Kitabı oku: «Der letzte Überlebende», sayfa 3

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Będzin und seine Umgebung.

Ich hatte keine Ahnung, was „Großdeutschland“ sein sollte, ich verstand auch nicht, was Hitlers Idee vom „Lebensraum“ für sein Volk bedeutete. Er war ein Vertreter einer Geopolitik, die darauf hinauslief, dass alle Regionen, in denen Deutsche lebten, auch Teil des Deutschen Reiches sein sollten. Und jetzt muss man sich nur eine Karte meines Landes ansehen, wie es sich darstellte, als ich dreizehn Jahre alt war. Der Versailler Vertrag von 1919 hatte den Polnischen Korridor geschaffen, einen Streifen, der zum Danziger Freihafen an der Ostsee führte und unser einziger Zugang zum Seehandel war. Hitler hatte zu Oberst Józef Beck, dem polnischen Außenminister, gesagt, Danzig sei deutsch, werde immer deutsch bleiben und früher oder später Teil des Deutschen Reichs sein. Östlich von Danzig lag Ostpreußen, Teil des Deutschen Reichs seit 1871. Hitler erklärte, es sei ein Unrecht, dass Ostpreußen durch eine fremde Macht vom Mutterland abgetrennt sei. Die Lösung des Problems? Ganz einfach: den Korridor schließen und Ostpreußen ins Reich integrieren. Würden die Polen dem widersprechen? Natürlich. Also musste man ihr Land besetzen. Und fertig.

All das wusste ich nicht, und ich hatte auch keine Ahnung von dem Hass, den Hitler gegen das jüdische Volk hegte. Ich wusste nur, dass an diesem Sonntag und Montag die Flüchtlinge durch unsere Stadt zogen, mit Wagen, Hunden, Kindern – das reinste Chaos.

Und natürlich fiel die Schule aus. Ob ich jubelte und herumhüpfte? Ich weiß es nicht mehr. Wenn ich darüber nachgedacht hätte, wäre ich wohl zu dem Schluss gekommen, dass die erste Konstante in meinem Leben bereits weggebrochen war. Die Schule ist eine Säule, eine sichere Institution der Kindheit, mindestens so übermächtig wie Familie und Glaube. Sie ist nicht nur ein Ort, an dem wir uns Wissen aneignen, sie ist ein Ort, an dem wir den Umgang mit der Außenwelt lernen. Die Schule des Herrn Rapaport machte nicht wieder auf, solange ich in Będzin blieb. So endete meine Schulausbildung abrupt.

Am Montag, dem 4. September, waren sie da. Das verrückteste, aber hartnäckigste Gerücht hatte gelautet, die Briten und Franzosen würden ihre Armeen schicken, um uns zu retten. Niemand, schon gar nicht ein Kind von dreizehn Jahren, fragte nach, ob das denn möglich sei. Wie sollten sie hierherkommen, und dann auch noch so schnell? Tatsächlich hatte in Großbritannien Neville Chamberlain seine berühmte Verlautbarung am Sonntagvormittag um elf Uhr an sein Volk herausgegeben. Erst um fünf Uhr am Nachmittag folgten die Franzosen. Es würde nie britische oder französische Truppen in Polen geben, aber das konnten wir damals nicht wissen.

Nördlich von uns war die Lodzer Armee mehrmals geschlagen worden. Reichenau hatte die Warthe erreicht, List marschierte auf Krakau zu. Bis Montag war er 80 Kilometer weit vorgedrungen. Aber in diesen Septembertagen waren Gerüchte, nicht Fakten die gängige Währung in Będzin. Die Briten und Franzosen waren auf dem Weg zu uns, hieß es. Wir waren begeistert. Die Leute lachten und plapperten vor sich hin. Frauen und Mädchen sammelten in diesem heißen, trockenen Sommer Blumen, um sie unseren Rettern zuzuwerfen und die mutigen Männer zu begrüßen. Wir warteten an der Hauptstraße, zitternd vor Aufregung, und lauschten kurz nach Mittag auf das Grollen schwerer Fahrzeuge, die sich von Westen her näherten. Jubel wurde laut, die Leute weiter unten an der Straße mussten sie schon sehen können, die rot-weiß-blauen Flaggen.

