Kitabı oku: «Vermisst»

Yazı tipi:


Sam Hawken

Vermisst

Aus dem Amerikanischen von Karen Witthuhn

Herausgegeben von Wolfgang Franßen


Originaltitel: Missing

Copyright © 2014 Sam Hawken

First published in 2014 by Serpent’s Tail

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2020

Aus dem Amerikanischen von Karen Witthuhn

Mit einem Nachwort von Peter Henning

© 2020 Polar Verlag e.K., Stuttgart

www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Tobias Schumacher-Hernández

Umschlaggestaltung: Robert Neth, Britta Kuhlmann

Coverfoto: © Prod.Ali_Galvan/Adobe Stock

Autorenfoto: © Sam Hawken

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck, Deutschland

ISBN: 978-3-948392-02-4

eISBN: 978-3-948392-03-1

Für die Vermissten von Los Dos Laredos

Inhalt

Teil 1 JACK

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Teil 2 VERMISST

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Teil 3 PARTNER

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Teil 4 ENTFESSELT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

NACHWORT

»EIN MANN SIEHT ROT«

Teil 1

1

Als Jack Searle aufstand, zeigte sich gerade der erste rosafarbene Schimmer am Himmel über Laredo, Texas. Er verzichtete aufs Duschen, putzte sich aber die Zähne und betrachtete seine Bartstoppeln. Sein Goatee wurde langsam ein wenig struppig und war mit grauen Haaren durchsetzt, die er manchmal färbte. Heute Abend würde er den Bart wieder in Form bringen.

Sein Frühstück bestand aus Cornflakes mit Milch, gebuttertem Toast und Orangensaft. Speckstreifen wären nicht schlecht gewesen, aber der Arzt hatte ihn ermahnt, mit Salz zurückhaltend zu sein. Das Cholesterin sah auch nicht gut aus. Jack war siebenundfünfzig Jahre alt.

Er warf einen kurzen Blick in die Zimmer der Kinder. Beide Mädchen schliefen noch, daran würde sich vor zehn wahrscheinlich auch nichts ändern. Jack wachte selbst an seinen freien Tagen früh auf und konnte dann nicht liegen bleiben. Als Teenager hatte er wahrscheinlich ein paar Stunden länger geschlafen, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern.

Er zog die Haustür hinter sich zu und schloss ab. Draußen war es noch kühl. Im Vorbeigehen zupfte er ein paar Löwenzähne aus dem Rasen und warf sie auf die Einfahrt. Das Gras war genauso struppig wie sein Bart. Er würde sich am Wochenende darum kümmern.

Jack ging zu seinem Truck, ein Ford F-250, früher einmal weiß, inzwischen durch Dreck und Schrammen und Beulen ziemlich unansehnlich. Der kleine Mitsubishi Galant, der auch auf der Einfahrt stand, wirkte im Vergleich winzig. Jack bemerkte, dass sich der Marine-Corps-Aufkleber im Rückfenster zu lösen begann.

In der Nachbarschaft war kaum jemand so früh schon auf den Beinen. Jack kurbelte das Fenster herunter und ließ den Wind herein, im Radio dudelte etwas Soulig-Gemütliches.

Zwanzig Minuten später kam das große orange Schild des Baumarkts in Sichtweite. In Jacks Rücken ging die Sonne auf, aber noch waren die Straßenlaternen an. Trotzdem würden die Männer schon da sein, sie wachten noch früher auf als er und warteten manchmal den ganzen Tag dort.

Sie standen auf dem Parkplatz des Home Depot verteilt, einige eher an der Straße, andere beim Eingang, in Grüppchen oder alleine und beobachteten wachsam jedes sich nähernde Auto: Wurde es langsamer, war es die Polizei in Zivil? Jack sah, wie die Spannung stieg, als er auf den Parkplatz abbog, alle schienen sich gleichzeitig in Bewegung zu setzen, zogen einen Ring um den Truck.

