Kitabı oku: «Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse», sayfa 2
Wieso, weshalb, warum?
September 1997
… wer nicht fragt, bleibt dumm. Wer die falschen Fragen stellt, allerdings auch. Und im Zusammenhang mit behinderten Kindern ist die Frage nach dem Warum allenfalls ein Ausdruck der Hilflosigkeit, aber keine Frage, deren Antwort wirklich weiterhilft.
Ich für meinen Teil kenne die Antwort inzwischen. Sie lautet L1CAM. Alles klar?
Was wie ein Passwort für einen Sicherheitsserver im Internet klingt, ist die Bezeichnung für irgendein winziges Teil eines Gens in meinen Zellen, das nicht ganz richtig funktioniert. Im Klartext: Ein Gendefekt. Vererbt über eines meiner beiden X-Chromosome. Da ich zwei von der Sorte besitze, kann das intakte das defekte ausgleichen. Keine Spur von Behinderung bei mir. Allerdings kommt jeder Junge, dem ich mein defektes X-Chromosom vererbe, unweigerlich behindert zur Welt. Denn bei Jungs hat das L1CAM keinen Partner, der den Defekt ausgleichen könnte.
Und nun? Was fange ich nun mit diesem Wissen an?
Die einzige Möglichkeit einer Heilung bestünde darin, in jeder Zelle von Jacobs und Cornelius’ Körper das defekte Bruchstückchen eines Gens durch ein gesundes auszutauschen. Der menschliche Körper besteht aus etwa fünfzigtausend Milliarden Zellen. Bei Kleinkindern dürften es ein paar weniger sein. Das würde die Arbeit schon etwas erleichtern. Seltsamerweise hat es trotzdem noch nie jemand versucht.
Mein Frauenarzt könnte bei jeder weiteren Schwangerschaft das Blut des Embryos auf das L1CAM untersuchen lassen. Im »negativen« Fall könnte ich mich freuen. Im »positiven« Fall müsste ich – laut Ärzten – das Kind nicht zur Welt bringen. Aber würde ich diesen Rat wirklich befolgen? Ganz bestimmt nicht. Also würde ich eben doch ein drittes behindertes Kind bekommen, das meine körperlichen und emotionalen Kräfte endgültig überfordern würde.
Da ist die Pille noch die beste Lösung.
Ein Genetiker könnte alle Blutsverwandten auf meinen Gendefekt untersuchen. Braucht er aber nicht. Ich habe keine Schwester, bei der man nun ebenfalls das Erbgut checken könnte, damit sie vor der Zeugung eines Kindes Bescheid weiß. Meine Mutter und meine Großmutter haben auch nur Brüder. Sie selbst haben das zeugungsfähige Alter längst überschritten. Also besteht keine Gefahr einer unwissentlichen Weitergabe des ominösen Erbgut-Passwortes. Wenigstens da haben wir Glück gehabt.
Mein Ehemann könnte mit dem Wissen, dass meine Gene die Behinderung unserer Söhne ausgelöst haben, etwas anfangen. Er könnte sich eine andere Frau suchen. Eine, die ihm gesunde Kinder schenken kann. So etwas machte man in der Antike. Sollte man meinen. Betroffene Männer kommen auch heute noch schnell auf diese Idee. Ihre Verwirklichung kommt für meinen Mann aber nicht in Frage. Andere Frauen können das nur vermuten, ich weiß es aus der Praxis. Dicker Kuss für Martin.
Ein Statistik-Schüler könnte mir ausrechnen, dass ich jetzt das Anrecht auf sechs gesunde Kinder habe. Denn die Wahrscheinlichkeit auf einen Jungen beträgt 50 Prozent. Und von diesen 50 Prozent bekommt, rein statistisch gesehen, nur die Hälfte mein defektes Gen. Macht eine Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent. Bei zwei bereits behinderten Kindern würden die restlichen 75 Prozent aus vier Mädchen und zwei gesunden Jungen bestehen.
Jeder Statistik-Professor würde dem Schüler aber erklären müssen, dass sich das errechnete Verhältnis erst dann auf den statistischen Wert einpendelt, wenn ich eine genügend große Grundmenge Kinder in die Welt setze. So etwa 100.
Ich weiß von einer Mutter mit dem gleichen Gendefekt. Sie hat es immerhin auf sieben Kinder gebracht, darunter fünf Jungen. Und nur einer hat ihr L1CAM erwischt. Sie fragt sich, wieso es bei ihr ein so geringer Prozentsatz ist. Eigentlich müsste sie mir Statistik-Ausgleichs-Schadensersatz zahlen. Ich habe freundlicherweise darauf verzichtet, ihn einzuklagen.
