Kitabı oku: «Biografie eines adoptierten Lebens», sayfa 2
2. KAPITEL: DIE SUCHE NACH DEN BRIEFEN
Meine Eltern hatten ihr Haus einfach und praktisch eingerichtet. Alles gradlinig und anspruchslos. Am Küchenfenster stand ein Kanapee und gegenüber vom Herd ein Schrank, ein Büfett mit Glasfensterchen. In der Mitte des Raumes befand sich ein rechteckiger Tisch. In ihm hingen zwei weiße Emaille Schüsseln, die Emmi zum Abwaschen herauszog. War sie fertig damit, schob sie sie zurück und schlug den Deckel zu.
Die andere Ecke füllte der Ofen aus. Gleich daneben hockte der Kohlenkasten. Den Herd nutzte Mutter selten. Sie kochte mit Großmutter zusammen im oberen Teil des Gebäudes. Da Oma Ilse und Opa Otto dort wohnten, verbrachten sie den Vormittag im Obergeschoss.
Kam ich später von der Schule, aß ich in unserer Küche. Hier erledigte ich meine Schularbeiten. War ich damit fertig, diktierte mir Mutter oft Briefe.
Emmi holte aus dem Küchenschrank ein Kästchen. Rote und schwarze Perlen umrahmten die ockerfarbene Schatulle, die jeweils acht Kreise darstellten. Sie stand auf vier Füßen. Den Deckel schmückte eine rot-schwarze Margerite, die wie eine Schlange lauernd und reglos den Kasten bewachte.
Nachdem Emmi die Kassette auf den Tisch gestellt hatte, öffnete sie in der Mitte des Küchenbuffets eine winzige Klappe und nahm Briefpapier heraus.
„Martina! Du schreibst heute einen Brief an Onkel Ernst! Setz dich bitte! Ich diktiere!“
Der Füller kratzte auf dem Briefbogen. Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch die Blumenschatulle war wesentlich interessanter. Ich schielte in die Richtung, da spürte ich Emmis Ellenbogen in meinen Rippen. Ich zuckte zusammen.
„Schmiere nicht!“, befahl sie.
Aus den Augenwinkeln entdeckte ich andere Schriftstücke im Kasten. Sie weckten meine Neugier. Was stand da drin? Doch es war nicht leicht, an sie heranzukommen. Mutter schloss alles gleich wieder weg. Ich fand keine Zeit zum Nachlesen. Das wollte ich später tun.
Doch später fand ich nur noch Konsummarken, Rechnungen, kleine Fahrzeugbücher und Versicherungskärtchen. Die Briefe waren verschwunden. Entweder Emmi hatte sie weggeschmissen oder versteckt. Aber wohin? Das war die spannende Frage, die mich eine Ewigkeit beschäftigte.
Jedes Mal, wenn ich zwei Minuten ohne Aufsicht herumsaß, fing ich an zu stöbern. Leider ließ man mich nie lange allein. Einer bewachte mich immer. Auch die Großeltern fühlten sich für mich verantwortlich.
Meine Suche begann im Küchenschrank. Doch hier gab es nichts. Ich grübelte. Wo hatte Mutter die Briefe vergraben? Mit dem Daumen im Mund konnte ich besser nachdenken. Hoffentlich hatte Emmi sie nicht verbrannt. Ich wollte sie unbedingt lesen. Wo lagen die? Ratlos suchte ich das Zimmer nach Verstecken ab. Meine Augen begutachteten die wenigen Möglichkeiten. Meine Ohren achteten ständig auf Geräusche aller Art. Großmutter war zu Hause. In letzter Zeit ging sie nicht mehr auf den Acker. Lieber hielt sie sich in der Küche auf. Das war ungünstig. Auch sie verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Auch sie ließ mir keine Ruhe. Ich musste mich beeilen und leise sein.
Nachdem ich sämtliche Fächer im Küchenschrank vergeblich untersucht hatte, schlich ich in die Stube. Tisch und Sofa waren uninteressant. Hier konnte man nichts unterbringen. Aber in der Schrankwand gab es genügend Platz.