Jack hatte niemand Besonderen im Sinn. Er hielt nicht an, denn dann würden sie über ihn herfallen, sondern fuhr langsam an den Männern vorbei und hielt Ausschau nach einem Gesicht mit dem besonderen Etwas darin. Nicht Hunger oder Verzweiflung, sondern die Gewissheit, dass ein Tag harter Arbeit am Abend guten Lohn bringen würde.

Nach ein, zwei Minuten hatte er den Richtigen gefunden und stoppte vor zwei Männern. Der eine rollte einen Kaffeebecher von Dunkin’ Donuts zwischen den Händen hin und her, als wollte er sie wärmen. Jack ließ das Fenster auf der Beifahrerseite herunter. »¿Busca trabajo?«, fragte er. Im Augenwinkel bekam er mit, dass sich weitere Männer dem Truck von hinten näherten. Bald würden sie ihn so dicht umringen, dass sich der Wagen nicht mehr bewegen ließe.

»Wir können arbeiten«, sagte der Mann mit dem Kaffeebecher. Er war spindeldürr, wie alle hier, das Gesicht so von Falten durchzogen, dass er genauso gut wettergegerbt wie alt sein konnte. Er trug eine schmutzige Kappe mit dem Texaco-Logo. »Wir beide zusammen?«

»Ich brauche nur einen. Wir müssen ein Badezimmer abreißen. Ich zahle acht Dollar die Stunde plus Mittagessen bei McDonald’s. ¿Suena bien?«

»Das ist gut«, sagte der Mann.

»Steig ein.«

Ein anderer erschien an Jacks Fenster. »Ich kann arbeiten«, sagte er.

»Ich habe, was ich brauche.«

»Ich arbeite billig«, beharrte der Mann.

»No, gracias. Ich habe, was ich brauche.«

Der Mann machte Anstalten, seine Hand auf Jacks Arm zu legen, zog sie aber weg, als er Jacks Miene sah. Andere drängten nach vorne, das Gemurmel wurde immer lauter.

»Das war’s«, sagte Jack. »Ich brauche bloß einen.«

Der Mann mit dem Kaffeebecher öffnete die hintere Tür der Fahrerkabine und stieg ein. Jack kurbelte die Fenster hoch, um weitere Diskussionen im Keim zu ersticken, und ließ den Motor aufheulen. Die Männer wichen zurück, Jack fuhr los.

»Danke«, sagte der Mann mit dem Kaffeebecher.

»Nicht nötig. Du suchst Arbeit, ich biete Arbeit. Alle sind zufrieden.«

»Ich bin Eugenio«, sagte der Mann.

»Freut mich.«

Jack verließ den Parkplatz und fädelte sich in den spärlichen Morgenverkehr ein. Im Radio lief ein gutes Lied, er drehte etwas lauter. Falls der Mann auf der Rückbank etwas dagegen einzuwenden hatte, behielt er es für sich.

2

Der Stadtteil, in den sie fuhren, war geprägt von Neubauten, die auf viel zu kleine Grundstücke mit fast identisch aussehenden Gartenwegen und breiten Einfahrten vor Doppelgaragen gepresst worden waren. Trotz der Hitze waren die Rasenflächen grün und perfekt geschnitten, anders als bei Jack. Er hätte wetten können, dass keiner der Hausbesitzer sich selber um seinen Garten kümmerte.

Er parkte den Truck am Straßenrand vor einem Sandsteinhaus mit einer großen Fensterfront. In dieser Gegend gab es keine Gehwege, trotzdem stand auf einer kleinen Veranda eine Hollywoodschaukel. Eine Veranda war dazu da, die Menschen zu beobachten, die vorbeikamen. Doch hier ging niemand zu Fuß.

In der Einfahrt stand ein noch leerer Schuttcontainer, eine große, blaue Metallkiste von knapp fünf Metern Länge.

