Kitabı oku: «Der Igel im Meer»
Sabine Geissel, 1965 in Kaiserslautern geboren, studierte Sozialarbeit in Freiburg, schrieb in Australien ihre Diplomarbeit und arbeitete danach in verschiedenen sozialen Einrichtungen. 1997 zog sie nach Karlsruhe, wo sie seit 1999 in einem Telekommunikationsunternehmen beschäftigt ist. Nach zahlreichen bislang unveröffentlichten Kurzgeschichten ist „Der Igel im Meer“ ihr erster Kriminalroman.
Sabine Geissel
Der Igel im Meer
Ein Karlsruhe-Krimi
Mit einem Nachwort von Hansgeorg Schmidt-Bergmann
Kleine Karlsruher Bibliothek
Wir danken der Stadt Karlsruhe
für die Unterstützung des Bandes.
Kleine Karlsruher Bibliothek
Band 7
Herausgegeben von Hansgeorg Schmidt-Bergmann & Thomas Lindemann
Titelbild: ONUK
Alle Rechte vorbehalten © 2016
Literarische Gesellschaft, Karlsruhe
PrinzMaxPalais · Karlstraße 10 · 76133 Karlsruhe
www.literaturmuseum.de
und Info Verlag GmbH
www.infoverlag.de
ISBN 978-3-88190-894-8
Herr, es ist Zeit,
Der Sommer war sehr groß.
Leg’ deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
Und auf den Fluren lass’ die Winde los.
Befiehl’ den letzten Früchten voll zu sein,
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage.
Dränge sie zur Vollendung hin, und jage
Die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
Und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern,
Wenn die Blätter treiben.
Rainer Maria Rilke
Karlsruhe/Freiburg
Parkmorde noch immer ungeklärt
Auch eine Woche nach dem jüngsten Leichenfund im Freiburger Stadtgarten hat die Polizei offensichtlich noch keine nennenswerten Fortschritte gemacht. Man geht mittlerweile davon aus, dass es sich in allen drei Fällen um denselben Täter handelt, der unter dem Namen „der Vampir“ in den letzten Wochen über die Grenzen Baden-Württembergs hinaus traurige Berühmtheit erlangt hat.
Nachdem innerhalb von zwei Monaten nun schon die dritte junge Frau brutal ermordet wurde, appelliert Hauptkommissarin Beate Müller, Leiterin der überregionalen Sonderkommission, erneut an die Bevölkerung. Jeder kleinste Hinweis könnte wichtig sein. Bei der zu diesem Zweck eingerichteten Hotline seien zwar schon zahlreiche Anrufe eingegangen, bis jetzt sei allerdings jede Spur im Sand verlaufen.
Für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen, hat das Land Baden-Württemberg eine Belohnung von 10.000 Euro ausgesetzt.
Badische Neueste Nachrichten
vom 22. Juli 2010
1. Kapitel
Durch den dünnen Stoff seiner Shorts spürte er das Vibrieren des Handys auf seinem Oberschenkel. Es war ein simples Modell, so ein Billigteil, das sie einem im Mediamarkt für ein paar Euro hinterherwarfen. Es hatte noch nicht einmal eine Kamera. Wahrscheinlich würde es in seine Einzelteile zerfallen, sobald sein Zweck erfüllt war. Er hasste es fast so sehr, wie er den hasste, der es ihm in die Hand gedrückt hatte, damit er Tag und Nacht für ihn erreichbar war, bis ihr ‚Geschäft’ abgewickelt sein würde. Seitdem hatte er nicht gewagt, es abzuschalten und lud jede Nacht den Akku auf. Es widerte ihn an, die winzigen Bewegungen des brummenden Handys auf der Haut zu spüren, als wäre es etwas Lebendiges, ein ekliger großer Käfer, der in seine Intimsphäre vordrang, ihm mit aufdringlichem Brummen auf die Pelle rückte. Trotzdem war das noch besser als einer der drei verfügbaren Klingeltöne – einer grässlicher als der andere.
Er zerrte es aus der Tasche und drückte auf die Annahmetaste. „Was denn noch?“ Er lauschte dem Klang seiner Stimme nach. Sie klang nicht aggressiv oder genervt, wie er beabsichtigt hatte, sondern einfach nur ängstlich.
„Verlieren Sie jetzt bloß nicht die Nerven.“
„Und um mir das zu sagen, rufen Sie mich an?“ Wut stieg in ihm hoch, verdrängte die Angst und machte seine Stimme kräftiger.
