft mit unserer Großmutter, Ruth von Kleist-Retzow, die der Verlobung vorausging, wird von meiner Schwester Ruth-Alice beschrieben, die beide besser als ich gekannt hat. Sie schreibt auch über das Engagement unserer Eltern im Entstehen der liturgischen Bewegung, an dem sie selbst beteiligt war (s. S. 250).
Die Urfassung des Buches, so, wie es meine Mutter für die Enkel geschrieben hat, wurde von Peter Zimmerling leicht bearbeitet. Das gilt auch für die Kapitelordnung und die Überschriften. Hinzugefügt wurden drei Briefe meiner Großmutter Ruth von Kleist-Retzow an Dietrich Bonhoeffer, für deren Abdruckrechte ich Konstantin von Kleist-Retzow danke, und Mutters Bericht über ihre Reise ans Sterbebett ihrer Mutter in Pommern im Oktober 1945. Mutters besonderes Verantwortungsbewusstsein ihr und dem ganzen Dorf gegenüber lässt die enormen Gefahren beiseite, sich der Vertreibung entgegen nach Osten durchzuschlagen. Sie erreicht die Mutter in der letzten Lebensstunde, wird gefangen genommen, bricht aus, findet die Pätziger Dorfbewohner, die über die Oder nach Hohenfinow ausgewiesen waren, und kehrt nach sechs Wochen zurück zu ihren teils noch kleinen Kindern.
Im Anschluss daran habe ich einen kurzen Abschnitt über das Leben meiner Mutter nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben.
Anmerkungen, Lebensdaten, Ahnentafeln und Orientierungskarte sind zum Verständnis und zur leichteren Lesbarkeit des Buches beigefügt.
Ich danke allen, die mir bei der Vervollständigung und Herausgabe dieses Buches geholfen haben, insbesondere meinen Geschwistern Ruth-Alice und Hans-Werner.
Peter von Wedemeyer
I.
HANS VON WEDEMEYER
ERINNERUNGEN
AUS SEINEM LEBEN
Liebe Kinder!
Hier gebe ich euch mit Freuden meine Erinnerungen an Euren Vater in die Hände. Lest sie oder lest sie nicht. Aber um eins bitte ich euch: Hebt sie auf für Eure Kinder. Denn ich habe dies nicht leicht dahingeschrieben. Ich habe nichts beschönigt und nichts verschwiegen. Und weil ich mich nur schwer an dieses Werk herantraute, darum schrieb ich, was mir zufloss. Es wuchs mir unter den Händen wie ein Strom, den ich nicht halten konnte, der mich ergriff, mich trug und mich glücklich machte. So ist es kein geordneter Lebenslauf geworden. Es wird also nötig sein, dass Ihr beim Lesen meine Sprünge durch die Zeiten in ihrem inneren Zusammenhang mitvollzieht oder euch herausgreift, was gerade interessiert.
Wenn Ihr es lest, so lasst dabei keinen Schatten in Eurer Seele haften. Das wäre nicht im Sinne dessen, dem die Zeilen gelten und der bis zuletzt ungewöhnlich bescheiden von sich und ungewöhnlich gütig über andere dachte. Freut euch vielmehr, dass er Euer Vater war, und eifert ihm nach!
Ruth von Wedemeyer, Weihnachten 1965
ES BEGANN IN POMMERN
Unsere Verlobung 1918
Es begann in Kieckow im Kreis Belgard a.d. Persante in Pommern. Dort waren wir seit 1914 auf dem väterlichen Gut der Kleist-Retzows zu gemeinsamer Arbeit vereint: wir drei Schwestern Spes Stahlberg, Maria von Bismarck und ich und meine Schwägerin Maria (Mieze), geb. von Diest, als Hausfrau, samt den jeweiligen Kindern, und vor allen Dingen meine Mutter als unser geistiges Oberhaupt. Ein kluger Besucher hat uns damals mit einem gut gestimmten Orchester verglichen, meine Mutter mit dem Dirigenten. Ich hatte seit dreieinhalb Jahren das Gutsbüro in der Hand, keine ganz leichte Sache für mich. Als ich es übernahm, war ich 17 Jahre alt und bar jeglicher Ausbildung und Anleitung. Im ersten Krieg gab es kaum U.K.-Stellungen.1 Der Gutsherr, mein Bruder Hans-Jürgen, samt Beamten und Rechnungsführer wurden sofort zum Heeresdienst einberufen. Die Güter umfassten ca.6000 Morgen. In Klein-Krössin gab es noch einen tüchtigen alten Hofmeister, aber Kieckow wurde in dieser Zeit von einem im Grunde schon ausgedienten und an starken Verkalkungssymptomen leidenden Beamten verwaltet. Die guten Pferde wurden sofort ausgemustert, außerdem im Laufe der Jahre 80 Mann der Belegschaft. Es blieben keinerlei motorische Acker- oder Fahrgeräte. Die Kriegsgesetze für die Landwirtschaft strotzten vor Unerfahrenheit der Behörden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es wurde von uns verlangt, mit drei Pfund Hafer als Futter für die Pferde täglich auszukommen. Natürlich wurden dafür nicht etwa Kraftfuttermittel in annähernd ausreichendem Maße angeboten.