Das Erste, was ich sah, waren dunkle Motorräder mit Beiwagen. Die Fahrer trugen tief heruntergezogene Stahlhelme und graugrüne Uniformen, die Waffen hatten sie um die Schulter gehängt. Sie waren schmutzig nach all den Stunden auf der Straße, der Staub des Sommers lag wie eine dichte Schicht auf ihren Handschuhen und Schutzbrillen. Sie bewegten sich langsam und schauten sich wachsam um. Harte Männer mit harten Gesichtern. Hinter ihnen folgten grau lackierte Lastwagen mit krachenden Getrieben und ratternden Ladeflächen. Alle diese Wagen waren bis an den Rand mit Soldaten besetzt, die bis an die Zähne bewaffnet waren und uns grimmig ansahen. Zwischen den Lastwagen fuhren Geschützwagen mit Maschinengewehren und Kanonen. Das Gesicht des totalen Krieges.

Die Stimmung änderte sich. Die Blumen ließen ihre Köpfe hängen, der Jubel verstummte. Auch die Gespräche hörten auf, das Lächeln gefror auf furchtsamen Gesichtern. Ich stand bei ein paar jüdischen Flüchtlingen aus Düsseldorf, die zwei Jahre zuvor in unser Haus eingezogen waren. Sie waren vor der Verfolgung durch die Nazis geflohen, als Hitlers rassistisches Netz sich immer dichter um die Menschen zog. Ich erinnere mich nicht an die Namen, aber die Mutter sprach schließlich aus, was wir alle dachten: „Das sind keine Franzosen oder Briten. Das sind deutsche Soldaten.“

Ihre Worte waren wie ein Startsignal für die Menge. Die Leute verteilten sich, nahmen die Blumen mit oder warfen sie verächtlich auf die Straße. Die meisten wollten einfach nur schnell nach Hause. Nach Hause, die Türen verriegeln, die Fenster zuhängen. Und überlegen, was zu tun war. Ich ging nicht nach Hause. Die Wehrmacht faszinierte mich ebenso wie die Bomber zwei Tage zuvor. Ich verstand es damals nicht und kann es bis heute nicht richtig erklären. In der riesigen Menge von Soldaten, die in unsere Stadt einzogen, befand sich ein offener Lastwagen. Die Fahrer waren Deutsche, aber auf der Ladefläche waren Männer in polnischen Uniformen. Sie lachten und machten Witze, als wäre es ganz normal und natürlich, in einem Fahrzeug des Feindes mitzufahren. Ich hätte sie mir genauer ansehen sollen, um festzustellen, ob sie Waffen trugen. Wenn nicht, waren es vielleicht Kriegsgefangene. Wenn ja, warum waren sie dann so guter Stimmung? Wenn es Deutsche waren, weshalb trugen sie polnische Uniformen? Tagelang wurde darüber geredet, aber wir fanden keine Antwort. Vermutlich handelte es sich um sogenannte Volksdeutsche, also Polen deutscher Abstammung, die die Invasoren mit offenen Armen begrüßten. Einer von ihnen war ein kleiner, dicker Mann, den ich kannte, der Kapellmeister unseres Ortsregiments. Er trug die Schulterklappen eines Hauptmanns und hatte in unserer Schule gelegentlich Musikunterricht gegeben. Er nahm nie an Kämpfen teil und verließ Będzin auch nicht, soweit ich mich erinnere. Aber ich weiß bis heute nicht, was eigentlich mit ihm geschah, und so geht es mir mit vielen Begebenheiten aus den nächsten sechs Jahren.

Als ich irgendwann doch nach Hause kam, herrschte dort eine Art Belagerungszustand. Wir waren jetzt in der gleichen misslichen Lage wie die Flüchtlinge, die wir in der Stadt gesehen hatten. Jetzt war unser Zuhause von den Deutschen umzingelt. Aber wenn wir wegliefen, selbst wenn wir all unsere Habe auf einen Wagen packten – Vaters Nähmaschine, Nathans tolles Fahrrad, meine Schlittschuhe, all unseren Besitz –, wohin sollten wir uns wenden? An diesem Montagabend blieben wir im Haus, wagten uns höchstens einmal auf den Hof, aber nicht auf die Straße. Überall fuhren Lastwagen durch die Dunkelheit, Megafon-Stimmen bellten verzerrte Befehle, immer wieder kam die Aufforderung, dass alle in ihren Häusern bleiben sollten – sonst würde geschossen. Wir taten, wie man uns befahl, hörten das Grollen der Lastwagen und gelegentlich auch Gewehr- oder Pistolenschüsse.