„Was ist los mit Ihnen? Beim letzten Mal waren Sie nicht so zimperlich.“
„Reden Sie nicht mit mir, als ob ich ein Serienkiller wäre. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe, ich muss noch ein paar Sachen erledigen.“
„Ich will ihren Terminkalender.“
„Was? Wozu denn?“
„Sagen wir mal, als Souvenir.“
„Und wenn sie keinen Terminkalender bei sich hat? Darf es dann vielleicht ihr Herz sein? Ich könnte es in Alufolie einpacken.“ Er wollte lachen, doch aus seiner Kehle kam nur ein trockenes Husten, und er griff nach dem Wasserglas, das auf dem Tisch stand, und trank es leer.
„Freut mich, dass Sie Ihren Humor nicht verloren haben. Und noch eins: Ich möchte, dass die Sache bis Ende der Woche erledigt ist. Wenn Sie nervös sind, nehmen Sie eine Beruhigungspille, trinken Sie einen Schnaps oder tun Sie Ihrem Schwanz was Gutes – das entspannt.“ Er lachte.
„War’s das jetzt?“
„Versauen Sie’s nicht.“ Die Verbindung wurde getrennt.
Arschloch! Er widerstand der Versuchung, das Handy auf den Boden zu schmeißen und es zu Staub zu zertrampeln und warf stattdessen das Glas an die hölzerne Küchentür. An der Stelle, an der es auftraf, platzte ein daumennagelgroßes Stück weiße Farbe ab und gab den Blick auf den ursprünglichen spinatfarbenen Anstrich frei – egal, er würde nicht mehr lange hier wohnen. Die Glasscherben spritzten in alle Richtungen. Aus dem Nachbarhaus hörte er das gedämpfte Weinen des Babys, das wohl durch den Krach aufgewacht war, gefolgt von einem zornigen dreifachen Klopfen. Es hörte sich an, als schlüge jemand mit einem Gummihammer an die Wand. Die darauf folgende Schimpftirade der genervten Mutter brachte ihn zum Grinsen, und er fühlte sich etwas besser. Geschah ihr recht. Schon oft genug hatte ihn das Geplärre ihres Balgs nachts aus dem Schlaf gerissen.
Barfuß durchquerte er die Küche, um Schaufel und Besen aus der Abstellkammer zu holen. Doch schon beim zweiten Schritt bohrte sich ein Glassplitter, der unbemerkt senkrecht im Fußboden steckengeblieben war, in seinen großen Zeh. Die drei Schritte, die er brauchte, um an die Küchenrolle zu kommen, hinterließen eine blutige Spur auf dem schmutzigen PVC.
Er riss ein Tuch ab, wickelte seinen Zeh darin ein und humpelte ins Bad. Dort drehte er den Hahn der Badewanne auf und hielt seinen blutenden Fuß unter den kalten Wasserstrahl, ignorierte den kurzen brennenden Schmerz und beobachtete nachdenklich, wie sich das hellrote Rinnsal in die Wanne ergoss. Er hatte keine Probleme mit dem Anblick von Blut. Als Jugendlicher hatte er eine Zeitlang in einem Schlachthof gearbeitet, hatte frisch geschlachteten Schweinen die Bäuche aufgeschlitzt und die Eingeweide entnommen. Die Bezahlung war gut, die Arbeit hart, und er hatte jeden Abend Unmengen von Wasser und Duschgel verbraucht, um den Geruch loszuwerden. Seitdem aß er kein Schweinefleisch mehr.
Allmählich ließ die Blutung nach, und er drehte den Hahn wieder zu. Er überlegte, ob es wohl stimmte, dass sich auf der Südhalbkugel das Wasser beim Ablaufen in die entgegengesetzte Richtung drehen würde und lächelte. Er würde es bald herausfinden.
2. Kapitel
„Nehmt ihr mich noch mit?“ Sofia Stern lief auf den Aufzug zu, und einer der beiden Jugendlichen hielt geistesgegenwärtig seine Hand vor die Lichtschranke.
„Danke.“ Sie schenkte dem jungen Mann ein strahlendes Lächeln.
„P10?“, fragte dieser hoffnungsvoll.
„Genau.“ Sie lächelte immer noch.
„Cooler Schuppen“, mischte sich der Rothaarige ein und rückte seine Sonnenbrille zurecht.
Die Türen schlossen sich, und mit einem kleinen Ruck begann der Aufzug seine Fahrt nach oben. Sofia kramte in ihrer Handtasche, holte einen kleinen Klappspiegel heraus und überprüfte ihr Make-up.