Nein, die Frage nach dem Warum führt nicht weiter. Für mich steht eine ganz andere Frage im Raum, drängend, manchmal bedrohlich und jeden Tag neu: Was jetzt?
Wie gestalte ich mein Leben unter diesen erschwerten Umständen?
Wie schaffe ich ein innerliches Ja dazu, dass dieses blöde winzige L1CAM alle ganz normalen Zukunftshoffnungen für meine Kinder schon bei ihrer Zeugung einfach durchgestrichen hat?
Wie kann ich der Versuchung widerstehen, mich der Resignation hinzugeben?
Das sind die wesentlichen Fragen. Eine feste Antwort darauf habe ich nicht.
Vielleicht gibt es sie auch gar nicht. Wahrscheinlich muss ich immer wieder neu Antworten darauf finden. Sie werden unterschiedlich ausfallen, je nach Situation, Stimmung und Kraft. Aber ich muss die Antworten nicht alleine finden. Martin sucht natürlich mit. Manchmal liefern unsere Kinder selbst Antworten.
Und manche Antwort, manche Ermutigung wird mir immer wieder einmal einfach vor die Füße gelegt. Von Gott. Mitten in dem gefühlsmäßigen Chaos, in das ich immer wieder hineinschlittere, schickt er mir Zeichen seiner Fürsorge. Mal groß und unübersehbar, mal unscheinbar klein und kaum erkennbar. Manchmal renne ich blind daran vorbei und erkenne erst im Nachhinein, wo ich wieder einmal beschenkt worden bin.
Eigentlich ist es schon ein Wunder für sich, dass Gott mir immer noch Zeichen seiner Güte schenkt, obwohl ich sie so oft, blind vor Tränen in den Augen oder Wut im Bauch, liegen gelassen habe.
Wie gut, dass Gott mehr Geduld mit mir hat als ich selbst. Wie gut, dass ich mich auch für alle eventuellen künftigen Katastrophen in meinem Leben darauf verlassen kann.
CRASH
September 1997
Die Behinderung, die den Defekt des L1CAM auslöst, hat ebenfalls einen Namen: CRASH-Syndrom. Jeder Buchstabe des Syndroms steht für ein Symptom des Gendefektes: Corpus-callosum-Agenesie, mentale Retardierung, adduzierte Daumen, spastische Paraplegie und Hydrozephalus.
Hinter diesen Fachbegriffen verbergen sich eine ungenügende Verbindung zwischen beiden Hirnhälften, eine verzögerte geistige Entwicklung, eingeschlagene Daumen, eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Spastik und ein Wasserkopf.
Das alles liest der Mediziner aus diesen fünf Buchstaben C-R-A-S-H. Ausgesprochen wird das Ganze dann eben »Crash«.
Und klingt somit eher wie: An die Wand gefahren. Totalschaden. Schwerverletzte.
Mein Bruder hatte einmal einen schweren Verkehrsunfall. Mit Frontalzusammenstoß, Totalschaden und fünf Schwerverletzten. Er hat seinen Crash überlebt. Aber er musste monatelang üben, bis er neu laufen gelernt hatte. Sich hinknien, um Sockelleisten abzustauben, wird er nie wieder können. Aber wenn er mit seinem Sohn Fußball spielt, merkt man ihm nichts mehr an. Und mein Bruder spielt wesentlich lieber Fußball, als Sockelleisten abzustauben.
Ich werde meinen Großbuchstaben-Crash auch überleben. Aber auch bei mir wird es wohl einige Zeit dauern, bis ich wieder auf die Beine komme. Manches in meinem Leben wird nie wieder so sein, wie es war, und wie es bei 95 Prozent aller Familien in Deutschland ist. Ich werde üben müssen, werde kämpfen müssen, werde Neues lernen müssen. Aber es besteht die Hoffnung, dass man meinem Leben irgendwann nicht mehr als Erstes die »chronisch kranke Frau mit zwei behinderten Kindern« anmerken wird.
Mein Bruder hat es geschafft, sein Leben nach dem Unfall wieder gut zu meistern. Tausende von Eltern, deren Kind behindert zur Welt gekommen ist, haben das geschafft. Millionen Menschen, deren Lebensplanung einen Totalschaden erlitten hat, haben das geschafft.