Ich kann nach so langer Zeit und allem, was noch geschah, gar nicht mehr in Worte fassen, wie ich mich fühlte. Natürlich hatte ich Angst, wer hätte keine gehabt? Ich war wie alle in meiner Umgebung als treuer Pole erzogen worden, wir hatten in der Schule jeden Morgen für den Präsidenten gebetet, ebenso wie mein Großvater wohl für den russischen Zaren gebetet hatte. Damals war mir nicht klar, dass die polnische Regierung nicht viel für die Juden übrig hatte. Zwei Jahre vor dem Einmarsch der Deutschen hatte es in einigen polnischen Städten antisemitische Ausschreitungen gegeben, die fast schon an Pogrome grenzten. Die Erwachsenen hatten wohl Déja-vu-Erlebnisse. Immer wieder waren Juden Opfer von Verfolgung gewesen. Wir waren aus unzähligen europäischen Ländern ausgewiesen worden, mussten weiterziehen, uns eine neue Heimat suchen. „Ihr habt kein Recht, unter uns zu leben.“

Wenn ich bisher so etwas wie Antisemitismus wahrgenommen hatte, dann höchstens in den Tagen nach Ostern. Ansonsten spielte ich das ganze Jahr mit Nicht-Juden wie mit Juden, darunter Jurek und die Gutsek-Brüder. Aber um Ostern herum gab es immer Schlägereien, weil uns dann die Christen beschuldigten, wir hätten Jesus Christus ermordet. Andererseits gab es auch sonst gelegentlich Schlägereien: wegen eines Fouls beim Fußball, einer gehässigen Bemerkung … Wenn der Krieg nicht gekommen wäre, hätten wir uns vermutlich in den nächsten Jahren irgendwann um die Mädchen geprügelt. Am nächsten Tag war alles vorbei und vergessen. Man trug die Platzwunden und Blutergüsse mit Stolz und vergaß das Ganze. Die einzigen Schwierigkeiten, die ich mitbekam – Nathan erzählte manchmal davon –, gab es, wenn die Nicht-Juden ein Fußballspiel verloren. Die Streitereien wurden allerdings immer von Auswärtigen vom Zaun gebrochen. Bis zu diesem September hatte es in Będzin nie ein Pogrom gegeben.

Würde es so bleiben? Und wenn nicht, konnten wir Juden einfach weiterziehen, wie wir es immer getan hatten, und eine neue Zuflucht finden? Wo würden wir schließlich einen neuen Garten Eden finden?

An die nächsten Tage erinnere ich mich nur noch wie durch einen Nebelschleier. Im übrigen Polen, so erfuhr ich später, wurde die Armee noch weiter zurückgedrängt, sodass wir isoliert und ohne Verteidigung waren. Am 6. September nahm Lists 14. Armee Krakau ein, die polnische Regierung verließ Warschau. Die polnische Armee war erschöpft, hoffnungslos in der Unterzahl und fast überall besiegt. Sie wurde auf eine Linie entlang den Flüssen Weichsel, Narew und San zurückbeordert. Einen Tag später musste sie sich sogar bis zum Fluss Bug zurückziehen.