Hintereinander zerrte ich Türen und Schubladen auf. Vorsichtig schob ich das gute Geschirr mit dem Goldrand beiseite, schreckte zusammen, wenn ein Teller klapperte oder Glas klirrte. Doch Briefe fand ich nicht.
Verdammt! Wo waren die?
Plötzlich kam mir eine Idee! Im Kleiderschrank im Schlafzimmer gab es viele Möglichkeiten. Das riesige Möbelstück hatte man anfertigen lassen, zweitürig für Erich und dreitürig für Emmi. In der Mitte gab es eine Frisiertoilette. Alles bestand aus massivem Eichenholz.
Im dritten Teil lagen fein säuberlich übereinander gelegt Tischwäsche, Bettwäsche, Bezüge und andere Sachen.
„Ordnung muss sein!“ Emmis Devise.
Unten entdeckte ich kleine flache Schubladen mit Strümpfen und Taschentüchern.
Jetzt wollte ich noch die Tür öffnen, zog an einem Griff, doch sie war verschlossen. So sehr ich auch rüttelte, sie gab keinen Zentimeter nach. Ich musste mir was einfallen lassen.
Meine Finger berührten ein Schlüsselloch. Aha! Wo waren die Schlüssel?
Meine Augen wanderten durch das Zimmer.
Dass mir das nie aufgefallen war? Alles ginge schneller, hätte ich besser aufgepasst. Ich vertrödelte wertvolle Zeit. Jeden Augenblick könnte die Tür aufgehen, Emmi oder Oma Ilse erscheinen.
Viele Verstecke gab es nicht. Ich schaute mir die Ecke zwischen Schrank und Fenster an. Wenn, dann würden das hier ideale Schlupflöcher sein. Und tatsächlich! Hinter der Gardine hing ein Brett mit Schlüsseln. Ich musste nur noch den passenden finden.
Erleichtert atmete ich auf. Aber im gleichen Moment zuckte ich zusammen. Oben schepperte es, Großmutter fluchte. Ich erstarrte. Mehrere Minuten lang war es still im Haus. Scheinbar vermisste sie mich nicht. Vielleicht meinte sie, ich sei mit den Eltern auf den Acker gegangen. Das wäre günstig. Vorsichtig nahm ich den Schlüssel vom Haken, öffnete die Tür.
Wo sollte ich anfangen?
Die untersten Schubfächer schienen mir am interessantesten. Ich bückte mich, hob die Kleidungsstücke hoch, die nicht hundertprozentig übereinander lagen. Emmis Ordnungswahn wies mir die Richtung. Im letzten Fach entdeckte ich eine Kassette. Glücklich zog ich sie hervor. Aber auch sie war verschlossen. Hektisch suchte ich den nächsten Schlüssel. Am Brett hing er nicht. Die Zeit drängte. Bald würde man nach mir suchen! Länger als eine halbe Stunde blieb ich nie allein.
Ich schwitzte. Noch einmal zog ich die kleinen Schubfächer in der Mitte des Schrankes auf. Eins nach dem anderen. Und staunte! Neben Strümpfen bemerkte ich Westschokolade und Westseife. Aha! Seife neben Schokolade! Tolle Mischung! Ich war beeindruckt. Immerhin duftete alles. Ja, das war ein ganz geheimes Fach. Spannend! Ich zog die Socken beiseite und fand den Schlüssel. Geräuschlos öffnete ich die Kassette.
Plötzlich zitterten meine Hände. Ich bekam einen Krampf. Die Angst, ich könnte entdeckt werden, ließ mich zögern. Ich fürchtete mich vor Emmis Schlägen. Das wollte ich nicht!
Schnell legte ich die Sachen zurück, schob hastig die Fächer zu und schlich in die Küche. Es war auch keine Sekunde zu früh. Ilse stand vor mir. Misstrauisch musterte sie mich. Sie spürte, dass ich was ausgefressen hatte. Doch es war zu spät! Ich war schneller! Glücklicherweise!