Die Jungen tauschten einen Blick. Der Rothaarige steckte sich ein Fisherman’s Friend in den Mund und hielt ihr das Tütchen hin. „Lust auf was Scharfes?“ Sein schrilles Lachen endete in einem Grunzen, das er sicher nicht beabsichtigt hatte.
„Nein, danke.“ Sie verstaute den Spiegel wieder in ihrer Tasche. „Davon bekomme ich nur noch mehr Durst.“
„Möchtest du vielleicht etwas mit uns trinken?“, fragte der Blonde.
„Das ist nett von euch, aber ich bin verabredet.“ Sie verließ den Fahrstuhl und betrat das Parkdeck. Die für Karlsruhe so typische drückende Schwüle, die seit Tagen wie eine Dunstglocke über der Fächerstadt lag, war hier oben kaum noch zu spüren. Der Himmel hatte sich schon am Morgen zugezogen, für den späten Nachmittag waren Gewitter vorausgesagt.
Aus den Lautsprechern über der Bar erschallte der Fußball-WM-Song von Shakira. Junge Bedienungen servierten barfuss Getränke und kleine Gerichte.
Sofia setzte sich in einen Strandkorb, streifte die Riemchensandalen ab und grub ihre Zehen in den warmen Sand. Sie liebte diese Strandbar über den Dächern von Karlsruhe, auch wenn sie mit ihren achtundzwanzig Jahren schon etwas über dem Altersdurchschnitt lag.
Ein Mädchen in Hot Pants nahm Sofias Bestellung auf, kam wenige Minuten später zurück und stellte zwei Tequila Sunrise auf den niedrigen Tisch vor den Strandkorb.
Im Eingangsbereich erschien ein neuer Gast, sondierte die Lage und ging dann zielstrebig auf den Strandkorb zu. Er hatte sein Jackett über die Schulter gehängt und die Ärmel seines Hemdes bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt.
Sie rückte ein Stück zur Seite, um ihm Platz zu machen.
„Tut mir leid, Sofia – mein Kunde hat sich verspätet.“ Er gab ihr einen flüchtigen Kuss und sah sich nervös um.
Sofia lachte. „Hast du Angst, deine Frau zu treffen? Hier?“
„Nein, natürlich nicht.“ Er legte seine Hand auf ihr Knie und strich mit dem Zeigefinger über ihr nacktes Bein, bis er den Saum ihres kurzen Rocks berührte. „Britta ist übers Wochenende in Frankfurt, und ...“, er zögerte.
Sie nahm die Hand, die immer noch auf ihrem Oberschenkel lag und verschränkte ihre Finger mit seinen. „Und?“
„Du könntest zu mir kommen.“
„Nein!“ Sie ließ ihn los.
„Warum nicht?“
„Weil ich keine Lust habe, in eurem Ehebett zu schlafen.“
„Wir haben getrennte Schlafzimmer. Schon immer.“
„Trotzdem.“
„Dann lass’ uns zu dir gehen.“
„Du weißt genau, dass ich das nicht möchte. Außerdem kommt meine Schwester am Wochenende.“ Auf ihrer Stirn erschien eine kleine Falte, wie immer, wenn sie sich über etwas ärgerte.
„Ich wusste gar nicht, dass du eine Schwester hast.“
„Jetzt weißt du’s“, sagte sie schroff.
Sie schwiegen und nippten an ihren Cocktails. Er hätte lieber ein Bier gehabt. Geistesabwesend zog er den Zahnstocher mit der aufgespießten Kirsche aus der Orangenscheibe und steckte die Kirsche in den Mund. Er bereute es sofort.
