Kitabı oku: «Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick», sayfa 3

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Medienresilienz als individuelle und gesellschaftliche Aufgabe

Zusammengefasst bedeutet das: Zwischen den Erkenntnissen der Bindungsforschung und dem, was ich Medienresilienz und souveräne Mediennutzung nenne, gibt es auffällige Parallelen. Auch eine souveräne Mediennutzung gelingt nur im reflektierten und selbstverantwortlichen Wechsel von beiden Zuständen: der Fähigkeit, sich einzulassen einerseits, und der Gabe, sich abgrenzen zu können andererseits. Sie gelingt nur durch selbstsicheres Beherrschen von »On« und »Off«. Wenn man sich diese beiden Zustände als Kippschalter im menschlichen Verhaltensrepertoire vorstellt, so ist es unsere Aufgabe, diesen zu trainieren. Dies gelingt nur in der Übung, zwischen den beiden Zuständen hin und her zu wechseln.

Den Gebrauch digitaler Medien rundweg abzulehnen oder zu verteufeln und jegliche Medien aus Kinderzimmern, Schulen, Arbeit und Gesellschaft zu verbannen, ist keine Lösung. Das verantwortliche Umschalten von »An« auf »Aus« und wieder zurück kann nur erlernt werden, wenn beide Zustände erlaubt und möglich sind und damit geübt und beherrscht werden können.17

Die Erkenntnisse lassen sich auch auf gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen: Als Gesellschaft leben wir ebenfalls in einem Spannungsfeld, das durch die Globalisierung aus dem Lot gebracht worden ist, zwischen Entfremdung und Geborgenheitssehnsucht.

Wie also fangen wir gesellschaftlich die fortschreitende Entfremdung auf? Kann uns auch auf gesellschaftlicher Ebene eine gute Taktung von Entfremdung und Vertrautheit gelingen? Wäre das nicht ein weiteres Kriterium einer resilienten digitalen Gesellschaft?

Die zentralen Fähigkeiten und Kompetenzen, die wir für einen souveränen Umgang mit digitalen Medien, für ein selbstverantwortliches Handeln in einer digitalen Gesellschaft brauchen, werden uns durch eine gute und sichere Bindung zur Verfügung gestellt. Indem wir gesellschaftliche Verbindung und soziale Kohäsion fördern, bereiten wir die Gesellschaft gut auf die Herausforderungen des digitalen Wandels und der Globalisierung vor.

Die Digitalisierung ist dabei ein paradoxer Faktor. Eine digitale Infrastruktur ist zwar Treiber der Entfremdung, kann aber auch das Gefühl von Verbundenheit fördern. Die Verbindung zu anderen herzustellen, erfüllt uns mit Wärme – und mit einer »Hormondusche«, die unser soziales Bestreben belohnt. Das sogenannte Kuschelhormon Oxytocin wird in zwischenmenschlich nahen Situationen ausgeschüttet, es beeinflusst die Geburt, das Zusammensein von Liebespartnern und allgemein soziale Interaktionen. Der amerikanische Neuroökonom Paul Zak18 bringt Oxytocin in Zusammenhang mit Moral, Vertrauen und Empathie. Sich umarmen, tanzen, anderen nahe sein – es gibt viele Möglichkeiten, sich mit Menschen zu verbinden, sagt er. Und soziale Medien sind offenbar eine davon. Er untersuchte Probanden, während sie aktiv in sozialen Medien waren, und stellte bei ihnen einen zweistelligen Anstieg von Oxytocin und den gleichzeitigen Abfall von Stresshormonen fest.19 Es ist das wohlige Gefühl, vertrauten Menschen nahe zu sein, das sich hier ausdrückt – und dazu können auch soziale Medien beitragen.

Allerdings ist mit der Nutzung von Twitter, WhatsApp und Facebook eine wohltuende »Hormondusche« keineswegs garantiert. Wenn die Probanden sich während der Untersuchung inmitten eines Shitstorms oder in den Tiefen von Schmäh- und Hasskommentaren befunden hätten, wäre das Studienergebnis sicher anders ausgefallen. Die dunklen und destruktiven Seiten des sozialen Miteinanders finden in sozialen Medien ebenso ihren Weg zum Gegenüber.

Die feine Waage zwischen Gut und Böse, zwischen Nähe und Distanz, zwischen einander fremd werden und einander nahkommen müssen wir Nutzer selbst herstellen. Das können wir nicht an die digitale Technik auslagern. Diese Aufgabe besteht auf beiden Ebenen und muss auf beiden Ebenen geleistet werden: Der Einzelne muss diese Waage halten können. Aber als Gesellschaft müssen wir das auch tun.