Also kann ich das auch schaffen. Meinen Kindern zuliebe. Und mir selbst zuliebe. Vielleicht vor allem das.
Psychiater
Oktober 1997
Ich bin am Ende. Zumindest fühle ich mich so. Wenn ich vor dem Fenster einen Dreijährigen mit selbst abgerissenen Blumen für Mama in der Hand herumhüpfen sehe, während mein Dreijähriger übt, sich an einem Stuhl zum Stehen hochzuziehen, gehört die nächste halbe Stunde einem Weinkrampf. Am liebsten würde ich mich den ganzen Tag unter der Bettdecke verkriechen. Oder auf die Straße rennen und allen Leuten ins Gesicht schreien, wie schrecklich diese Welt mit mir umgeht. Beides würde an meiner Situation nicht das Geringste ändern.
Martin hat eine bessere Idee: Er sucht die Adresse eines christlichen Psychiaters und vereinbart gleich einen Termin für mich.
So tief bin ich also gesunken. Der Psychiater wird mich auf seine Couch legen, sich alles anhören und mich dann mit Psychopharmaka vollpumpen, bis ich nicht mehr geradeaus denken kann. Danach bleibt als nächster Schritt nur noch die geschlossene Psychiatrie.
Ich gehe trotzdem hin. Vor allem, weil Martin immer noch darauf besteht. Dr. D. arbeitet bewusst auf christlicher Basis. Wir reden aber kaum über Gott. Er kann ja auch dabei sein, wenn man nicht über ihn redet. Dr. D. hat keine Couch, sondern einen verstellbaren Ruhesessel, in dem man sich wunderbar fallen lassen kann. Und einen herrlichen Kaffee.
Dr. D. hört sich alles an. Geduldig, verständnisvoll. Klar, das ist sein Beruf. Er versteht, dass alles Sich-Zusammenreißen-Wollen nicht funktioniert. Diagnostiziert eine exogene Depression. Das heißt, ich bin nicht von mir aus depressiv, sondern meine Lebensumstände haben mich dazu gemacht. Schön, das habe ich mir schon vorher gedacht. Aber was macht man dagegen?
Dr. D. verschreibt mir keine Tabletten, sondern erst einmal eine Putzhilfe. Die wird zwar nicht von der Krankenkasse übernommen, aber es hilft. Besonders, wenn ich den Auftrag des Psychiaters beherzige und die gewonnene Zeit dafür nutze, mit Jacob zu toben, mit Cornelius zu kuscheln oder mich einfach in die Sonne zu setzen.
Das mache ich auch für eine kurze Zeit. Es klappt nicht immer, aber immer öfter. Dann spiele ich doch wieder mit dem Gedanken, anderweitig aktiv zu werden. Eine Krabbelgruppe für unser Dorf gründen, das wäre doch etwas für mich. Es wäre zwar wieder mit Arbeit verbunden, aber mit einer, die mir wesentlich mehr Spaß macht als der Hausputz. Und die mich vielleicht herausholen könnte aus dem ständigen Kreisen um die Ungerechtigkeit des Schicksals. Ich wäre nicht mehr nur die MS-kranke Mutter von zwei behinderten Kindern, sondern wieder die Pfarrfrau, die ich eigentlich werden wollte. Die Gruppenleiterin, Ansprechpartnerin für die Mütter. Expertin in Sachen »normgerechte Entwicklung«, »sensorische Integration« und »psychomotorische Frühförderung«. Damit bin ich schon wieder nicht normal. Aber ich kann mir selbst beweisen, dass ich noch in der Lage bin, aus meinen negativen Lebensumständen positives Kapital zu schlagen.
Dr. D. ist gar nicht darüber entsetzt, dass ich seinen Auftrag nicht so ganz erfüllen möchte. Im Gegenteil, er erklärt mir den Unterschied zwischen Dys-Stress und Eu-Stress und ermutigt mich, die Sache anzupacken. Für ganz heftige Momente verschreibt er mir sogar ein Beruhigungsmittel. Aber erst jetzt. Jetzt zeigt Dr. D. mir ein paar Entspannungsübungen und übt mit mir, gewisse Gedanken mit einem Stoppschild im Kopf auszubremsen. So ausgerüstet, kann ich es hoffentlich schaffen, in der Krabbelgruppe ganz normale Kleinkinder zu erleben, ohne gleich in Tränen auszubrechen.