Sofias Ton wurde sanfter. „Warum treffen wir uns nicht noch einmal in Knielingen? Vielleicht kaufe ich das Haus ja wirklich. Und keiner würde uns stören. Wir könnten am nächsten Morgen ausschlafen und dann irgendwo frühstücken gehen.“
Er griff nach seiner Serviette und überlegte kurz, ob er die Kirsche, deren widerlich süßer Geschmack sich in seiner Mundhöhle ausbreitete wie ein Grippevirus im Kindergarten, unauffällig entsorgen konnte, doch schließlich siegte seine gute Erziehung, und er schluckte sie hinunter. „Ich habe am Sonntag einen Termin in Lörrach und müsste spätestens um neun los.“
Sofia seufzte. „Das ist mitten in der Nacht.“
Er trank einen großen Schluck. „Aber deine Idee ist gar nicht so schlecht. Ich werde mich morgens rausschleichen, und du kannst so lange liegen bleiben, wie du möchtest.“
„Ich weiß nicht so recht.“
„Wir hätten die ganze Nacht. Endlich mal wieder. Und am Samstagabend könnten wir in den Blue Saloon gehen.“
„Also gut, aber erwarte nicht, dass ich noch da bin, wenn du zurückkommst.“
„Ich könnte mich beeilen.“
„Das musst du nicht – Kylie hat am Sonntag Geburtstag und macht eine Grillparty am Grötzinger Baggersee. Um eins geht’s los.“ Sie zupfte an seiner Krawatte. „Du kannst nachkommen, wenn du willst.“
Er verzog das Gesicht. „Lieber nicht. Was ist eigentlich mit deiner Schwester?“
„Sie kommt Freitagabend, das heißt, wir werden wahrscheinlich die Nacht durchtratschen und am Samstagmorgen gehen wir frühstücken.“
„Und dann lässt du sie allein?“ Er sah sie verwundert an. „Immerhin kommt sie extra aus Freiburg, um dich zu sehen.“
Sofia runzelte die Stirn. „Hör’ schon auf, Leo. Sie braucht keinen Babysitter. Außerdem hat sie sich für einen Wochenendkurs bei der Volkshochschule angemeldet, irgendwas mit Fotografie – Karlsruher Motive, oder so ähnlich. Du musst dir also keine Sorgen um sie machen.“
„Wie ist sie denn so, deine Schwester?“
„Sie ist ganz anders als ich.“ Sofia lächelte. „Ich war noch nie im Blue Saloon.“
„Es wird dir gefallen. Samstagabend spielt meine Lieblingsband.“ Er überlegte. „Oder war es Freitag?“ Er sah sich um. „Haben die nicht auch Zeitungen hier?“
Sofia schlüpfte in ihre Sandalen und stand auf. „Ich frag’ am Tresen – ich muss sowieso mal aufs Klo.“ Sie ging um den Strandkorb herum, und ihr Blick fiel auf einen Mann, der wohl die ganze Zeit hinter ihnen gesessen hatte. Jedenfalls hatte sie ihn nicht kommen sehen. Irgendetwas an seinem Aussehen irritierte sie. Vielleicht war es die Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern, die nicht so recht zu seiner spießigen Frisur und dem Vollbart passen wollte. „Entschuldigung, kann ich mir kurz Ihre Zeitung ausleihen?“
Er hob den Kopf, doch durch die dunkle Brille konnte sie seine Augen nicht erkennen. Sie war noch nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt ansah. „Ja, natürlich.“ Seine Stimme klang heiser und ein bisschen atemlos. Er faltete die Blätter zusammen, um sie ihr zu geben.
Als Sofia die Hand danach ausstreckte, fiel ihre Handtasche auf den Boden, kippte zur Seite, und verstreute einen Teil ihres Inhalts in den Sand.
„Ich mach’ das schon.“ Er bückte sich, hob die Tasche auf, räumte die Sachen wieder ein und reichte sie Sofia. „Die Zeitung können Sie behalten. Ich wollte sowieso gerade gehen.“
„Super, vielen Dank.“
Sie gab Leo die ‚BNN’ und steuerte auf die Toiletten zu, ging über die Holzbohlen, die am Tresen entlang führten, als wäre es ein Laufsteg.
Der Mann im Korbsessel sah ihr nach, bis sie um die Ecke bog. Es gab keinen Grund für ihn, länger zu bleiben. Er trank seinen Kaffee aus und stand auf. Jetzt würde er sich erst einmal eine neue Zeitung besorgen und dann einen ausgedehnten Spaziergang durch den Schlosspark machen.
3. Kapitel
Martin Marbach stellte die leeren Bierflaschen auf den Tresen, steckte das Pfandgeld ein und schob sich an der Schlange vorbei, die sich hinter ihm gebildet hatte. „Sollen wir gehen?“ Die Musik war so laut, dass er sich selbst kaum hören konnte, obwohl er das Gefühl hatte, sich die Seele aus dem Leib zu schreien. Er berührte seine Begleiterin am Arm, zeigte erst auf sie, dann auf sich und ließ seine Finger von seinem Körper weg durch die Luft laufen. Er sah, wie sie lachte und ihre Lippen das Wort ‚okay’ formten. Er bahnte sich einen Weg durch die unzähligen Fans der ‚Editors’, die vor der Hauptbühne standen, sich stampfend und klatschend im Rhythmus der Musik bewegten und es nicht vermeiden konnten, dabei ihre Nachbarn anzurempeln, weil einfach kein Platz war. Aber das nahm man hin, wenn man Samstagabend auf ‚das Fest’ ging. Nach einer Weile drehte er sich nach ihr um und streckte ihr die Hand hin. „Damit wir uns nicht verlieren!“, brüllte er. Akustisch konnte sie seine Worte unmöglich verstanden haben, doch sie nickte, nahm seine Hand und versuchte, Schritt zu halten.