Kontakt und Bezug

Rosellasittiche pflegen sie, ebenso wie Komorenbuschsänger und Kaiserpinguine: Kontaktrufe sind im Tierreich weit verbreitet. Deutlich sind sie bei den jährlich vorbeiziehenden Kranichschwärmen zu hören. Auch zwischen der Füchsin und ihren spielenden Welpen werden sogenannte Stimmfühlungslaute getauscht. Unsere Verwandten, die Affen, stabilisieren mit Kontaktrufen das soziale Gefüge der Gruppe.

Die Kontaktrufe signalisieren: »Ich bin hier.« Zugleich steckt in dem Stimmfühlungsruf auch die Frage: »Wo bist du?« – und das Warten auf Antwort. Die Kontaktrufe dienen also zugleich der Selbstvergewisserung wie auch dem Halten und Wiederherstellen des Kontaktes zu anderen. Auf berührende und irritierend menschelnde Weise hat das Konrad Lorenz, der Altvater der klassischen Verhaltensforschung, in seinem Bericht über das »Gänsekind Martina« beschrieben, das in ihm seine Gänsemutter sah: »Martina empfing mich beglückt grüßend: Wiwiwiwiwiwi. Es wollte kein Ende nehmen vor Erleichterung darüber, daß sie nicht mehr bei Nacht und Nebel allein war.«20

Stimmfühlungslaute erhalten im Tierreich den sozialen Kontakt mit Artgenossen und fördern die Gruppenbildung. Sie dienen vor allem in unübersichtlichen Lebensräumen dazu, den Partner oder die Gruppenmitglieder über den eigenen Aufenthalt zu informieren, sie nicht aus den Augen und den Ohren zu verlieren.

Unsere digitale Kommunikation über soziale Medien funktioniert ganz ähnlich. Auch unsere vielen kleinen Nachrichten sind Kontaktrufe. Wir sagen damit: »Ich bin hier« und fragen: »Bist du auch da?« Und wie wohlig es uns durchströmt, wenn wir dieses kleine Blinken sehen, das Pulsieren im Herzschlagtakt, das uns anzeigt: Wir haben Antwort, wir leben. Das kleine Geräusch, ein Brummen oder Vibrieren, das wir auch durch Hand- und Hosentaschen hindurch spüren, dieser Stimmfühlungslaut, der anzeigt, dass wir beantwortet werden. Dass jemand an uns denkt. Dass wir nicht alleine sind, nicht in der Waldlichtung und nicht in der Welt.

Kontaktrufe im Netz

In der Anfangszeit der Plattform Twitter wurde diesem neuen Medium vorgeworfen, dass es doch nur belangloses Geschwätz sei, das dort verbreitet würde, und keine hochwertigen Qualitätsinformationen. Das war und ist ein Missverständnis: In sozialen Medien geht es nicht um Information, sondern um Bindung, um Gespräch und Kontakt. Wenn man so will, geht es in der Kommunikation in sozialen Medien um Stimmfühlung. Es ist eine Möglichkeit, im unübersichtlichen Lebensraum der globalisierten und digitalisierten Welt mit den anderen verbunden zu bleiben und sich einander zu versichern. Es ist ein Versuch, die schmerzlich empfundene Spaltung zu überbrücken.

Darauf ist der Erfolg der sozialen Medien zurückzuführen. Es gelingt ihnen unvergleichlich gut, eine Grundschwingung von Kommunikation und Verbindung zwischen Menschen aufrechtzuerhalten. Die digitale Infrastruktur, die uns heute zur Verfügung steht, kann auch über große Distanzen Kontakt herstellen. Hier sind wir mit unseren Kontaktrufen nicht auf die Hörweite eingegrenzt und können die Möglichkeiten der Globalisierung nutzen, um uns die Welt wieder ein wenig klein und vertraut zu machen.

Das Internet adressiert das menschliche Bedürfnis nach Bindung und Bezug. Das ermöglicht uns tatsächlich, Distanzen zu überwinden. Wir können mit den Enkeln auf anderen Kontinenten skypen. Wir können zwischen verschiedenen Städten alltägliche Vertrautheit herstellen. Wir können uns im digitalen Raum mit Gleichgesinnten zusammenfinden. Wir können transnationale Konferenzen abhalten, ohne reisen zu müssen. Wir können mit Kollegen in Übersee chatten und unser Wissen in Sekundenbruchteilen mit der ganzen Welt teilen. Wir können uns mitteilen und austauschen.