Jack stieg aus und sagte Eugenio, er solle am Truck warten. Er ging zur Haustür und klingelte. Eine Latina in einer kurzärmeligen blauen Bluse öffnete. Die Haushälterin. Jack stellte sich vor, sie ließ die Tür offenstehen und verschwand im Haus.

Jack kehrte zum Truck zurück, öffnete die Ladekiste hinter der Fahrerkabine, gab Eugenio einen schweren Werkzeugkasten und griff selber nach einem langen Stemmeisen. Eugenio nahm auf seine Anweisung hin noch eine Rolle Plastikfolie von der Ladefläche, dann gingen sie zum Haus.

In der großen Eingangshalle hing ein Kronleuchter, eine geschwungene Treppe führte ins obere Stockwerk hinauf. Der Teppich war weiß und würde leicht verschmutzen. Das Badezimmer lag oben, am Ende des Flurs.

»Roll hinter mir das Plastik aus«, sagte Jack zu Eugenio. »Hast du verstanden?«

»Ich verstehe.«

»Okay, dann folge mir.«

Sie gingen die Treppe hoch, und Eugenio spulte die Rolle hinter sich ab. Am Kopf der Treppe zog Jack sein Klappmesser heraus und schnitt das Plastik ab, um einen neuen Streifen im Flur zu verlegen. Bis zum Badezimmer, das vom Schlafzimmer abging, verbrauchten sie gute zehn Meter. Am Ziel schnitt Jack das Plastik wieder ab.

»Ich bringe das zum Truck zurück«, sagte Eugenio.

»Gute Idee. Da liegt auch eine Plane, bring die mit, aber stell erst das Werkzeug da drüben hin.«

Jack sah sich im Badezimmer um. Wie alles im Haus war es zu groß, es verfügte sowohl über eine Dusche als auch eine Badewanne. Die eine Hälfte sah immer noch nagelneu aus, die andere war bereits bis zur Trockenmauer abgerissen worden. Im Boden fehlten Fliesen. Am großen Spiegel über den beiden Waschbecken klebte eine dünne Staubschicht.

Mr. Leek, der Kunde, war Rechtsanwalt. Jack verstand nicht, warum der Mann ein völlig intaktes Badezimmer herausreißen wollte. Er hatte damit angefangen und den Job nicht zu Ende gebracht. Alles funktionierte noch – die Toilettenspülung, die Wasserhähne –, aber es sah aus, als wäre im Bad eine Bombe explodiert. Es würde noch schlimmer werden, bevor es wieder besser wurde.

Leek wollte eine neue Wanne und eine neue Duschkabine und neue Waschbecken und eine neue Toilette. Der verstaubte Spiegel war ungefähr das Einzige, das bleiben sollte. Jack hatte mit dem Anwalt zwei Tage lang Kataloge gewälzt, Armaturen ausgewählt, Wandfliesen und neue Lampen. Leek hatte genaue Vorstellungen, und Jack mischte sich nicht ein. Sein Job war es, den Traum wahr zu machen, seine Meinung behielt er für sich.

»Was machen wir zuerst?«, fragte Eugenio, als er zurück war. Er hatte seine dünne Jacke ausgezogen, die Kappe in die hintere Hosentasche gesteckt, sein Blick war aufmerksam. Ja, er war eine gute Wahl gewesen.

»Als Erstes klopfen wir die restlichen Fliesen von der Wand«, sagte Jack. »Danach reißen wir die Wanne raus.«

Sie legten die Plane aus, dann verteilte Jack das Werkzeug. Er fing am Fenster an, Eugenio bei den Waschbecken.

»Kümmer dich nicht um die Trockenwand. Die kommt raus, wir machen Zementplatten rein«, sagte Jack. »Wirf einfach alles in die Badewanne.«

Sie machten sich ans Werk, das Klopfen und Hämmern übertönte alles. Die sauberen, weißen Fliesen zerbrachen und lösten sich stückweise, darunter kam eine glatte graue Fläche zum Vorschein. Jack warf die Scherben in die Wanne, wo sie weiter zersplitterten. Der Abriss eines Badezimmers war einfache, mechanische Arbeit. Es war immer leichter, Dinge kaputtzumachen. Bis zum Mittagessen würden sie mit diesem Teil fertig sein.