Aber jeder von uns war tief davon durchdrungen, dass es in Gedanken an unsere Soldaten draußen und an unser Vaterland um den letzten und höchsten Einsatz von einem jeden ging. Es war uns zumute, als stünde unser allereigenstes Haus in hellen Flammen. Ich habe in diesen Jahren arbeiten und auch etwas mit Menschen und Behörden umgehen gelernt. Wir lebten bereits unter den Zeichen der Enderscheinungen des Krieges, ohne dass wir Frauen das so ganz übersehen hätten oder sehen wollten.
Es war am 14. August 1918. Noch sehe ich vor meinen Augen den breiten Doppelbogen, mit großlinigen, aber schlichten Schriftzügen weiträumig bedeckt und mit den zwei ebenso groß oder klein geschriebenen Wörtern – Hans Wedemeyer – unterzeichnet, vor meiner Mutter liegen. Eine Anfrage aus dem Fliegerhorst in Köslin. Er sei soeben aus dem Schlamassel in der Türkei lebend heimgekehrt und wolle nach seiner dortigen Verwendung als Fliegerbeobachter nunmehr auf den Flugzeugführer schulen. Ob er uns besuchen dürfe.
Noch nie hatte ich den Namen Wedemeyer gehört oder gelesen. Und dann sehe ich ihn – unvergesslich – im großen düsteren Wohnzimmer rechts gegen das Fenster sitzend und aufspringen, als ich ins Zimmer trat. Vor wenigen Minuten war er eingetroffen und schon tief im Gespräch mit der großen Runde, vor allem mit meiner Mutter, untergetaucht. Schon jetzt war er wie ein alter Hausfreund einbezogen. Der äußere Eindruck war genau der, den das Bild mit Papen2 und seinem Fuchs in Israel wiedergibt.
Mein Bruder Konstantin war vor 14 Monaten als Flieger gefallen. Vor eineinhalb Jahren hatten wir ihn zum letzten Mal gesehen. Die Erinnerung war im Begriff zu verblassen. Wir hatten auf diesen Sohn und Bruder große Hoffnungen gesetzt, hatten ihn heiß geliebt und waren immer noch schwer geschlagen davon, ihn entbehren zu müssen. Und in dieser Stunde wurde jeder Einzelne von uns erfasst von dem Eindruck der Ähnlichkeit dieses völlig fremd in unserem Haus auftauchenden Herrn von Wedemeyer mit unserem Konstantin. Als sei dieser auferstanden, so wirkte Hans auf uns, und jeder suchte, möglichst unauffällig, diesem Wunder an Ähnlichkeit gegenüberzusitzen, um die frisch werdende Erinnerung in sich aufnehmen und genießen zu können. Schon allein dies sonderbare Geschenk brachte Hans jedem von uns sehr schnell nah. Aber zugleich stimmten die Anschauungen über die Weltlage, über die Fragen der Monarchie und vieles andere erstaunlich überein.
Ich sehe noch den großen Kreis von über 20 Menschen auf der geräumigen Glasveranda vereinigt. Sie gab einen weiten Blick frei über den Garten hinweg in Wiesen und Wälder. Da breitete rechts die nun schon mächtige Eiche ihre Äste, die mein Vater als kleiner Junge gepflanzt hatte. Immer war sie uns wie ein Vermächtnis von ihm. Der Garten setzte sich in einem uns Kinder als Urwald anmutenden Teil fort. Mit begrüntem Teich, Sumpf und Brennnesselmengen reizte er in seiner Wildheit unsere Fantasie und entfaltete unser freiheitliches Gefühl, unseren Mut. Er war der Tummelplatz unserer Kindheit, und vor allem wird keiner von uns die Räuber- und Prinzessinnen-Spiele vergessen, bei denen alle mittaten, auch die Erwachsenen, und deren besonderer Reiz in ihrer Ausdehnung bis zur völligen Dunkelheit lag. Hier war meine Heimat.