Inzwischen galt unsere erste Sorge den Lebensmitteln. Es gab wohl irgendwie die Möglichkeit, Lebensmittel einzukaufen, aber die Ausgangssperre war nach wie vor in Kraft, und ab einer bestimmten Uhrzeit bewegten sich nur Deutsche auf den Straßen. Von neunzehn Uhr bis acht Uhr am nächsten Morgen mussten wir im Haus bleiben. In Będzin hatte es keine Kämpfe gegeben, es gab keine Ruinen und keine Mauerreste wie in so vielen anderen europäischen Städten in diesen Monaten. Aber überall waren Soldaten, die meisten in den graugrünen Wehrmachtsuniformen. Einige trugen Ketten um den Hals, das Zeichen der Militärpolizei. An Samstag nach dem Einmarsch – immer noch sprach niemand davon, zur Synagoge zu gehen – veränderten sich die Uniformen. Jetzt sah man häufiger die blaugrünen Jacken der Zivilpolizei, und bald kamen auch Männer in hellbraunen Jacken mit rot-schwarz-weißen Armbinden mit dem Hakenkreuz dazu: Parteibürokraten der Nazis, die ins Rathaus und andere offizielle Gebäude einzogen und ihre Aktenschränke, Schreibmaschinen und Papiere mitbrachten. Eine der vielen Eigenheiten, die ich in den folgenden Jahren über die Nazis erfahren sollte, war ihre Detailversessenheit. Alles wurde mit dreifachem Durchschlag geschrieben, weitergeleitet und abgeheftet. Sie waren stolz auf ihre Leistungen. Aber was mich am meisten alarmierte, war die Tatsache, dass auch die Stadtpolizei von Będzin wieder zu sehen war. Entweder waren viele Volksdeutsche unter den Beamten, oder sie machten mit, um zu überleben.

Fast unmittelbar nach den ersten Tagen begannen auch die Razzien. Männer wurden von den Soldaten „eingesammelt“, vor allem die orthodoxen Juden mit ihrer schwarzen Kleidung, den Schläfenlocken und langen Bärten. Sie wurden auf Plätzen und an Straßenecken zusammengetrieben und aus der Stadt gebracht, hinaus zu den Fabriken, die bei den Luftangriffen der vergangenen Woche zerbombt worden waren. Dort bekamen sie den Befehl, Blindgänger zu suchen, die noch einmal eingesetzt werden konnten. Die Männer waren für diese gefährliche Arbeit nicht ausgebildet und hatten auch keine Schutzausrüstung. Im Grunde waren sie nur menschliche Minensuchgeräte – sie waren ja entbehrlich. Wenn ein Blindgänger hochging und ein paar Juden in Stücke zerrissen oder schwer verletzt wurden, kein Problem.

Sehr genau erinnere ich mich an Freitag, den 8. September. An diesem Tag kamen die Einsatztruppen, wie man sie nannte. Wir kannten den Namen nicht und hatten auch keine Vorstellung, mit welchem Auftrag sie kamen. Die meisten sahen aus wie Polizisten in einer Art Kampfanzug. Andere trugen Wehrmachtsuniformen, allerdings mit schwarzen Schulterklappen und Blitzen an den Kragenspiegeln. Auf dem Ärmel trugen sie einen Adler. Sie kamen mit der üblichen bunten Mischung aus Motorrädern, Lastwagen und Geländewagen. Es handelte sich um Exekutionskommandos, vom Oberkommando der Nazis dazu ausgesucht, mein Volk systematisch anzugreifen. Heute weiß ich, dass die Einheit, mit der wir es zu tun bekamen, von SS-Obergruppenführer Udo von Woyrsch befehligt wurde, einem schlesischen Adligen, der schon seit Jahren Mitglied der NSDAP war. Seine Einsatzgruppe umfasste etwa zweitausend Männer in einer besonderen Zusammensetzung, die typisch für diese Einheiten war. Sie waren alle Mitglieder des Sicherheitsdienstes, bestehend aus verschiedenen Polizeiabteilungen wie Gestapo, Kripo und Ordo. Unter dem Oberbefehl von Heinrich Himmler, dem Reichsführer der SS, verbreiteten sie Angst und Schrecken in der Gegend um Kattowitz. Ihr Einsatz war der Beginn dessen, was die Welt später als den Holocaust kennenlernen sollte.