Der Geruch von Staub stieg ihnen in die Nase. Sie atmeten ein und machten weiter.

3

Die Fliesen waren schneller abgeklopft als erwartet. Jack sagte der Haushälterin, die in der Küche die Arbeitsflächen schrubbte, dass sie jetzt schon Mittagspause machen und eine Weile weg sein würden. Im Truck verströmten die beiden Männer den Geruch von Arbeit.

Jack fuhr mit Eugenio zu einem McDonald’s, jeder holte sich einen Big Mac mit Fritten und eine Cola, dann parkten sie in einer Ecke des Parkplatzes in der prallen Sonne, ließen die Fenster herunter und aßen. Sie waren kurz vor dem Mittagsansturm gekommen, jetzt stauten sich die Autos vor dem Drive-in. Wenn der Rest des Tages auch so reibungslos lief, konnten sie vielleicht etwas früher Feierabend machen, aber Jack würde Eugenio in jedem Fall für acht Stunden bezahlen. Dieser Auftrag würde sie noch eine Weile beschäftigen, sie mussten sich nicht schon am ersten Tag verausgaben.

Jack bemerkte, dass Eugenio einen einsamen Baum betrachtete, der eingepfercht auf einem schmalen Grasstreifen am Rand des Parkplatzes stand. Der Baum machte einen traurigen, verwelkten Eindruck. Irgendwie überlebte er. »Eugenio«, sagte Jack, »woher kommst du?«

»Ich?«

»Ja. Wenn ich das fragen darf.«

»Anáhuac«, sagte Eugenio.

Jack nickte. »Kenne ich. Westlich von Nuevo Laredo, stimmt’s?«

»

»Das ist nicht weit. Fährst du manchmal hin?«

»Nicht oft, señor

»Du brauchst nicht señor zu mir zu sagen. Jack reicht.«

»Okay.«

Jack hätte gerne mehr erfahren, spürte aber Eugenios Anspannung, steif saß er auf der Rückbank. Jack steckte die leere Big-Mac-Packung in die Papiertüte und knüllte alles zusammen. Der Müll landete in einer Plastiktüte, die hinter dem Fahrersitz an einem Haken hing. Jack mutete dem Wagen viel zu, hielt aber die Fahrerkabine sauber. »Ich frage nicht aus einem bestimmten Grund«, sagte er. »Nur zum Reden.«

»Está bien«, sagte Eugenio.

Jack sah auf die Uhr. Es war Zeit.

Sie arbeiteten bis zum Abend, dann brachte Jack Eugenio zurück zum Home Depot. Die Männer vom Morgen waren alle verschwunden, der Parkplatz voll besetzt mit Kundenautos. Ein Mann schob einen Karren mit etwa fünfzig Kilo Holz zu seinem Truck.

»Danke«, sagte Eugenio.

»Wenn du morgen wieder hier bist, arbeiten wir weiter, okay?«

»Morgen«, sagte Eugenio.

Er stieg aus dem Wagen, Jack fuhr los. Als er einen Blick in den Rückspiegel warf, hatte sich Eugenio bereits abgewandt.

4

Als Jack nach Hause kam, war der Galant aus der Einfahrt verschwunden. Er parkte so, dass für das kleine Auto Platz blieb, und stieg aus dem Truck. Ein paar Kinder spielten auf der Straße Basketball, den Korb hatten sie auf dem Gehweg aufgestellt. Das Geschrei drang bis zu ihm herüber.

Noch tat ihm nichts weh, das konnte morgen anders sein. Jack spürte, dass sein Rücken und die Arme vom Abklopfen der Fliesen und Bücken und Heben langsam steif wurden. Früher hatten ihm solche Tage nichts ausgemacht, er hatte eine Woche durcharbeiten können und nichts davon gemerkt.