„Sind die Schularbeiten fertig?“ Ihre Stimme kratzte. „Dann kannste Brennnesseln für die Schweine holen! Los! Beeil dich! Steh hier nicht so nutzlos rum!“
Großmutter blaffte mich an. Sie war derb. Gefühle kannte sie nicht. Dafür hasste ich sie.
Schnell schnappte ich mir meine Schuhe und verschwand. Offensichtlich hatte sie meine Suchaktion nicht mitbekommen. Das hoffte ich jedenfalls.
Meine Familie erwischte mich nicht. Aber sie merkte wohl, dass da was nicht stimmte. Ich beeilte mich, denn ich musste damit rechnen, entdeckt zu werden. Ich achtete darauf, dass alles an seinen angestammten Platz zurückkam. Doch die Zeit drängte. Wahrscheinlich brachte ich einiges durcheinander, legte was an die verkehrte Stelle. Ich weiß nicht. Aber bei der Suche ertappte mich keiner. Man kann vieles machen, bin ich der Meinung, aber erwischen lassen darf man sich nicht.
Die nächste Gelegenheit nutzte ich schamlos aus.
Die Briefe fand ich in der Kassette, lose hintereinandergelegt, nicht verschnürt. Sie steckten in ungefähr fünf bis sechs Umschlägen. Mehr waren das nicht. Ich las einen Text über Emmis Scheidung. Da stand drin, wie viel sie ihrem Ex-Mann noch zahlen musste. Ihr geschiedener Mann hatte das Haus mitfinanziert. Ich weiß nicht genau, wann sie sich scheiden ließ. Sie hatte jedenfalls noch Schulden bei ihm. Doch damals gab es neues Geld. Reichsmark! Er wollte 5000 Reichsmarken haben. Aber das interessierte mich nicht.
Nur Papiere aus dem Heim waren spannend. Langsam faltete ich sie auseinander. Eines nach dem anderen. Jeweils zwei DIN-A4 -Seiten lagen in den Kuverts. Man hatte sie mehrfach zusammengeschlagen. Ich nahm sie raus, legte sie auf den Boden, merkte mir jedoch nicht immer die richtige Falttechnik. Die Briefe hatte die Heimleiterin verfasst und zwar handschriftlich. Das weiß ich noch. Ich brauchte Zeit, um sie zu entziffern, denn sie waren in Altdeutsch aufgesetzt.
Den Namen des Kinderheims habe ich vergessen. Ich wollte nur wissen, was die meinen Eltern geschrieben und was die geantwortet hatten. Es befand sich ein handgeschriebener Brief von Emmi in den Unterlagen. Sie hatte ihn nicht abgeschickt. In ihm stand, dass sie sich für dieses Kind entscheiden würde. Das andere wolle sie nicht.
Mit Mühe entzifferte ich alles, versuchte es zu verstehen. Im Alter von 11 Jahren fiel mir das nicht leicht. Da brauchte ich Geduld, um die Zusammenhänge zu begreifen. Es war so spannend, dass ich öfter vor Aufregung Bauchschmerzen bekam.
Wenn es oben klapperte oder unten die Tür knarrte, schob ich die Papiere zusammen, steckte sie hastig in die Umschläge.
Zack! Zack! Alle Briefe mussten ordentlich gefaltet, in die Kassette gelegt und in den Schrank gestellt werden. Keiner durfte es merken. Auch die Schlüssel durfte ich nicht vergessen. Das war schwierig. Ich musste mich beeilen, alles verschließen und zum Schluss aus dem Zimmer schleichen. Es war gefährlich.
Die Schriftstücke lagen eine ganze Zeit da. Vielleicht so lange, bis ich sechzehn, siebzehn war. Und dann waren sie weg. Ich fand sie nie wieder. So oft ich auch suchte, sie blieben verschwunden.
Ich denke, Emmi hat sie weggeräumt und entsorgt.
Nachdem sie gestorben war, stellte ich alles auf den Kopf. Aber es war nichts da. Nicht ein Ding. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie noch irgendwo im Haus stecken. Eine alte Truhe besitze ich nicht, wo ich sagen kann, da habe ich noch nicht hineingeschaut.