Inzwischen habe ich eine Frau aus unserem Dorf zu Dr. D. geschickt. Sie dreht sich seit über einem Jahr nur noch um die Frage, warum ihr Mann so schnell an einem Hirntumor gestorben ist. Aber bei ihr beißt der Arzt auf Granit. Stoppschilder im Kopf fallen schon nach ein paar Stunden wieder um. Eu-Stress-Aufgaben findet sie nicht. Selbst Psychopharmaka bleiben wirkungslos.
Ich glaube, Dr. D. hätte gerne mehr solche Patienten wie mich. Ich bin also doch noch ganz die alte Sabine: Die Musterschülerin. Früher für den Französischlehrer, heute für den Psychiater. Immerhin.
Das Ei des Jacobus
Januar 1998
Kennen Sie die schöne Erzählung vom Ei des Kolumbus? Ich war schon als Kind fasziniert davon, wie der wackere Seemann das scheinbar Unmögliche vollbrachte, indem er kurz die üblichen Denkmuster verließ. Als seine Gegner ihm vorhielten, auch jeder andere hätte Amerika entdecken können, forderte er sie auf, ein rohes Ei senkrecht auf den Tisch zu stellen. Nach allen Regeln der Physik ist das unmöglich, und natürlich gelang keinem der Anwesenden das Kunststück. Bis schließlich Christoph Kolumbus das Ei nahm, es mit dosiertem Schwung auf die Tischplatte stellte, so dass die Eischale ganz leicht eingedrückt wurde. Und siehe da – das Ei stand senkrecht.
Im 17. Jahrhundert gab es noch keine IQ-Tests. Hätte es sie gegeben, wäre Kolumbus sicher auf einen Wert von über 120 gekommen. Unser Jacob liegt zwischen 70 und 80. Keine Chance, Seefahrt zu studieren, einen Segelschein zu machen, neue Welten zu entdecken.
Aber auch er vollbringt das scheinbar Unmögliche, indem er die üblichen Denkmuster verlässt.
Bevor ich weiter erzähle, überlegen Sie selbst: Ist es möglich, eine mit einer üblichen Kindersicherung geschlossene Autotür von innen zu öffnen? Lassen Sie sich ruhig Zeit mit der Suche nach einer Lösung; Jacob hat es immerhin auch erst nach drei Tagen geschafft. Aber dann innerhalb von etwa 30 Sekunden.
Bis unser Ältester knapp vier Jahre alt ist, bleibt die Kindersicherung in unserem Auto unbenutzt. Erst ist Jacob gar nicht in der Lage, die Tür von innen zu öffnen, später hat er kein Interesse daran. Bis er schließlich doch den entsprechenden Hebel betätigt – bei Tempo 100 auf der Überholspur. Natürlich schreiten wir Eltern sofort ein und legen den Knopf der Kindersicherung um. Jacob versucht drei Tage lang, seine neue Entdeckung noch einmal durchzuführen. Vergeblich, die Autotür bleibt zu. Nur Mama und Papa sind in der Lage, sie zu öffnen. Und zwar von außen.
Hat es jetzt bei Ihnen »Klick« gemacht? Nein? Bei Jacob schon. Drei Mal beobachtete er, wie wir die Tür auf bekamen. Beim vierten Mal lade ich erst die Einkäufe aus dem Kofferraum, bevor ich Sohnemann von der Rückbank holen will. Und finde eine sperrangelweit geöffnete Tür samt einem schelmisch grinsenden Jacob vor.
Ist die Kindersicherung doch nicht eingerastet? Ein kurzer Check bestätigt: Doch, sie ist. Aber das Fenster ist heruntergekurbelt. Und zwar nicht von mir.
Mein Mund steht wahrscheinlich mindestens so weit offen wie die Autotür. Sollte Jacob tatsächlich ... ? Schließlich mache ich die Probe aufs Exempel: Schließe Fenster und Türe und fordere Jacob auf, auszusteigen. Und siehe da, als wäre es das Logischste der Welt, kurbelt Jacob das Fenster herunter, greift nach außen und öffnet die Autotür. Trotz eingerasteter Kindersicherung.
»Ach«, denken Sie jetzt vielleicht, »das war ja einfach. So hätte ich das ebenfalls hingekriegt.«
Genau das sagten auch die Menschen, die um Christoph Kolumbus und sein aufrecht stehendes Ei herum standen. Und der wackere Seemann entgegnete ihnen: »Der Unterschied liegt darin, dass ihr es hättet machen können, ich es aber gemacht habe.«
Könnte Jacob schon fließend sprechen, würde er das auch sagen.