An diesem Nachmittag blieb ich im Haus, weil man sonst nirgendwo in Sicherheit war. Von Zeit zu Zeit hörten wir Schüsse in den Straßen der Stadt. Und dann, am Spätnachmittag, kam der Brandgeruch. Er unterschied sich von dem der brennenden Fabriken in der Woche zuvor. Ich wollte herausfinden, was da los war, aber meine Eltern ließen mich natürlich nicht gehen. Die Tage, an denen ich in vollkommener Sicherheit einen Ball durch die Straßen kicken konnte, waren vorbei. Meine Mutter hielt ihre Kinder bei sich. Als es dämmerte, schlich ich mich trotzdem aus der Wohnung und kletterte auf das Dach eines Schuppens, der sich an eine hohe Mauer lehnte. Der Himmel glühte rot, der schwarze Rauch stieg in den lilafarbenen Abend. Die große Synagoge brannte, das Symbol meines Volkes stand in Flammen. Die Balken krachten schon und brachen in sich zusammen. Und das am Sabbat, dem Tag des Herrn.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort blieb, auf Zehenspitzen stehend und wie gebannt von dem Anblick. Keine Feuerwehr eilte herbei, das Feuer breitete sich auf die Häuser rund um die Synagoge aus, lauter jüdische Geschäfte, jüdische Wohnhäuser. Erst als Hendla nach mir rief, riss ich mich los. Die Pivniks waren an diesem Wochenende alle zu Hause und drängten sich zusammen, während die Welt um sie herum in Stücke brach.

Am Montagmorgen fassten wir Mut hinauszugehen. Wir hatten wohl auch nicht mehr viel zu essen im Haus, also musste es sein. Der Anblick, der sich uns bot, war unvorstellbar. Das ganze Wochenende über hatten die Einsatztruppen ihren Auftrag ausgeführt, und die Ergebnisse waren überall zu sehen. Leichen lagen in den Straßen, verkrampft im Todeskampf, ihr Blut als bräunliches Rinnsal am Straßenrand. Ich hatte noch nie einen Toten gesehen, und dies waren ja Menschen, die ich kannte: Nachbarn und Freunde unserer Familie, die noch vor ein paar Tagen ihrer Arbeit nachgegangen waren, ohne sich – glaube ich jedenfalls – irgendwelche Sorgen zu machen. Die meisten waren ältere Juden, die man leicht an ihrer frommen traditionellen Kleidung und ihren Hüten erkennen konnte – leichte Opfer für die Gewehrkolben und -kugeln der Einsatztruppen. Es wäre ein tröstlicher Gedanke, wenn man sich einbilden könnte, dass diese Männer einen schnellen Tod starben, aber so ist es wohl nicht gewesen. Man hat sie gequält, gedemütigt und geschlagen, zu Boden getreten und erschossen, als sie schon auf dem Boden lagen. Die Verletzungen in ihren blauschwarzen Gesichtern legten deutlich Zeugnis davon ab. Und es waren nicht nur Alte und Orthodoxe, die dort lagen. Es waren auch jüngere Leute beiderlei Geschlechts, sogar Kinder in meinem Alter, die an diesem Wochenende willkürlich von den Nazis erschossen worden waren. Wir hatten die Schüsse ja gehört.

Der schlimmste Anblick jedoch waren die Juden, die auf dem Hauptplatz von den Bäumen hingen. Männer in schwarzen Mänteln, die aussahen wie entsetzliche Parodien von Weihnachtsschmuck. Ich erinnere mich noch an den Anblick der baumelnden Hände und Füße, die Körper dem Wetter ausgesetzt. Ich habe sie nicht gezählt, und niemand von uns schaute zu genau hin. Wir wollten die Einsatztruppen ja nicht reizen. Gott weiß, wie viele Menschen an jenem Wochenende in Będzin starben. Und es waren nicht nur Juden.

Zum Teil fanden wohl einfach willkürliche Erschießungen statt. Jemand suchte zwischen den Häusern Deckung, jemand schaute nach seiner Familie. Nach Freunden. Andere Morde waren offenbar geplant. In Będzin wie in jeder anderen polnischen Stadt lebten Intellektuelle, es gab nationalistische Gruppierungen, rechte und linke. Lauter Menschen, die vor dem September 1939 eine klare Meinung dazu gehabt hatten, in welche Richtung sich die polnische Politik bewegen sollte. Wir wissen heute, warum man es auf diese Leute abgesehen hatte. Sie waren potenzielle Unruhestifter, und irgendjemand in der Stadt muss mit dem Finger auf sie gezeigt haben, sonst hätten die Einsatztruppen ja nicht gewusst, an welche Türen sie klopfen mussten. Die Leute wurden aus ihren Häusern gezerrt, in langen Reihen an den Stadtrand geführt und erschossen. So lauteten jedenfalls die Gerüchte, und nach dem, was ich am Montag in den Straßen rund um die Modrzejowska sah, zweifelte ich nicht daran.