Er trat ins Haus, seine Schlüssel landeten in der Glasschüssel neben der Tür. Im Wohnzimmer lief der Fernseher, irgendeine Spielshow. Jack hielt an der Tür inne, Lidia lag mit dem Handy am Ohr lang ausgestreckt auf dem Sofa, telefonierte mit irgendwem und verfolgte mit einem Auge die Sendung. Sie war dreizehn, telefonieren oder simsen war ihr liebstes Hobby.

»Hi«, sagte Jack.

»Hi, Jack.« Lidia legte die Hand aufs Telefon. »Du bist früh zu Hause.«

»Nein, genau pünktlich. Wo ist deine Schwester?«

»Bei Ginny. Sie sagt, zum Abendessen ist sie wieder da.«

»Okay. Ich geh duschen.«

Im Gehen hörte er Lidia sagen: »Alles okay, das war nur mein Stiefvater.«

Im Schlafzimmer zog er die Arbeitsklamotten aus und warf sie in den Wäschekorb, dann betrat er das kleine angeschlossene Badezimmer. Hier war weniger Platz als bei den Leeks, eine Wanne gab es nicht, nur eine Duschkabine mit Milchglas und Armaturen, die zu rosten begonnen hatten. Eigentlich hätte er das ganze Ding vor ein, zwei Jahren ersetzen wollen, war aber nie dazu gekommen. Wenigstens tropfte nichts.

Jack blieb länger in der Dusche als sonst und genoss die Wärme. Dann wickelte er sich ein Handtuch um die Hüften und stellte sich vor den Spiegel am Waschbecken. Er strich sich Rasierschaum ins Gesicht, machte den sprießenden Schnurrbarthaaren den Garaus und brachte mit einer kleinen Schere den Goatee wieder in Form. Das Rasierwasser brannte auf der Haut.

Er zog Shorts und ein löchriges T-Shirt an und ging in die Küche. Da es noch zu früh war, um das Abendessen vorzubereiten, holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank, setzte sich an den Tisch und schaute durch die Schiebetür in den Hinterhof hinaus, auf den Maschendrahtzaun und die quadratische Terrasse mit dem Betonboden. Vor Jahren hatte er überlegt, dort für Lidia eine Schaukel aufzustellen, aber da war sie schon zu alt für solche Sachen gewesen, und Marina sowieso. Er hätte die beiden gerne schon als kleine Kinder gekannt.

Alles war still, niemand kam durch die Haustür und in die Küche gewuselt. Etwa um diese Uhrzeit wäre Vilma nach ihrer Zwölf-Stunden-Schicht im Krankenhaus nach Hause gekommen. Sie hätte Jack umarmt, ihm einen Kuss gegeben und gefragt, wie sein Tag gewesen war. Auch heute noch wartete Jack auf das Geräusch von Vilmas Galant in der Einfahrt, aber jetzt kündigte es an, dass Marina nach Hause kam, nicht ihre Mutter.

Jack trank sein Bier aus und steckte die Flasche zum Recyceln in eine Papiertüte. Er stellte eine große Bratpfanne auf den Herd, holte ein Kilo Rinderhack aus dem Kühlschrank und krümelte es in die heiße Pfanne. Es zischte, der Duft von gebratenem Fleisch breitete sich aus.

Der Hamburger Helper köchelte auch schon, als Jack Marina nach Hause kommen und das Klimpern ihrer Schlüssel in der Glasschüssel hörte. »Hey, Marina«, rief er.

»Hey, Jack«, kam es zurück.

»Noch zehn Minuten, okay?«

»Zehn Minuten.«

Lidia erschien in der Küche, das Handy immer noch ans Ohr geklebt, und kramte im Kühlschrank herum. »Ist noch Erdbeerlimo da?«, fragte sie.