Plattformen triggern den sozialen Suchimpuls

Dies ist die zutiefst soziale Seite der sozialen Medien. Das ist gut und wichtig. Die meisten sozialen Medien sind aber privatwirtschaftliche Unternehmen, zumeist an Börsen notiert und somit auf Profitabilität ausgerichtet.

Und hier wird die Sache schwierig. Denn was auf der einen Seite eine verbindende, sozialstärkende, gesellschaftliche Wirkung hat, kann auch unheilige Kräfte entfalten. Unternehmen haben ihren legitimen Zweck, die Gewinne zu maximieren. Also monetarisieren sie den beschriebenen sozialen Suchimpuls, der die Menschen ins Netz zieht: Um mehr Werbe- und Anzeigenkontakte generieren zu können, gestalten sie das Umfeld und die Algorithmen so, dass die Nutzer möglichst lange auf ihrer Plattform verweilen. Und dies geschieht nicht nur mittels Informationen, sondern vor allem mit Emotionen. Je emotionaler und empörter die Nutzer sind, umso länger bleiben sie. Und Verweildauer ist die zentrale Währung in einem monetarisierten digitalen öffentlichen Raum. Wer zum Beispiel bei YouTube den »Autoplay« nicht ausschaltet, bekommt immer weiter auf seine Emotion und Empörung zugeschnittene Videobeiträge zu sehen, die allmählich immer extremer werden. Gerade auf die politische Meinungsbildung im Netz hat dies einen unseligen Einfluss.

Zur Hilfe kommt den Plattformen dabei gerade das soziale Bedürfnis, das Menschen zur Kommunikation zieht. Denn der soziale Suchimpuls öffnet auch Tür und Tor zu sozialer Nötigung. Mit der technischen Möglichkeit der ständigen Verbundenheit erwacht auch eine ganz archaische Urangst in uns: die schon beschriebene Furcht davor, alleine und zurückgelassen in der Waldlichtung aufzuwachen. Diese Urangst verbindet heute Jugendliche, die Sorge haben, die entscheidende WhatsApp-Nachricht zu verpassen, mit Arbeitskräften, die am Wochenende auf die E-Mails einer Vorgesetzten antworten. Beide haben Angst, abgehängt und vergessen zu werden. Das erklärt den starken Sog, der von sozialen und digitalen Medien ausgeht. Sich dem zu entziehen ist sehr schwer und gelingt umso besser, je souveräner und sicherer man in sich selbst ruht.

Wirtschaftsunternehmen sind ihren Aktionären verpflichtet und nicht einer mündigen, souveränen digitalen Öffentlichkeit, die sich auch entziehen kann. Nutzer, die sich im Sinne einer sicheren Bindung souverän dem digitalen Sog entziehen können, sind der Albtraum der privatwirtschaftlichen Plattformen. Um uns Nutzer auf den Plattformen zu halten, wird dieser Sog also verstärkt, indem die sozialen Ängste gezielt geschürt werden. »Während du weg warst, haben deine Freunde dies und das gemacht«, heißt es dann. Oder: »Das hast du verpasst, als du weg warst.« Oder auch in reinster Verlorener-Sohn-Metaphorik: »Kehre zu Facebook zurück!«

Wie nun können wir in diesem Umfeld einen guten Nährboden für einen gesunden und konstruktiven digitalen öffentlichen Raum schaffen?

Zum einen wäre es förderlich, mehr zivilgesellschaftliche Alternativen im digitalen Raum zu haben. Der digitale öffentliche Raum wird fast ausschließlich von großen Monopolisten beherrscht: Google, YouTube, Facebook, Amazon bestimmen derzeit, was digital öffentlich sichtbar werden darf. Allein Wikipedia ragt im Rang der meistgeklickten Websites als einzige nichtkommerzielle und werbefreie öffentliche Referenzquelle heraus.

Alternative soziale Plattformen, die nicht der Wirtschaftlichkeit, sondern dem Gemeinwohl verpflichtet sind, wären einer guten digitalen Gesellschaft sicher zuträglich. In der Pflicht sind da tatsächlich wir alle – die Gesellschaft, die sich darauf verständigen muss, was wir als Gemeingut definieren und als solches behandelt haben wollen. Warum nicht definieren, dass Kommunikation, Information und Wissen Gemeingut sein sollten?

Zum anderen lässt sich eine Instrumentalisierung des digitalen Kommunikationsraumes durch mündige Nutzer, die sich in diesem souverän und selbstbestimmt bewegen, eingrenzen. Das bedeutet, den sozialen Impuls und die eigenen Emotionen und Sehnsüchte durchaus ernst zu nehmen. Die Bildung neuer Gemeinschaften im Digitalen ist ein großer Schatz. Im-Gespräch-Bleiben und In-Verbindung-Sein schaffen Nähe und Vertrautheit und wirken gemeinschaftsbildend. Zugleich aber ist die Fähigkeit, sich entziehen und auch etwas verpassen zu können, eine zentrale digitale Kompetenz für eine Mediensouveränität.