Nun waren wir schon bei zentralen und ernsten Themen gelandet. Hans forderte sich eine Bibel, um irgendeine Aussage belegen zu können. Die Wogen vertrauensvoller Gespräche gingen hoch und trösteten uns in harten, unheilvoll drohenden Tagen. Es wurde draußen dunkel, und die spätsommerlichen Nebel zogen in bewegten Schwaden über die weiten Gartenwiesen, als wir zum Abendbrot ins Haus aufbrachen. Ein schöner Klavierabend mit Tante Pessi3 folgte. Auch sangen wir vier4 Schwestern unsere vierstimmigen Chöre unter ihrer Leitung. Keiner hat wohl diesen feierlich harmonischen Tag kurz vor dem bösen Kriegsende je vergessen können.
Am Sonntag gab es dann einen großen Familienspaziergang. Dabei fügte es sich, dass wir beide höchstens zwei oder drei kaum wesentliche Sätze miteinander sprachen. Dann saßen wir alle in der Kiefernschonung südwestlich vom Klepperberg auf flachen, im Kreis liegenden Steinen, dem »Konstantin-Gedenkplatz«. Hans erzählte seine Patrouille. Zum ersten Male erzählte er sie ausführlich, diese Feindpatrouille tief ins französische Land hinein, vor nunmehr genau vier Jahren. Der Gast fuhr wieder ab, wir alle waren durchwärmt von seiner bezaubernden Gegenwart. Aber mir wäre es damals keinen Augenblick eingefallen, darüber nachzudenken, ob ich ihm einmal nähertreten könnte. Dagegen er, auf seinem Rückweg nach Köslin in Belgard (das war meine Geburtsstadt) auf den Anschlusszug wartend, ging in die Kirche am Markt, ohne zu ahnen, dass ich dort getauft war, und saß dort im Dämmern, um alles Erlebte zu bedenken. Dort geschah es, dass er von der, wie er’s empfand, jubelnden Gewissheit erfasst wurde: »Dies Mädchen wird meine Frau werden!« Vielleicht hat meine Mutter auch an dieses erstaunliche Ereignis gedacht, als sie bei unserer Hochzeit mit so starker Pointierung von der Realität des Vätersegens zu uns sprach.
Die Wedemeyer- und die Kleist-Eltern waren sich vor 21 Jahren in Bad Nauheim begegnet, nicht lange vor meines Vaters Tod, und sie hatten sich, für alle Teile aufregend, verstanden. Ein Wiedersehen hatte sich nie ereignet, aber von diesem Eindruck her riet meine Schwiegermutter ihrem Sohn, sich Kieckow anzusehen und Frau von Kleist zu besuchen.
Jetzt, im September 1918, suchte Hans seine Mutter auf – sie war zur Kur in Wiesbaden – und erzählte ihr ohne Umschweife, er würde mich heiraten. Auf die zutiefst erschrockenen und eindringlichen Fragen, wie denn das Mädchen sei, wie alt, wie sie aussehe, was ihm an ihr gefalle, lehnte er jegliche nähere Antwort ab. »Das weiß ich alles nicht, ich weiß lediglich, dass ich sie heiraten werde.« Bald danach, bei einem Brunftabend in Schönrade, erzählte Hans dann unumwunden von seinen positiven Eindrücken in Kieckow. Die Geschwister wurden hellhörig und bestürmten ihn schließlich eindringlich, ob da nicht noch ein Mädchen sei, – ja, ja, da sei doch noch eine, die solle er nur heiraten.
Hans, in der Gewissheit, dass er den schlauen Bruder nur mit großer Sicherheit zu täuschen vermochte, erklärte, einer spontanen Eingebung folgend: »Ja, aber die ist klein und dick und sitzt den ganzen Tag im Büro.« Betretenes Schweigen war die Antwort.
Etwa zum 10. Oktober hatte meine Mutter sich Hans’ Schwester, Anne Klitzing, als Cläre Waechters Freundin nach Kieckow eingeladen. Hans sollte einen Bock schießen. Er wollte sich mit seiner in seine Geheimnisse eingeweihten Schwester dort treffen. Am ersten Morgen nach der Frühstückstafel, die für 24 Personen ausnahmsweise sogar mit Mutter geziert war und ohne Wrukenmarmelade5 wie sonst täglich, hörte ich Hans beim Aufstehen in souveräner Harmlosigkeit sagen: »Gnädige Frau, ich würde gern noch eine Frage mit Ihnen allein besprechen.« Diese in der Öffentlichkeit gestellte Frage konnte in den Augen der anderen nichts bedeuten. Nun hatte meine Mutter eine Anlage zur Hellsichtigkeit. Aber außer ihr konnte gewiss keiner sich vorstellen, dass ein Mensch die Freiheit besaß, eine derart gravierende Unterredung, wie sie jetzt folgen sollte, der allgemeinen Beurteilung auszusetzen. Das war am 12. Oktober 1918, als Hans meine Mutter in aller Form bat, um mich werben zu dürfen.