Wie schon erwähnt, Christoph Kolumbus war ein hochintelligenter Gelehrter, und Jacob ist ein geistig behindertes Kind. Offensichtlich ist der Unterschied zwischen beidem manchmal gar nicht so groß.
Offener Brief an Gott 2
Februar 1998
Meinen ersten Brief an dich habe ich immer wieder noch einmal gelesen. Heute, nach der Begegnung mit mehreren Engeln und einem Psychiater, mit einer Putzhilfe für die Wohnung und einem nachts schlafenden und tagsüber strahlenden Stillkind, würde ich manches anders formulieren. Ich stehe nicht mehr im ersten Schock vor den Trümmern meiner Träume.
Kaputt sind sie trotzdem. Immer noch. Und für immer.
Und mit dieser Aussicht, mit meinem Schicksal, mit dir – da bin ich noch lange nicht fertig. Ich habe dich immerhin schon länger nicht mehr als Sadisten bezeichnet.
Und ich frage mich ab und zu: Darf man wirklich so mit dir reden? Toben, manchmal sogar fluchen, dich beschimpfen? Nicht irgend wen, sondern den Herrn dieser Welt? Darf ich das?
Aber was sollte ich sonst tun?
Brav weitermachen wie bisher, so tun, als ob nichts geschehen wäre?
Fromme Lieder singen, während es in mir drin dagegen wütet?
Fromme Gebete sprechen, zu denen mein Herz Nein schreit?
Fromme Sprüche klopfen, dabei lächeln, und dir in der Hosentasche den Stinkefinger zeigen?
Mein Gegenüber würde das wahrscheinlich nicht sehen; du siehst es garantiert.
Deshalb vermute ich, dass es dich nicht sonderlich freut, wenn ich mich in frommer Schauspielerei übe. Selbst wenn ich irgendwann so perfekt sein sollte, dass es für einen irdischen Oscar reichen könnte – den himmlischen Oscar vergibst du gar nicht für Schauspiel-Leistungen, den vergibst du eher für Ehrlichkeit.
Also schütte ich lieber einfach mein Herz vor dir aus. Egal, wie viele Gedanken und Gefühle dabei sind, die dich vielleicht verletzen. Schließlich kennst du sie ohnehin schon.
Und schließlich hättest du ihre Entstehung ja ganz einfach verhindern können.
Auch vorhin hast du meinen Gefühlsausbruch nicht verhindert.
Hast Cornelius, dieses sonst so friedliche Kind, einfach brüllen lassen. Kein Wickeln, kein Stillen, kein Herumtragen, kein Singen hat geholfen. Über eine Stunde lang. Vielleicht war es auch nur eine halbe. Oder zwanzig Minuten. Egal, es hat gereicht, um Jacob derart zum Lachen zu reizen, dass er wild gackernd von seinem Kinderstühlchen gepurzelt ist. Und ebenfalls angefangen hat zu brüllen.
Ich weiß, normale Mütter brüllen dann nicht einfach mit. Aber ich bin eben keine »normale Mutter«. Wie könnte ich auch, schließlich habe ich ja keine normalen Kinder.
Ich habe nicht einmal eine normale Küchenschublade! Ausgerechnet die, aus der ich eine Stoffwindel holen wollte, um sie anzufeuchten und Jacobs Beule damit zu kühlen, klemmte. Als ich sie endlich mit roher Gewalt aufgezerrt hatte, gab es einen leisen Knacks, und die Schubladenfront fiel mir vor die Füße.
Was soll man da noch machen? Ruhig reagieren, ein Problem nach dem anderen lösen?
Aber ich bin nicht »man«, ich kann das nicht! Jedenfalls nicht, wenn sich das Leben als solches, zwei Kinder und dann auch noch eine Küchenschublade gegen mich verschwören!
Ich habe Cornelius einfach schreiend in seine Wiege verfrachtet, Jacob das feuchte Tuch auf die Stirn gepackt und mich dann auf mein eigenes Bett geschmissen. Mir die Decke über den Kopf gezogen und meine Verzweiflung in die Matratze getrommelt. Tränen, Flüche inklusive.
Als Martin nach Hause kam, war Cornelius eingeschlafen. Jacob lag friedlich auf dem Fußboden. Aber Martin sah die Schublade, er sah meine Bettdecke, und er wusste, dass ich wieder einmal »soweit war«.