Das Internet zwingt uns, erwachsen zu werden, auch ganz im Sinne der Bindung: Wir müssen uns einlassen können und uns auch wieder entziehen können, ohne uns vergessen oder ungeliebt zu fühlen.

Die Rückkehr der Mündlichkeit
Narration – Geschichten, die uns mit der Welt verbinden

Wir stehen auf einem französischen Flohmarkt und sehen uns ein silbernes Fischbesteck an. Die Dame erzählt uns, dass es aus dem alten Grand Hotel am Hafen des Nachbarortes stammt, das im vergangenen Jahr schließen musste. Wir halten das Fischmesser in der Hand, und vor unseren Augen sehen wir ein majestätisches Haus in verwittertem Granitgrau und erhabener Größe. Wir sehen eine Terrasse, auf der man den Fisch mit Blick auf den Hafen elegant mit Silberbesteck zerteilt, das Salz auf der Haut, das ferne Kreischen der Möwen im Ohr.

Was kaufen wir mit diesem Fischbesteck? Wir erwerben nicht nur das Silber. Mit der Sache kaufen wir auch die Geschichte. Wir eignen sie uns an, wir machen sie zu einem Teil unserer eigenen Geschichte. Wenn wir aus dem Urlaub wieder nach Hause fahren, gibt man auch dieser Geschichte ein Zuhause und lässt das Grand Hotel und das Meer bei sich weiterleben. Wir brauchen Geschichten, um uns mit der Welt zu verbinden.

Vor der Moderne, mit der das 20. Jahrhundert einsetzte, gab es noch große Geschichten und Kontexte, in denen man sich geborgen und zu Hause fühlen konnte. Auch wenn der Platz, den einem die Gesellschaft zuwies, nicht immer angenehm war, so hatte doch alles Bezug und Ordnung. Die Religion gab mit ihren strengen Kodizes Orientierung. Die mittelalterlichen Bildsymboliken waren allgemeingültig und für jedermann leicht zu entschlüsseln. Klassen ermöglichten der Gesellschaft eine horizontale Zuordnung, deren Mitglieder einander zugehörig waren. Die Klassen waren in einer vertikalen Achse übereinandergeschichtet. Arbeiter, Bürgertum, Adel, alles hatte seinen Platz und war doch aufeinander bezogen.

Der »tolle Mensch«, der 1882 in Friedrich Nietzsches »Fröhlicher Wissenschaft« mit einer Laterne durch die Gassen zieht, ruft sein viel zitiertes »Gott ist tot!«. Aber nicht – wie man meinen könnte – triumphierend. Im Gegenteil, klagend zieht er durch die Stadt, verzweifelt über den verloren gegangenen Zusammenhang: »Wohin ist Gott? […] Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! […] Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? […] Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? […] Giebt es noch ein Oben und ein Unten?«21

Ein verlässliches Oben und Unten gibt es nicht mehr, jeder muss sich in der modernen Welt mit seiner eigenen Laterne Licht und einen Reim auf die Welt machen.

Wie Nietzsches toller Mensch den Tod Gottes anruft, so konstatiert Jean-François Lyotard in seiner Studie »Das postmoderne Wissen« 1979 (also etwa hundert Jahre später) das Ende der »großen Erzählungen«. In der postmodernen Zeit ist der Mensch als Individuum auf sich selbst zurückgeworfen und muss sich mit eigenen kleinen Erzählungen über Wasser halten. Die Vielgestaltigkeit und Zersplitterung der Wahrheiten und Wissensinseln sind ein gutes Bild für unsere heutige digitale Wissensgesellschaft. Damals, 1979, zehn Jahre, bevor Tim Berners-Lee mit dem Hypertextprotokoll das World Wide Web erfand, schilderte Lyotard, dass diese vereinzelten Wissensinseln nur von mutigen Admiralen einzeln angesteuert werden können, dass es keinen »Metadiskurs« gibt, der alle Diskurse unter sich vereinen könnte. Der Admiral, der navigiert und zwischen Wissensinseln hin und her surft, war also schon da, bevor es das Internet gab.

»Wer braucht schon eine große Erzählung?«, mag man fragen. Aber die Sehnsucht nach Bindung, Verbundenheit, Zusammengehörigkeit ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wir wollen Teil einer Geschichte sein, uns einem Narrativ zugehörig fühlen. Das gibt uns Identität und Halt. Fehlt das, wird dieses Fehlen einer gesellschaftlich verankerten trost- und heimatgebenden Erzählung zu einer höchst politischen Sache mit größter Sprengkraft.