Kurz bevor sie das abgesperrte Gelände verließen, drehte er sich noch einmal um und ließ seinen Blick über den dichtbevölkerten Hügel schweifen, eine wogende Masse von aneinander gedrängten schwitzenden Körpern, Tausende von Menschen. Ein paar standen, ein paar hatten sich auf das feuchte Gras gesetzt, bemüht, eine einigermaßen bequeme Position auf dem steilen Hang zu finden, ohne ihren Vordermann zu treten oder auf ihn zu rutschen. Der süßliche Geruch von Marihuana lag in der Luft und vermischte sich mit den Aromen von Pizza, Cevapcici und anderen multikulturellen Gerichten.
Ein Kaugummi kauender Typ mit glattrasiertem Schädel und einer schwarzen Weste, auf der ‚Security’ stand, tippte Marbach auf die Schulter. „Wie sieht’ s aus, wollt ihr rein oder raus?“
„Schon gut, wir gehen.“
Sie atmeten beide auf, als sich das Gedränge allmählich lichtete. Mittlerweile waren sie weit genug von den riesigen Lautsprechern an der Hauptbühne entfernt, so dass sie sich miteinander verständigen konnten, ohne sich anschreien zu müssen.
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. „Du kannst mich jetzt loslassen.“
Er blieb stehen. „Muss ich?“
„Willst du mich anbaggern?“ Sie lachte.
Er strich mit dem Daumen zart über ihre Finger. „Hättest du was dagegen?“
Sie entzog ihm ihre Hand. „Warum können wir nicht einfach Freunde sein?“
„Also gut.“ Er trat einen Schritt zurück und lächelte spöttisch. „Was machen wir zwei Freunde jetzt mit dem angebrochenen Abend?“
Sie ging nicht auf seinen leichten Ton ein. „Ich bin müde, ich möchte nach Hause.“ Sie ließ ihn stehen und lief an einer Reihe von Dixi-Klos vorbei hinunter an die Alb, wo sie ihre Fahrräder abgestellt hatten. „Das darf ja wohl nicht wahr sein!“
Marbach, der ihr gefolgt war, ging vor ihrem Rad in die Hocke. „Was ist los, hast du einen Platten?“
„Das wäre mir lieber. Irgendein Idiot hat sein Rad mit meinem zusammengeschlossen.“ Sie trat gegen das fremde Bügelschloss und stieß sich den Zeh an. Ihre Stimmung näherte sich dem Nullpunkt.
Marbach stand auf. „Das ist doch nicht so schlimm. Ich bringe dich nach Hause, und morgen holen wir dein Rad.“
Sie wühlte in ihrer Handtasche, suchte ihren Geldbeutel. „Jetzt tu’ nicht so, als ob ich drei Jahre alt wäre. Du musst mich nicht nach Hause bringen. Ich nehme die Straba.“
Marbach warf ihr einen wütenden Blick zu. „Herrgott noch mal, was ist denn plötzlich mit dir los? Wenn dir meine Gesellschaft so unangenehm ist, wieso hast du dich dann mit mir verabredet?“
„Red’ nicht so einen Quatsch! Du weißt genau, dass ich dich mag. Es ist nur, weil ...“
„Weil?“ Er steckte die Hände in die Hosentaschen und sah sie herausfordernd an.
„Ich kann so was nicht. Du und ich ... das ist doch völlig schräg.“
Die Wut wich aus seinem Gesicht, und sein Blick wurde weich. „Mach’ es nicht so kompliziert, es ist viel einfacher als du denkst.“
„Klar, für euch Männer ist es immer einfach.“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe, dann sah sie ihm direkt in die Augen. „Ich will keinen One-Night-Stand.“
„Ich auch nicht.“ Er hielt ihrem prüfenden Blick stand und unterdrückte einen erleichterten Seufzer, als sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen. Er legte eine Hand auf den Lenker seines Fahrrades. „Was hältst du von einem Spaziergang?“
Sie liefen quer durch die Stadt und unterhielten sich über unverfängliche Themen. Er machte keinen Versuch mehr, sie anzufassen, doch als ihnen in einer schmalen Seitenstraße ein paar grölende Jugendliche entgegenkamen, die sich rücksichtslos an ihnen vorbeidrängten, wurde sie an ihn gedrückt und verlor beinahe das Gleichgewicht. Sie blieb stehen und hielt sich an seinem Arm fest. „Warte kurz. Meine Schuhe bringen mich um.“ Sie streifte die Sandalen ab und hob sie auf. Von den Riemen hatte sie rote Druckstellen, und auf der Oberseite ihres rechten Fußes hatte sich bereits eine Blase gebildet.