Innerhalb von sieben Tagen war die Welt, die wir kannten, verstanden und liebten, verschwunden. Ich sah die Verwirrung in den Augen meines Vaters. Wenn es in der Vergangenheit Schwierigkeiten gegeben hatte, war er immer in die Synagoge gegangen, zum Rabbi, um mit den anderen Ältesten zu sprechen und Gott um seine Führung zu bitten. Jetzt war die Synagoge nur noch eine schwelende Ruine, und viele der Ältesten lagen tot in den Straßen.

Die Historiker streiten sich bis heute darüber, wie viele Menschen an diesem Wochenende starben. Abgesehen von denen, die in ihren Häusern verbrannten, schätzt man die Zahl auf etwa hundert Männer, Frauen und Kinder, davon vielleicht achtzig Juden. Mir schienen es damals viel mehr zu sein. Aber war nicht jeder einzelne Mensch schon einer zu viel?

Die Pivniks hielten stoisch zusammen. Viel schlimmer konnte es ja wohl nicht mehr kommen, dachten wir.

3
Besatzung

Unsere Schule war geschlossen, die Synagoge bis auf die Grundmauern heruntergebrannt. Mein Vater war kein kleiner Geschäftsmann mehr, der stolz auf seine Fähigkeiten als Schneider und seinen Status in der Gemeinde sein konnte. Er war arbeitslos wie alle anderen und gab ein potenzielles Ziel für die uniformierten Schurken ab, die durch unsere Straßen zogen.

Wir alle mussten uns an eine neue Lebensweise anpassen, irgendwie damit zurechtkommen. Wir konnten ja nicht wissen, dass unser altes Leben auf immer verloren war. Gerüchte aus dem Osten erreichten uns, und die Geschichtsbücher bestätigen es heute: Am 17. September marschierte die Rote Armee in Polen ein. Wir hatten nur achtzehn Bataillone am Fluss Bug stehen, unsere gesamten Streitkräfte befanden sich im Westen und versuchten verzweifelt, die Wehrmacht aufzuhalten. Polen war wie eine Nuss zwischen den Kiefern eines Nussknackers eingeklemmt. Am nächsten Tag wurden der Präsident und der Oberbefehlshaber unserer Streitkräfte in Haft genommen. Beide forderten die Truppen zur Fortsetzung des Kampfes auf.

Die 23. Leichte Artillerie war längst verschwunden; wir sahen sie nie wieder. Wir Juden wussten, wie man sich bei kleinen Scharmützeln wegen eines Fußballspiels oder um Ostern herum wehrte, aber diese Situation war ganz anders. Wir waren Zivilisten, und so schwer es uns immer gefallen war, uns daran zu halten, hatte unser Rabbi uns doch stets gelehrt, die andere Wange hinzuhalten. Adolf Hitler und Josef Stalin jedoch hatten die Lehren des Rabbis außer Kraft gesetzt. Sie hatten Millionen von Menschen zum Tode verurteilt.

Offiziell – auch wenn wir den Namen nie benutzten – wurde Będzin zu Bendsburg im deutschen Gau Oberschlesien. Unsere christlichen Nachbarn in der Stadt standen vor einer schwierigen Entscheidung. Diejenigen mit deutschen Vorfahren konnten ihre Anerkennung als Volksdeutsche beantragen. Das bedeutete, sie waren mindestens schon mal zur Hälfte arisch. Alle anderen wurden vertrieben und bekamen den Befehl, ihr Hab und Gut auf dem Rücken oder auf Karren und Wagen mitzunehmen und sich in dem Gebiet anzusiedeln, das die Deutschen als Generalgouvernement bezeichneten. Hans Frank, Hitlers Anwalt, wurde zum Verantwortlichen für dieses Gebiet ernannt. Er erklärte im Radio, Polen würde wie eine Kolonie behandelt und die Polen würden zu Sklaven des Großdeutschen Reiches. Zu dieser Zeit besaßen die Menschen in Będzin immerhin noch Radios. Sein Hauptquartier befand sich in Krakau, aber seine Fangarme erreichten uns alle. Juden konnten natürlich keine deutschen Staatsbürger werden, sondern unterlagen jetzt den Nürnberger Rassegesetzen, die schon seit vier Jahren auf die deutschen Juden angewandt wurden.