»Lieben Sie denn meine Tochter?«, war die erstaunte Frage.
»Nein, aber ich weiß, dass ich sie heiraten möchte und muss, und ich glaube, dass das Vertrauen die wichtigste Grundlage ist!«
»Glauben Sie denn, dass meine Tochter Sie liebt?«
»Das weiß ich ebenso wenig, aber ich habe ja auch noch kaum mit ihr gesprochen.«
Eine gemeinsame Wagenfahrt wurde verabredet. Anne und Mutter hinten, Hans und ich auf dem Bock. Mutter musste diesen Plan gegen den heftigen Widerspruch von Spes, Mieze, Maria und zuletzt natürlich auch gegen den von mir in vier Einzelgesprächen durchsetzen. Die drei Schwestern fürchteten zornig, Mutter würde mich diesem von allen geliebten Freund auf silbernem Teller präsentieren und etwas, was sich möglicherweise einmal anbahnen könnte, von vornherein gänzlich verderben. Geradezu aufdringlich fanden sie diese Idee und absurd. Aber Mutter konnte eine gute Klinge schlagen und erklärte, sie seien alle zusammen altmodisch, wenn sie den jungen Leuten die Chance zu einer zwanglosen Begegnung nicht gönnen wollten und ihnen durch ihr Misstrauen jede Harmlosigkeit nähmen. Als Letzte von dem Plan orientiert, erklärte ich, dass dies am Samstag und wegen der Lohnabrechnung unter gar keinen Umständen für mich in Frage komme. Außerdem sei jeder einzelne von den Geschwistern eher berechtigt, mitzufahren und würde Wedemeyer mehr interessieren. Mutter setzte ihren Plan durch, und nun saß ich plötzlich doch neben ihm. Dies wurde bis in die Dunkelheit mit angeknackster Deichsel, die notdürftig mit Draht von uns beiden geflickt werden musste, die schönste und wichtigste Fahrt meines Lebens. Es ging um lauter sachliche Fragen. Er spielte mir den Ball zu, und ich warf ihn spielend zurück. Wir verstanden uns.
Seit jenen Stunden wusste ich von dem Wehen des Heiligen Geistes, gleichgültig, worüber Menschen miteinander reden. Wusste etwas von der Glückseligkeit, die er auslöst. Meine Enkel werden hiernach ohne Frage denken: Wie umständlich, wie unnatürlich war doch jene Zeit! Warum musste man mit großen Widerständen eine Wagenfahrt zu Vieren inszenieren? Wie viel einfacher wäre es gewesen, wenn Hans mich unmittelbar gefragt hätte, ob ich mit ihm spazieren gehen wolle! Aber zu damaligen Zeiten und unter dem Schutz der Sitte wäre das eine Form der Werbung gewesen, mit der er das Mädchen kompromittiert hätte. (Man nannte das so und meinte »bloßstellen«.) Außerdem wäre es für mich in hohem Maße erschreckend gewesen und hätte mich aller Voraussicht nach zu einer brüsken Ablehnung veranlasst.
Am Abend stellte mir meine Mutter, die ich regelmäßig zu Bett brachte und die schon lag, eine vorsichtig tastende Frage. Mutter war meine Freundin. »Was würdest du denn dazu meinen, Hans Wedemeyer zu heiraten?« Ich war empört über diese Frage. Ob sie mir durchaus künstlich Raupen in den Kopf setzen wolle? Ob sie mir zutraue, ich würde mich unglücklich machen lassen, wenn ich mich ein einziges Mal mit einem Mann gut unterhalten hätte? Im Übrigen empfände ich es für mich nach wie vor ganz unnötig zu heiraten. Meine Mutter war klug genug, sofort zu schweigen.