Vermutlich hatte Emmi sie verbrannt, als ich damals im Streit ausgezogen war ...
3. KAPITEL: MEINE ELTERN SUCHTE ICH MIR SELBST AUS
An das, was ich jetzt erzählen werde, kann ich mich nicht bewusst erinnern. Ich war damals zwei Jahre alt oder noch nicht geboren.
Dieses Puzzleteil meiner Vergangenheit setze ich aus Bausteinen verschiedener Erzählungen der Verwandtschaft zusammen. Am lebhaftesten blieben mir die Schilderungen meiner Cousine Lenchen im Gedächtnis. Sie ist einige Jahre älter als ich und hat die Zeit intensiv erlebt. Damals wohnte sie ein paar Häuser von meinen Eltern entfernt. Ihre Familie zog erst Ende der 50er gen Westen.
Wenn ich allein in meinem Sessel sitze, blättere ich gern in Fotoalben der Kindheit herum. Ein Bild im verwaschenen Grauton zeigt Erich mit einem Koffer. Er sieht jung aus. Neben ihm steht ein alter Opel P 4. Damals arbeitete er als Chauffeur in Eisenach. Das war ein guter Job. Es war die Zeit vor dem II. Weltkrieg, bevor er eingezogen worden war.
Die Russen nahmen meinen Vater in Sibirien gefangen. Sie entließen ihn erst 1948/49. Über Krieg und Gefangenschaft sprach er kaum. Er schimpfte nie. Er schwieg. Nur auf Familienfeiern, nach einigen Schnäpsen, löste sich der Knoten in seiner Zunge und er redete.
Damals musste er Gras essen. Einen Wasserbauch schleppte er mit sich herum. Gesicht und Körper waren aufgedunsen. Die Leute gaben ihm kein halbes Jahr mehr. Trotzdem erreichte er ein stattliches Alter von 86 Jahren. Bei uns wurde er durchgefüttert. Auf den Tisch kam nur gesundes Zeug. Nur das, was im Garten oder auf dem Feld wuchs, landete auf dem Teller.
Die Frauen erlernten früher keinen Beruf. Als Hausfrauen kochten sie, backten sie, gingen aufs Feld und erzogen ihren Nachwuchs nebenbei. Meine Großmutter, Ilse Koch, brachte sogar eines ihrer neun Kinder auf dem Acker zur Welt. Danach hackte sie bei strömendem Regen mit dem Baby auf dem Rücken weiter das Unkraut und den aufgeweichten Boden. Es waren raue Zeiten, die wir uns heute kaum noch vorstellen können.
In jungen Jahren sah Emmi hübsch aus. Ihre braunen Augen mit den geschwungenen Brauen verliehen dem Gesicht einen energischen Ausdruck. Sie wusste, was sie wollte. Das sah man ihr an. Aber das Alter wischte den Glanz der Jugend beiseite. Der verträumte Blick schwenkte um in Traurigkeit und Verbitterung.
Ich fragte mich oft, warum?
Sicher gefiel ihr vieles nicht. Ihr Leben war eine einzige Baustelle. Doch sie sprach nicht darüber.
Vor meinem Vater war sie schon einmal verheiratet gewesen. Aus Liebe sagte man. Doch der erste Mann ging fremd. Das ertrug sie nicht. Sie ließ sich scheiden.
Großvater Otto Koch arbeitete mit Erich in der Mechanisierung. Beide spielten Amor. Aber eigentlich kuppelte der Opa.
Er sagte: „Oh! Ich hab `ne Tochter! Kannst mich ja mal besuchen kommen!“ und lud den Schwiegersohn in spe ein.
Zu Emmi meinte er: „Da ist ein Junge, den holen wir her!“
Erich kam und blieb.
Meine Eltern heirateten in dunklen Farben und schmuckloser Kleidung. Es gab Löwenzahnwein. Emmi sammelte die Blüten und zauberte Wein. Sie gab Zucker in den Topf und kochte das Ganze. Das Zeug war hochprozentig.