»Ist alle. Mit wem redest du da? Hör auf zu telefonieren und deck den Tisch.«

Lidia verdrehte die Augen und verschwand. Jack dachte, sie würde nicht zurückkommen, aber eine Minute später tauchte sie wieder auf, das Handy steckte jetzt in ihrer Hosentasche. »Ich war gerade mitten im Gespräch«, sagte sie.

»Du kannst nach dem Abendessen zurückrufen. Außerdem verplemperst du dein Guthaben.«

»Das Guthaben ist billig.«

»Du bezahlst es ja nicht.«

»Was für einen Helper hast du heute genommen?«

»Beef Pasta.«

»Igitt.«

»Du wirst es überleben.«

Lidia deckte für drei und stellte eine Zwei-Liter-Flasche Sprite auf den Tisch. Jack behielt sowohl die Pfanne im Auge, damit nichts überkochte, als auch Lidia. Er wünschte sich, Lidia wäre mehr wie Vilma, aber sie sah ihr nur wenig ähnlich, sie kam nach ihrem Vater, wie Vilma immer gesagt hatte. Jack hatte nur ein paar Fotos von ihm gesehen und konnte nicht viel dazu sagen.

Marina kam, als das Essen auf dem Tisch stand. Sie war ein hochgewachsenes, schlankes Mädchen mit den gleichen dunklen Haaren und der braunen Haut wie ihre Schwester, aber im Gesicht und manchmal auch in den Bewegungen Vilma viel ähnlicher. Sie berührte Jacks Arm. Es war das Gleiche wie eine Umarmung. »Was riecht so gut?«, fragte sie.

»Das Übliche.«

»Ich liebe das Übliche!«

Jack nahm die Pfanne vom Herd. »Du machst dich lustig.«

»Vielleicht ein bisschen.«

»Na, setz dich und lass uns essen.«

Er verteilte das Essen direkt aus der Pfanne auf die Teller. Lidia zog die Nase kraus, aber als Jack sich setzte, kaute sie bereits. Das Tischgebet sprachen sie seit fünf Jahren nicht mehr. Das war Vilmas Angewohnheit gewesen.

Zunächst aßen sie schweigend. Jack stellte überrascht fest, wie hungrig er war. »Wie geht’s Ginny?«, fragte er schließlich.

»Gut«, sagte Marina. »Sie fährt nächste Woche nach Padre Island.«

»Mit ihren Eltern?«

»Ja, ich glaub schon. Sie wollte wissen, ob wir auch wegfahren.«

Jack runzelte die Stirn. »Ich habe einen Auftrag.«

»Das hab ich ihr gesagt.«

»Ihr Vater arbeitet in einem Büro, oder?«

»In einer Bank.«

»Ist das Gleiche. Bezahlter Urlaub. Mir zahlt niemand was, wenn ich Urlaub mache.«

»Ist nicht schlimm«, sagte Marina und schaute auf ihren Teller hinab.

»Vielleicht können wir irgendwohin fahren, wenn du den Job fertig hast«, sagte Lidia.

Jack kaute, aber das Essen schmeckte ihm nicht mehr. Er spülte den Bissen mit Sprite herunter. »Das dauert noch ein paar Wochen«, sagte er. »Wenn ich fertig bin, fängt die Schule wieder an. Aber wisst ihr was: Nächstes Frühjahr fahren wir zusammen weg. Übers Wochenende. Oder vielleicht ein paar Tage länger.«

»Schon gut«, sagte Lidia. Jack wusste, dass es das nicht war.

Sie schwiegen wieder. »Ich weiß noch, wie wir damals in Tampico waren. Erinnert ihr euch?«, fragte Jack.

Lidia nickte. Sie stocherte in ihrem Essen herum.

»Das war ein schöner Ausflug«, sagte Jack und dachte an die Fahrt, den Strand und das schöne Hotel mit dem großen Swimmingpool. Vilma hatte so gesund ausgesehen. Niemand hatte irgendetwas geahnt.

»Das war gut«, stimmt Lidia zu.

»Ja, wirklich.«

»Ich bin satt«, sagte Lidia.