Dann hat er sich einfach neben mich gesetzt und mir eine Geschichte vorgelesen. Eine von Adrian Plass, über dessen »frommen Chaoten« wir uns schon so oft schief gelacht haben.2
Diesmal war es aber keine der üblichen schreiend komischen Geschichten, sondern eine sehr nachdenkliche:
Der fromme Chaot sollte bei einem Abendessen sprechen, bei der die »überwiegende Mehrzahl Nicht-Christen« sich als eine einzige Person unter lauter Gemeindegliedern herausstellen. Aufgrund einer spontanen Eingebung ändert er seinen Vortrag und erzählt, wie sein kleiner Sohn manchmal enttäuscht, verzweifelt, wütend nach Hause kam. Wie er, der Vater, dieses tobende Kind einfach auf seinen Schoß genommen und ihn festgehalten hat. Wie das Kind ihm mit seinen kleinen geballten Fäusten schreiend auf die Brust trommelte, bis es sich schließlich völlig ausgeheult hatte und auf dem Schoß des Vaters einschlief. Und er, der Vater, war einfach glücklich darüber, dass sein Sohn zu ihm gekommen war, lieber als zu irgendjemand anderem.3
Hocke ich wirklich gerade so auf deinem Schoß? Enttäuscht, verzweifelt, wütend schreie dich an und versuche mit meinen eingeschränkten Möglichkeiten, dem Herrn dieser Welt weh zu tun? Damit er merkt, wie viel Schmerz zu viel er mir zugeteilt hat?
Nein, ich werde jetzt nicht ganz brav christlich davon reden, dass dieser Herr der Welt selbst unendlich gelitten hat, und dass er heute noch leidet an all dem Bösen, das auf dieser Welt geschieht, dass er auch mit mir mitleidet. Das wissen wir beide doch sowieso. Ich sehe nur nicht, wie mir das in irgendeiner Weise helfen könnte.
Nein, mir ist an dieser Geschichte von Adrian Plass etwas anderes wichtiger: Ich bin jetzt noch überzeugter davon, dass du mein Rebellieren gegen dich aushältst. Du kannst nicht nur Sonnensysteme erschaffen und auf dem Wasser gehen, du kannst auch das Trommeln meiner kleinen geballten Fäuste auf deiner Brust ertragen. Du lässt mich trotzdem nicht los. Auch wenn ich gerade nicht allzu viel mit dir anfangen kann, wenn ich dich gerade einfach nicht verstehe – dieses Wissen tut irgendwie gut.
Und ich verspreche dir: Ich werde mir keinen anderen Gott suchen, um mich bei ihm auszuheulen. Ich bleibe bei dir. Und sei es eben, indem ich gegen dich tobe, dich beschimpfe und deine Offenbarung in die Zimmerecke schmeiße.
Jetzt ist es raus. Das, was ich unbewusst die ganze Zeit gewusst habe: Ich bleibe bei dir.
Das heißt nicht, dass ich dich wieder so einfach lieben, deinen Weg mit mir akzeptieren würde! Es heißt nur, dass ich mich nicht von dir lossagen werde. Dass ich irgendwie nicht loskomme von dir.
Denn was hätte ich eigentlich davon, wenn ich meinen Glauben an den Nagel hängen würde? Ich müsste die letzten fünfzehn Jahre meines Lebens als Irrtum abhaken. Alles vergessen oder uminterpretieren, was ich mit dir erlebt habe. Alles leugnen, was ich jemals über dich gesagt habe. Ich müsste die restlichen Jahre meines Lebens mit einem Mann verbringen, der schon rein berufsmäßig weiterhin glauben muss.
Ich könnte statt dir irgendein blindes Schicksal anklagen, das Leben an sich, die Natur oder sonst irgendetwas. Das wäre wohl kaum erleichternder, als dich anzuschreien.
Und meine Kinder heilen würde es definitiv nicht.
Es lohnt sich also einfach nicht, dir den Laufpass zu geben.
Bei dir weiß ich wenigstens, dass du mein Schreien hörst.
Und vielleicht werde ich dich eines Tages wieder brauchen. Wenn ich wieder empfänglich bin für das, was du mir vielleicht doch einmal wieder zukommen lassen willst: Deine Hilfe. Deinen Trost. Deine Nähe. Deine Liebe.
Wie gesagt: Vielleicht.
2 Adrian Plass, Tagebuch eines frommen Chaoten, Brendow Verlag 1990.
3 Adrian Plass, Die rastlosen Reisen des frommen Chaoten, Brendow Verlag 1996, S. 54–63.