Ich sammle heute noch die jungen Blätter, die gelben Blüten und menge sie in jeden Salat. Ist mir wurscht, ob jemand meckert. Auch die Blüten der Gänseblümchen lege ich in die Schüsseln. Denn die kann man genauso essen.
Oh, das suche ich alles. In dem Fall bedaure ich, dass meine Emmi nicht mehr lebt. Ich hätte noch einiges von ihr lernen können. Doch als Kind interessierte mich das nicht.
Mm, schade eigentlich!
Heutzutage hat man viel vergessen, versucht es mühsam zurückzuholen. Damals, zu DDR-Zeiten, war man sehr erfinderisch. Aus dem Wenigen, was wir hatten, zauberten wir eine Menge. Ich denke, wir lebten gesünder als das heute der Fall ist. Die Konservierungsstoffe, Zusatzstoffe, der Industriezucker, das Industriemehl, das ganze künstliche Zeug, sind Plagen unserer Gesellschaft und machen die Menschen krank.
Mir gehen so viele Gedanken durch den Kopf, wenn ich das Fotoalbum auf meinem Schoß durchblättere. Die Bilder erzählen Geschichten. Ich bin froh, dass Erich die Fotos so akribisch zusammengestellt und aufgeklebt hatte. Am Ende seines Lebens nahm er sich die Zeit dafür.
Und das eine oder andere Bild spricht Bände. Im Nachhinein sehe ich:
Er hat sie doch geliebt, seine Frau! Wenn er ihr das auch nicht verraten konnte!
Emmi verlor ihr einziges Kind. Ich weiß nicht, ob es vom Erich war oder von ihrem ersten Ehemann. Auf jeden Fall war die Fehlgeburt der Auslöser für die Suche nach einem fremden Leben. Sie muss der Meinung gewesen sein, dass es keine Chance für einen zweiten Versuch gäbe. Meine Eltern waren beide bereits über 40 Jahre.
Emmi beschloss, ein Kind zu adoptieren: „Da holen wir uns ein Kind aus dem Heim!“
Ich stelle mir vor, dass das damals 1953/54 einfacher war als heute. Ich kann das aber nicht beurteilen. Und was sie trotzdem für Anstalten machten, um ein Kind zu bekommen, das war beachtlich.
Mindestens viermal fuhren sie mit der Bahn oder mit Erichs Betriebsauto nach Erfurt. Das waren schon Strapazen zur damaligen Zeit gewesen. Es ging nicht alles so bequem und so einfach wie jetzt. Die Züge zum Beispiel waren nicht so komfortabel wie heute.
Meine Eltern reisten mehrmals in die Stadt, schauten sich verschiedene Kinder an. Das rieb sie auf. Das zerrte an ihren Nerven. Es war kein gemütlicher Weg, den sie gehen mussten.
Ich stelle es mir nicht leicht vor.
Nach welchen Kriterien sucht man sich ein Kind aus? Einen fremden Menschen, der ein Leben lang zur Familie gehören soll. Ich glaube, meiner Mutter fiel die Entscheidung sehr schwer.
Es wanderten viele Briefe zwischen Suhl und Erfurt hin und her, bevor man sich einigte. Emmi besaß ihren eigenen Kopf. Sie ließ sich nicht beeinflussen. Eine einmal beschlossene Sache konnte nicht rückgängig gemacht werden.
Meine Cousine Lenchen sprach oft über den Tag der Entscheidung. Die gesamte Verwandtschaft wusste Bescheid. Natürlich hinter vorgehaltener Hand. Das war ja ein großes Geheimnis. Über die Adoption redete man nicht.
Ein passendes Kind zu finden, war für Emmi und Erich Schwerstarbeit. Bisher gab es immer irgendwelche Schwierigkeiten. Meistens konnte sich meine Mutter für kein Kind entscheiden.
Doch diesmal sollte es funktionieren.
Diese Fahrt sollte zum Ziel führen.
Es war an einem heißen Sommertag. Meine Eltern brachen früh am Morgen auf. Sie fuhren mit dem Zug, um sich zum vierten Mal nach einem Kind umzusehen. Eine aufregende und spannende Sache.