„Wenn du willst, können wir fahren.“ Er wies einladend auf den Gepäckträger.
„Bloß nicht.“ Sie lachte. „Sonst kriege ich auch noch Blasen am Hintern.“ Sie ließ ihre Hand an seinem Arm nach unten gleiten, und wie von selbst verschränkten sich ihre Finger mit seinen.
„Da wären wir.“ Ohne ihre Hand loszulassen, lehnte er sein Fahrrad gegen die Hauswand.
„Danke fürs Nachhause-Bringen.“
„Meldest du dich noch mal, bevor du nach Freiburg fährst?“
„Mal sehen.“ Sie bemühte sich um einen lässigen Tonfall. „War schön, dich zu sehen.“ Der Gedanke an die leere Wohnung, die sie oben erwartete, deprimierte sie. Als er sie küssen wollte, drehte sie den Kopf weg und drückte flüchtig ihre Wange an seine. „Mach’s gut, Martin.“
Er sah ihr zu, wie sie den Schlüssel aus der Handtasche fischte. „Du hast nicht zufällig noch ein Bier im Kühlschrank?“
Soweit sie sich erinnerte, bestand der Inhalt des Kühlschranks aus einer halbvollen Flasche Ouzo, einem welken Salatkopf, zwei Bechern Himbeeryoghurt und einer angebrochenen Packung Käseaufschnitt. Ihre Vernunft streckte die Waffen. „Kann schon sein, ich kann es dir aber nicht versprechen.“
„Du musst mir überhaupt nichts versprechen.“ Er beugte sich über sein Fahrrad, um es abzuschließen.
„Wenn du dein Rad hier unten stehen lässt, ist es morgen früh weg.“ Erst als die Worte heraus waren, merkte sie, was sie bedeuteten.
Er verzog keine Miene. „Da hast du wahrscheinlich recht. Ich stelle es besser in den Keller. Hältst du mir die Tür auf?“
Im Treppenhaus kam ihnen ein junger Mann entgegen. Er hatte eine Sonnenbrille in die Haare geschoben und ein kleines Pflaster am Kinn. Die schwarzen Jeans betonten seinen knackigen Hintern und saßen dermaßen eng, dass man sich fragen musste, welche Hilfsmittel er benutzt hatte, um sie anzuziehen, und wie um alles in der Welt er jemals wieder aus ihnen herauskommen wollte. Ein ärmelloses Netzhemd spannte sich über seinen Waschbrettbauch und betonte seine muskulösen Arme, die mit mehreren Tätowierungen verziert waren. Um den Hals trug er ein schmales Lederband mit einem kleinen silbernen Anhänger, in den ein Name eingraviert war. Der Duftwolke nach zu urteilen, die ihn umhüllte, hätte er mit der Menge an Aftershave, das er aufgelegt hatte, locker das komplette Ensemble der Chippendales versorgen können. „Hallo Sofia.“ Er blieb stehen, nahm die glimmende Zigarette aus seinem Mundwinkel und schnippte die Asche auf den Steinfußboden. “Sag’ bloß, ihr seid wieder zusammen?” Er hatte eine merkwürdig hohe Stimme, die nicht zu seinem Äußeren passte. Bevor sie etwas erwidern konnte, wandte er sich an Marbach. „Dich habe ich hier ja schon ewig nicht mehr gesehen.“ Er warf einen Blick auf Marbachs vom vielen Waschen verblichenes gelbes T-Shirt, das vorne mit dem Fest-Logo bedruckt war. Auf der Rückseite stand in fetten schwarzen Buchstaben ‚CREW’. Es stammte noch aus seiner Zivildienstzeit beim Stadtjugendausschuss, als er auf dem Fest Getränke verkauft hatte. „Krasses Shirt, Alder.“
Marbach grinste. „Wie geht’s dir, Cengiz?“
„Alles cool, Mann.“ Er schob sich an ihnen vorbei, klopfte Marbach auf die Schulter und schaffte es, dabei seinen Bizeps anschwellen zu lassen. „Ich bin spät dran. Macht’s gut.“
An der Haustür drehte er sich zu ihnen um. „He, Sofia, schau’ doch mal bei Öznur vorbei, wenn du Zeit hast.“
Sie wartete, bis die Haustür zugefallen war. „Wer ist Öznur?“
Marbach sah sie erstaunt an. „Seine Schwester. Du hast sie bestimmt schon mal gesehen. Ab und zu hilft sie unten im Dönerladen aus.“
Sie schloss die Wohnungstür auf und ließ ihn eintreten.