»Wie kannst du satt sein? Dein Teller ist noch halb voll.«

»Ich bin wirklich satt, Jack.«

Jack seufzte. »Okay. Tu den Rest zurück in die Pfanne, ja? Man muss ja nichts verschwenden.«

Lidia tat es und stellte den Teller ins Spülbecken. Sie verschwand aus der Küche, kurz darauf hörte Jack sie wieder telefonieren.

Marina sah ihn an. »Tut mir leid, dass ich es angesprochen habe.«

»Was? Nein, du kannst über alles reden. Ist doch schön, dass Ginnys Familie an die Küste fahren kann. Du weißt, wie schwierig es ist, im Sommer wegzukommen. Alle wollen die Bauarbeiten erledigt haben, solange es warm ist.«

»Ich weiß.« Marina legte ihre Hand auf Jacks. »Wie gesagt, ist nicht schlimm.«

Jack hatte noch etwas zu essen auf seinem Teller, aber keinen Appetit mehr. Er stand auf und kratzte den Rest in die Pfanne. »Ich fahre mit euch weg, sobald es geht«, sagte er. »Ich will nicht immer Nein sagen müssen.«

»Jack –«

»Ja, ich weiß: Ist nicht schlimm. Es ist eben so, dass ich Geld verdienen muss, solange die Sonne scheint. Im Winter gibt’s dann nur noch kleine Reparaturen, und wir müssen von dem leben, was ich jetzt verdiene.«

»Soll ich dir beim Abräumen helfen?«

»Ja, gern.«

Er schaute zu, während Marina die Essensreste in Plastikschalen portionierte und sie in den Kühlschrank stellte. Es war einer der Momente, in denen er ihre Mutter in ihr sehen konnte, sie packte an, ohne viel Aufhebens zu machen. Jack ließ heißes Wasser ein und gab Spülmittel dazu. Er wusch ab, Marina trocknete.

»Ich hab gedacht, ich könnte mir vielleicht einen Job suchen«, sagte sie.

»Was für einen?«

»Keine Ahnung. Irgendwas in Teilzeit.«

»Es ist im Moment nicht leicht, was zu finden.«

»Ich könnte mich umsehen. Dann bräuchtest du mir kein Taschengeld mehr zu geben.«

Die Teller und Gläser und die Pfanne waren sauber. Jack ließ das Wasser ab. »Du musst nicht arbeiten. Wir verhungern schon nicht.«

»Ich weiß. Aber Ginny hat einen Job in dem Schmuckladen in der Mall, vielleicht kann ich da nach der Schule auch ein paar Stunden arbeiten. Das wäre doch was.«

Jack nickte. »Einverstanden. Aber die Schule geht vor.«

»Klar.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er roch ihren sauberen Duft, ganz anders als der antiseptische Geruch, mit dem Vilma immer von der Schicht gekommen war. Er konnte sich Marina gut als Krankenschwester vorstellen.

»Ich meine es ernst«, sagte er. »Die Noten.«

»Darum brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Danke, Jack.« Sie wandte sich zum Gehen.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte er.

»Ich gehe in mein Zimmer. Falls du mich brauchst, ich lasse die Tür offen.«

»Wenigstens verschleuderst du nicht dein ganzes Handyguthaben.«

»Telefonieren ist billig.«

Er sah ihr nach, dann holte er sich ein weiteres Bier aus dem Kühlschrank. Ein drittes würde es nicht geben. Zwei waren das absolute Limit. Er setzte sich an den Tisch und sah die Sonne hinter den Dächern gegenüber verschwinden. Es würde lange dämmern, und er würde im Bett sein, wenn es noch hell war.

Lidia rief etwas im Nebenzimmer. Jack trank sein Bier. Am anderen Ende des langen Flurs, der das Haus teilte, stand Marinas Tür offen, und Jack konnte sehen, dass sie am Schreibtisch vor dem Computer saß und tippte. Alle waren beschäftigt.

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