Die unbequeme Reise mit der Bahn störte die Vorfreude. Emmi zupfte aufgeregt an ihrem neu geschneiderten Kleid. Sie hatte es erst gestern Abend fertig gestellt.
In der Hitze des Morgens fühlten sich meine Eltern unwohl. Es lag ein Surren und Flirren in der Luft. Eine Dunstglocke schwebte über den Tälern, an denen die Eisenbahn vorbei zuckelte.
Emmi beobachtete die Umgebung nicht wirklich. In Gedanken sortierte sie die Gründe, warum sie die letzten Kinder nicht nehmen wollte. Vermutlich waren ihre Vorstellungen sehr verschwommen. Es fiel ihr noch immer schwer zu begreifen, dass die Frist für ein leibliches Kind abgelaufen war. Sie musste sich fragen, warum gerade sie das durchmachen sollte. Hätte man ihr nicht ein eigenes Baby schenken können?
Ich glaube, dass sie verzweifelt war. Aber sie verdrängte derart schmerzliche Erlebnisse, indem sie sich in ihre Arbeit stürzte. Sie fragte nie viel. Ihr fehlte die Zeit für Grübeleien. Sie meinte: „Grübeln führt zu keiner Lösung! Punkt um!“
Das Heim stand auf einem etwa 200 m hohen Berg am Rande der Stadt. Ein lang gezogenes zweistöckiges Fachwerkhaus, das dringend renoviert werden müsste.
Erich hätte am liebsten Hammer und Nagel geholt. Aber die Kinder auf dem angrenzenden Spielplatz störte der Zustand des Hauses kaum.
Emmi wäre sofort zu den Kleinen gegangen, wenn sie nicht von einer rundlichen Frau abgelenkt worden wäre. Die baute sich gerade vor den jungen Eheleuten in ihrer ganzen Breite und Höhe auf.
„Ich nehme an, Sie sind Frau und Herr Richter, nicht wahr?“
Ihre schrille Stimme passte nicht zur Körperfülle. Sie wartete nicht mal eine Antwort ab, sondern marschierte auf eine offene Tür mit geschwungenen Holzleisten zu. Ihr Auftreten erinnerte Emmi an ein Pferd oder einen Gardeoffizier.
Fast schüchtern betraten meine Eltern einen winzigen, aber hohen Raum, der sich gleich gegenüber vom Eingang befand. Rechts, neben der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift: „Mutter Hiltrud“.
Emmi hob unbemerkt die Augenbrauen bei dem Wort „Mutter“. So richtig vorstellen konnte sie sich diese Frau nicht als fürsorgliche, liebevolle Heimleiterin. Doch sie sagte kein Wort, kniff vielmehr die Lippen zusammen und setzte sich an einen schmucklosen, hölzernen Tisch. Ihre Blicke suchten vergeblich nach einem Bild an den vier Wänden.
„Darf ich Ihnen einen Hagebuttentee anbieten?“
Das einfarbige, dunkelgrüne Kleid der Fremden war bis zum Hals zugeknöpft. Die Haare der Leiterin schimmerten silbern. Sie fielen in Strähnen auf ihre Schultern. Ein ovaler Leberfleck verunstaltete die linke Wange.
„Ich habe mich eingehend mit Ihrer Bitte, ein Kind aus meiner Einrichtung zu adoptieren, beschäftigt!“, sie legte eine Pause ein, holte eine graue Akte und blätterte die Seiten eifrig um. Sie feuchtete den Zeigefinger mit Spucke an und trennte zusammengeklebte Papiere voneinander.
„Dabei fiel mir unsere liebe Anita ein!“ Sie faltete die Hände zusammen. „Die Kleine ist drei Jahre alt und ganz lieb und ruhig!“
Sie betonte die letzten Worte und hob den rechten Zeigefinger.
„Sie ist aus gutem Hause! Gut erzogen und sehr folgsam!“
Mutter Hiltrud stand auf und marschierte im Raum hin und her. Ihr befehlsmäßiger Ton schüchterte offenbar selbst Erich ein, der sich sonst kaum von solchem Gehabe beeinflussen ließ.