Am Sonntag war wieder ein Familienspaziergang. Diesmal aber waren wir schon im Gespräch, als es losging. Hans zeichnete mir im Sand mit seinem Stock lange den Verlauf des Anfahrtsweges in Pätzig auf, bis alle Hausgenossen uns überholt hatten. Ich war während vier Kriegsjahren in unserem abgelegenen Dorf fast ohne männliche Kontakte groß geworden. Heute scheint es mir rätselhaft, mit welchem Taktgefühl er diese Unterhaltung führte, offenbar bereits hellsichtig dafür, was ich ertragen konnte und was noch nicht. Aber er erzählte von seinem Vater, und ich spürte, dass er mir damit etwas für ihn sehr Wichtiges anvertraute. Am nächsten Morgen begegneten wir uns in der Diele. »Wie haben Sie geschlafen?« – »Danke, gut!« – »Ach, und ich habe schlecht geschlafen oder vielmehr gar nicht.« – »Und ich habe Sie belogen, denn mir ging es ebenso.«
Diesmal fuhr Hans am Montagmorgen zur Garnison nach Schneidemühl, wohin er inzwischen versetzt worden war. Sein Bursche telefonierte sehr bald mit mir, der Herr Oberleutnant habe Grippe, käme aber dennoch am Sonnabend. Bursche Haase diktierte mir seine Adresse. Wir befanden uns gerade im Bereich einer oft tödlichen Grippe, die sich täglich weiter ausbreitete. Ich sorgte mich entsetzlich, rechnete bereits mit seinem baldigen Ende, und meine Empfindungen wechselten zwischen Seligkeit und Verzweiflung. In Wirklichkeit hatte ihn nur die ihm selbst sattsam bekannte so genannte »Tour« überfallen, eine heftige Migräne, die ihn bei geistiger und körperlicher Überanstrengung öfter plagte. In diesem Falle kam sie ihm äußerst gelegen. Sie reichte dazu, dass er krankgeschrieben und vom Dienst befreit wurde. Jetzt entwickelte er seine Aktivität. Hans war viel unterwegs, musste beim Juwelier Proberinge einholen und sie wieder hinbringen und brauchte vor allen Dingen viel und geeignetes Briefpapier.
Er disponierte seine Zeit. Nach seiner geplanten Verlobung am 18. 10. würden wir bis zum 21. in Kieckow verbleiben, dann bis zum 23. in Schönrade sein und am 24. in Pätzig im Beisein beider Mütter eintreffen. Die Brillantnadel, die ich noch heute trage, brachte er bereits mit. In einen aus Rosenholz geschnitzten Buchdeckel, den er in Jerusalem »für seine Frau« gefunden hatte, ließ er ein Gesangbuch einbinden und vorn mit Goldbuchstaben eindrucken: »Pätzig, 24. 10. 18«. Außerdem schrieb er an seine Mutter und seine beiden noch nicht orientierten Schwestern Briefe voller übermütiger Glückseligkeit über seine erfolgte Verlobung.
»… wie Ruth Kleist ist, wie alt sie ist, wie sie aussieht? – Das kann ich euch alles nicht sagen, ich weiß nur, dass ich sie heiraten werde …«, sagt Hans von Wedemeyer zu seinen Eltern. Er verlobt sich mit Ruth von Kleist-Retzow am 18. Oktober 1918 in Kieckow.
Dieses alles unternahm Hans, bevor ein entscheidendes Gespräch sich ereignet hatte und obgleich die wirklich einzigen Liebesäußerungen zwischen uns die beiderseitigen Eingeständnisse einer schlechten Nacht gewesen waren. Nun kam noch der mit der Maschine geschriebene Brief an den langjährigen Beamten von Pätzig dazu (»Vater Claus« hieß er bei uns). Dieser Brief enthielt lange Anweisungen, wie das sehr verwohnte und altmodische Haus für den Empfang der vier Personen hergerichtet werden sollte. Der alte Kutscher Gossow und ein Stalljunge mit zwei Kutschwagen sollten in Rostin sein. An der Grenze im Karlshöher Wald sollte Förster Gimm mit Hornsignal stehen, am Eingang der Lindenallee Vater Staek, der langjährige Hofmeier, mit Blumenstrauß und Rede. Vor dem Haus sollten uns die Schulkinder mit Herrn Lehrer Starke und mit Gesang erwarten. Im Saal sollte eine Reihe kleiner Fichten stehen, um die Wandnässe etwas zu verdecken. Rund um das Haus sollten die Hundeknochen gesammelt und entfernt werden; und natürlich sollte danach sorgsam gehackt und geharkt werden. Außerdem wünschte er reichlich Girlanden. Die Logierzimmer wurden bis ins Einzelne schriftlich eingerichtet. Wie mögen die alten braven Claus, noch mitten im Krieg und Kriegsgeschrei, sich darüber erschrocken, aber sicherlich gleichzeitig amüsiert haben! Sie liebten Hans heiß und hatten sich nun die denkbar größte Mühe gegeben. Immerhin, all diese Briefe wurden noch nicht abgesandt. Er brachte sie zur Verlobung und der entscheidenden Frage an mich nach Kieckow mit, denn er wollte in diesen wichtigen Fragen keine Zeit mit Schreiben verlieren.