»I’m a character in it«, sagte mir stolz ein Bewohner eines französischen Dorfes, in dem jährlich Mittelalterfestspiele stattfinden. Innerhalb der Stadtmauern gehen alle auf eine Zeitreise in eine Epoche ohne Elektrizität und Autos. Die Einwohner kleiden sich alljährlich in Kostüme und schlüpfen in mittelalterliche Rollen. Mit bemerkenswertem Stolz berichten sie davon und man merkt: Das hat mit dem Mittelalter nichts zu tun. Was diese Menschen mit Stolz erfüllt, ist, eine Rolle zu spielen, Teil einer Geschichte zu sein und das Gefühl zu haben, dass das eigene Dasein zählt.

Viele Jugendprojekte funktionieren erfolgreich nach diesem Prinzip: In einem Sommerlager leben Kinder und Jugendliche in der Stadt im Kleinen, in der jeder über Wochen eine Aufgabe und Rolle bekommt: backen, Geld drucken, Lagerfeuer bewachen, lokale Presseberichte schreiben. Auch ansonsten sozial benachteiligte Menschen blühen bei solchen Projekten auf. Der Afrika-Cup wird – selbstorganisiert und in kleinem Maßstab – als »Coupe d’Afrique des Nations des quartiers« in einem Pariser Vorort nachgespielt, in dem die einzelnen Nationalmannschaften aus den multikulturellen quartiers abseits der Touristenviertel rekrutiert werden.

Wenn wir nach einer resilienten Gesellschaft fragen, müssen wir auch fragen: Spielen die Menschen darin eine Rolle? Welcher Geschichte können sie sich zugehörig fühlen? Was machen jene, die nicht Teil einer wettbewerbsorientierten Erfolgsgeschichte sein können? Welche Rolle bleibt für sie übrig? Zählen sie noch? Gibt es in der großen Erzählung eine Rolle für sie?

Das Bedürfnis der Menschen nach einem Narrativ, dem sie sich zugehörig fühlen, ist umso bedeutsamer, je weniger verlässliche Kontexte es gibt, je zersplitterter die Gesellschaft ist. Jeder extremen oder populistischen Gruppierung ist dies bewusst, und sie instrumentalisiert genau dieses Bedürfnis. Der Mechanismus ist, den Menschen Anschluss und Bindung an eine Geschichte zu geben – und dabei Verlierergeschichten in solche von Größe und Bedeutung zu verwandeln.

Die Menschen in Ostdeutschland haben nach der Wende Freiheit und Konsum bekommen, aber ihre eigene Geschichte verloren. Welche Rolle spielen sie nun in Gesamtdeutschland? Alle mussten sich selbst neue Rollen suchen. Manchen ist der Rollenwechsel gelungen, manchen nicht. Wem er gelungen ist, ist oft gen Westen gezogen und hat dort sein Glück gesucht. Die anderen blieben ohne Geschichte zurück.

Rechtspopulisten bieten den nicht Ausgewanderten, in Ostdeutschland Gebliebenen ein wohliges Narrativ, eine Identität, die man sich nicht erst mühsam selbst aufbauen und entwickeln muss. Sie ist bezugsfertig. Schon hat man Anschluss an etwas Großes, ist Teil von etwas Großem.

Marine Le Pen beschwört in Frankreich die »Grande Nation« und bietet Franzosen einen nationalen Traum von Größe. Auch die Salafisten rekrutieren ihre Anhänger, indem sie an genau dieses Bedürfnis und den Mangel anschließen: Sie bauen über soziale Netzwerke persönliche Bindungen auf und bieten ein Narrativ der Größe und Bedeutung. Diese radikalisierten jungen Menschen aus den sozial und wirtschaftlich abgehängten, von der großen gesellschaftlichen Erzählung ausgeschlossenen Vororten sprengen sich dann auf Europas Plätzen als Selbstmordattentäter in die Luft – und das für die Aussicht, zu unsterblichen, grandiosen, im Jenseits mit Glück und Jungfrauen belohnten Helden zu werden. Was ist das anderes als das Versprechen auf eine Hauptrolle in einer makabren Heldengeschichte?

Diese Mechanismen funktionieren umso besser, je mehr einer Gesellschaft gemeinschaftsstiftende Geschichten und Narrative fehlen oder abhandengekommen sind. Es ist, als gäbe es ein Identitätsvakuum, das danach ruft, gefüllt zu werden.

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