Plötzlich klopfte es und eine Schwester servierte den Tee. Sie verschwand sogleich. Ohne Zweifel war Mutter Hiltrud die Chefin des Hauses.
Doch sie kannte Emmi nicht.
„Ich will erst mal alle Kinder sehen!“, entschied sie und ließ sich nicht beeindrucken.
Erich fühlte sich unwohl zwischen den Fronten. Er sagte lieber nichts. Das war die klügste Variante.
„Na gut! Wenn Sie ausgetrunken haben, zeige ich Ihnen die Kleinen!“
Damit war das Gespräch beendet und die Chefin führte meine Eltern einige Minuten später aus dem Zimmer in den langen Gang. Es roch nach Bohnerwachs und Seifenlauge. Kinderstimmen füllten den Flur, schallten zurück wie das Echo in einer Höhle.
Im Spielzimmer, in der so genannten Puppenecke, saß artig die kleine Anita. Emmi betrachtete das Kind ohne eine äußere Regung, drehte sie sich um und verließ den Raum.
„Das sind doch bestimmt nicht alle?“
„Nein! Das sind aber die ruhigsten und liebsten! Ich möchte sie Ihnen unbedingt ans Herz legen! Diese Kinder sind absolut zu empfehlen!“
Doch Emmi wollte nicht!
„Zeigen Sie mir die anderen!“
„Meinetwegen! Da müssen wir rausgehen!“
Die Heimleiterin zog die Spielzimmertür zu und marschierte zum Hintereingang. Emmi folgte ungerührt. Sie ließ keinen Abstand zu. Über vier Steinstufen liefen die drei Erwachsenen zu einer riesigen Parkanlage. Hinter dem Gebäude spielten Mädchen und Jungen zwischen Kastanienbäumen, Buchen und Kiefern. Der frisch gemähte Rasen duftete. Die Kinder tollten auf dem gesamten Gelände herum.
Und dann kam ich ins Spiel!
Ich denke eigentlich, dass ich mir in meinem kleinen Leben mein Glück damals selbst ausgesucht habe!
Ich lief schnurstracks, ohne zu überlegen, auf Emmi und Erich zu. Emmi muss beeindruckt, ja überrumpelt, gewesen sein. Denn von da an konnte ihr keiner mehr die kleine Martina ausreden. Vermutlich hatte sie sich vom ersten Augenblick an in mich verliebt, aber auch getäuscht.
Sie ahnte damals nicht, wen und was sie sich da aufhalsen und an Land ziehen würde. Sie hatte noch keine klaren Vorstellungen von Kindererziehung, keinerlei Erfahrungen auf dem Gebiet. Ihr gefiel wohl, dass ich sie ausgesucht hatte. Jedenfalls ließ sie sich nicht mehr davon abbringen, Martina zu adoptieren. Alle folgenden Briefe der Heimleiterin, in denen sie dringend von „diesem Kind“ abraten wollte, berührten Emmi nicht.
Die warnenden Worte von Hiltrud: „Nehmt das Kind nicht! Die Mutter ist `ne Kriminelle! Wer weiß, was da draus wird! Vielleicht wird die auch so!“, hörte Emmi nicht.
„Ne! Ich nehme die Martina! Und fertig! Aus!“
Das war ihr letztes Wort zu dem Thema, dabei blieb sie bis zum Schluss. Ihre Entscheidung stand fest wie ein Fels.
Unumstößlich!
Im Jahre 1955, im tiefsten Winter, bei Temperaturen unter -20 Grad Celsius, brachten sie mich nach Suhl.
Erich fotografierte mich bei der Ankunft. Das Ursprungsbild klebt auf schwarzem Papier im grünen Album.
Meine neuen Eltern holten mich im Dezember. Sie packten mich auf den Schlitten, an die Lehne, die man hinten drauf gesteckt hatte. Sie hüllten mich in eine Wolldecke und setzten mir eine Mütze auf den Kopf. Im tiefsten Winter, bei klirrender Kälte zogen sie mich durch die Stadt zum Buchenberg hinauf. Und dann ging es ab, nach Hause, in die warme Stube.
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