„Komisch, wieder hier zu sein“, sagte er. Im Vorbeigehen strich er mit dem Finger über die Kommode im Flur und hätte dabei beinahe eine gerahmte Fotografie umgestoßen. Er warf einen flüchtigen Blick darauf, rückte sie gerade und folgte seiner Gastgeberin in die Küche.
Pro forma öffnete sie den Kühlschrank. „Kein Bier, wie’s aussieht.“ Sie griff nach der Ouzoflasche. „Wie wär’s damit?“
Er zuckte die Achseln und holte aus einem der Hängeschränke zwei Schnapsgläser, die sie bis zum Rand füllte.
„Salute.“ Eigentlich mochte sie den Geschmack nicht, aber der Alkohol half ihr, ihre Bedenken beiseite zu schieben. Marbach schenkte ihr gleich noch einmal nach. Sie kippte auch das zweite Glas hinunter und schüttelte sich.
Er stellte die Flasche zurück in den Kühlschrank. „Morgen soll es den ganzen Tag regnen.“ Gedankenverloren fuhr er mit dem Finger über den Rand seines halbvollen Glases. „Dabei hat es beim Klassik-Frühstück noch nie geregnet, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, Freitagabend ja, aber nie am Sonntagmorgen.“
„Einmal ist immer das erste Mal.“ Sie nahm ihm das Glas aus der Hand und trank es aus. „Ich habe keine Lust, über das Wetter zu reden.“
Von der Straße hoch drang gedämpftes Stimmengewirr durch das offene Fenster. Mehrsprachige Satzfetzen, vermischt mit schrillem Gelächter stiegen wie Rauchwolken nach oben, um schließlich im dunklen Himmel zu verpuffen.
Marbach drehte sich auf die Seite, stützte sich auf den Ellenbogen und ließ seinen Blick über die schlanke Silhouette der Frau schweifen, die neben ihm lag. Sie sah an ihm vorbei, auf ihrer Stirn hatte sich die gleiche steile Falte gebildet, die er schon hundertmal bei Sofia gesehen hatte.
Es war lange her, dass er zum letzten Mal in Sofias Bett gelegen hatte. Damals war er unglücklich gewesen, weil er gewusst hatte, dass es bald enden würde. Er kniff die Augen zusammen, als ob es ihm dadurch gelingen würde, die unwillkommene Erinnerung zu vertreiben. ‚Carpe diem’ dachte er, beugte sich vor und küsste sie auf das kleine Muttermal in ihrer Halsbeuge.
Die Flammen der Kerzen auf dem Nachttisch flackerten, als sie nach der leichten Sommerdecke griff, die zu einer unförmigen Wulst verdreht zu ihren Füßen lag und sie sich bis über die Brust hochzog.
„Ist dir kalt, Liebling?“ Er wunderte sich, wie selbstverständlich ihm dieses altmodische Kosewort über die Lippen kam.
Sie antwortete nicht, setzte sich auf und schlang die Arme um ihre Knie. „Hast du noch eine Zigarette?“
Er tastete mit der Hand nach seiner Jeans, die vor dem Bett auf dem Fußboden lag und kramte eine halbvolle Packung Gauloises aus der Hosentasche. „Ich dachte, im Schlafzimmer wird nicht geraucht.“
„Das ist jetzt auch egal“, sagte sie und ließ sich von ihm Feuer geben. Sie inhalierte mit geschlossenen Augen, drehte sich um und blies den Rauch aus dem Fenster. „Wir hätten es nicht tun sollen.“
Er nahm ihr die Kippe aus der Hand und zog selbst daran, „Es war schön, und wir wollten es beide.“ Er griff nach einer leeren Kaffeetasse, die auf der Fensterbank stand, schnippte die Asche hinein und gab ihr die Zigarette zurück.
Sie nahm einen weiteren tiefen Zug und sah dem dünnen Rauchfädchen nach, das durch das offene Fenster in den Nachthimmel stieg. Sie legte die Zigarette in die Tasse und strich mit den Fingern über den roten Satin des Bettbezugs. Ihre dunklen Haare fielen nach vorn und verdeckten ihr Gesicht. „Fühlt es sich für dich nicht seltsam an?“
„Kein bisschen.“ Er rückte näher an sie heran und drückte sein Gesicht in ihr Haar. „Es fühlt sich wunderbar an.“
„Aber ich bin nicht ...“
„Ich weiß ganz genau, wer du bist.“ Er fasste sie am Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich. „Und auch, wer du nicht bist.“
Sie sah ihm in die Augen, und plötzlich musste sie lachen. „Vielleicht sollten wir uns für ‚Verbotene Liebe’ casten lassen. Meinst du, wir hätten eine Chance?“ Sie gab ihm einen Kuss. „Tut mir leid, dass ich so kompliziert bin.“
„So seid ihr Frauen eben – das bin ich gewöhnt“, sagte er leichthin und hätte sich im nächsten Moment am liebsten die Zunge abgebissen.
Sie legte sich zurück und zog sich die Decke bis zum Hals. „Manche mehr, manche weniger“, sagte sie, „meine Schwester zum Beispiel ...“
„Jetzt hör’ schon auf!“ Er streckte sich neben ihr aus und schob eine Hand unter seinen Hinterkopf.
Sie sagte nichts und beobachtete die tanzenden Schatten, die die Kerzenflammen an die Zimmerdecke warfen.
Er stellte die Tasse auf seinen Bauch und rauchte die Kippe zu Ende. „Ich glaube, ich suche mir einen neuen Job.“
„Was? Wieso das denn? Ich denke, es läuft so gut bei euch.“
„Für Kess vielleicht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mir der alte Schleimscheißer auf den Sack geht.“
„Und was willst du machen?“
„Ich war doch heute in Stuttgart, um Fotos für diese Modezeitschrift zu machen.“
„WearIt!?“
„Ja, genau. Jedenfalls habe ich mich eine Weile mit der Chefredakteurin unterhalten. Wir hatten einen ganz guten Draht zueinander. Sie kennt sich aus in der Branche und hat mir angeboten, mich ein paar wichtigen Leuten vorzustellen.“
„In Stuttgart?“
„Stuttgart, München, Berlin ... wo auch immer. Es wird Zeit, dass ich aus diesem öden Kaff herauskomme.“ Er drückte den Zigarettenstummel aus und stellte die Tasse zurück auf die Fensterbank.
„Du willst einfach weg von ...“
„Nein, das ist es nicht“, unterbrach er sie. Er rieb seine Nase an ihrem Hals. „Ach, Sternchen. Manchmal kommt es mir vor, als würden wir uns schon ewig kennen. Dabei sind es gerade mal ...“
„ ... knapp zwei Jahre.“ Sie war froh, dass er ihr wehmütiges Lächeln nicht sehen konnte.
Er beugte sich über sie und blies die Kerzen auf dem Nachttisch aus. „Lass’ uns jetzt schlafen.“ Er lachte leise. „Du kannst dir schon mal überlegen, was du mir morgen zum Frühstück anbieten willst.“
„Himbeeryoghurt mit Salat“, murmelte sie. Plötzlich merkte sie, wie müde sie war. Sie drehte ihm den Rücken zu, und er zog sie an seine Brust. Die Selbstverständlichkeit seiner Geste trieb ihr die Tränen in die Augen. Sein Atem wurde tiefer, und sie fragte sich, ob er wohl schon eingeschlafen war. Und ob es wirklich sie war, an die er dachte, wenn er sie in den Armen hielt.
4. Kapitel
Alfred Weber, Fußgängerzonenprediger, Lebenskünstler und verkrachte Existenz in einem, machte sich auf den Weg zu seiner Parkbank. Er spürte die Müdigkeit in jeder Faser seines verbrauchten Körpers. In seiner Flasche war noch ein kleiner Rest Schnaps, den würde er sich genehmigen, sobald er sich hingelegt hatte – das half beim Einschlafen, fast noch besser als Beten.
Sie hatten ihn heute wieder ausgelacht, doch das störte ihn schon lange nicht mehr. Wenigstens nahmen sie ihn wahr, hörten ihm sogar manchmal zu, die armen verirrten Seelen, und er predigte und schrie das Wort Gottes hinaus, bis ihm die Stimme versagte, oder die Polizei kam und ihn davonjagte. Manchmal nahmen sie ihn auch mit. Sie gaben ihm Kaffee und belegte Brote. Wenn es kalt war oder regnete, ließen sie ihn in einer der Arrestzellen schlafen – sofern gerade eine frei war. Der blonde Kommissar hatte ihm neulich sogar ein noch fast volles Päckchen Zigaretten zugesteckt.