Juden durften keine freien Berufe mehr ausüben. Rapaport und andere jüdische Lehrer verloren ihre Stellen. Wir konnten nicht in die Armee eintreten, selbst wenn wir es gewollt hätten – allerdings stand unsere Armee irgendwo am Bug ohnehin kurz vor dem Zusammenbruch, und niemand kam ja auf die Idee, sich der Wehrmacht anzuschließen. Universitäten konnte man vergessen. Kluge Jungen in meiner Schule bekamen keine Ausbildung mehr – genau wie ich. Von diesem September an und noch lange Zeit litt Polen unter dem Verlust einer ganzen Generation von Intellektuellen.

Zusammen mit zahllosen weiteren Kleingewerbetreibenden wurde mein Vater zum Lohnsklaven – und die Löhne waren erbärmlich. Deutsche Zivilisten kauften die jüdischen Geschäfte zu lächerlichen Preisen. Sie brachten ihre eigenen arischen Angestellten mit, und wenn sie überhaupt jüdische Angestellte weiter beschäftigten, dann mit einem niedrigeren Status als zuvor. Es gab keine Gratifikationen mehr und die Löhne waren sehr niedrig. Ich erinnere mich, dass ich wohl im Oktober in der Werkstatt meines Vaters stand und allmählich begriff, was vor sich ging. Uniformierte Beamte waren in unseren Hof marschiert, wo Nathan und ich ein bisschen Fußball spielten. Sie hatten meinem Vater die Scheren, das Garn, die Nähmaschine und die Stoffballen abgenommen. Und natürlich gab es keine Aufträge mehr. Die meisten polnischen Beamten waren fort, und obwohl ich nie genau darüber nachgedacht habe, muss es wohl so gewesen sein, dass auch einige von Onkel Moyshes Armeekunden im nahe gelegenen Szopienice tot waren.

Es dauerte noch ein halbes Jahr, bis Alfred Rossner nach Będzin kam. Bis dahin ging es uns einigermaßen gut. Rossner sah seltsam aus; ihm fehlten einige Zähne, und er hatte einen Hüftschaden. Was wir nicht wussten, war, dass er Bluter war und Glück gehabt hatte, überhaupt noch am Leben zu sein. Er wurde zum sogenannten Treuhänder ernannt und betrieb zwei Kleiderfabriken im Auftrag der SS. Einer seiner leitenden Angestellten war Arje Ferleizer, ein Jude, der einmal Rossners Chef gewesen war und 1938 aus Deutschland geflohen war, um der Verfolgung zu entgehen. Ironie des Schicksals, dass sie sich in Będzin wieder trafen.

Hendla und mein Vater arbeiteten für Rossner, genau wie fast zehntausend Juden, die er bis 1943 beschäftigte. Damals wussten wir gar nicht zu schätzen, was für ein gefährliches Spiel Rossner in unserem Interesse spielte. Anders als der berühmtere Oskar Schindler war Rossner kein unabhängiger Geschäftsmann, sondern Angestellter der SS, und entsprechend beschränkt waren seine Möglichkeiten, Juden zu helfen. Immerhin wurden mein Vater und Hendla als Facharbeiter eingestellt und als „kriegswichtig“ eingestuft. Sie bekamen Sonderausweise, spezielle blaue Kennkarten, die sie zumindest theoretisch vor der Willkür der SS schützten. Wir wussten damals nichts davon, aber dank dieser Pässe konnten wir zumindest für kurze Zeit als Familie zusammenbleiben. Alfred Rossner, der Nazibeamte schmierte, hohe SS-Leute mit ganz besonderen Uniformen versorgte und ihre Frauen in die neueste Mode der Vierzigerjahre kleidete, hielt mit all seinem Tun auch die Pivniks am Leben.

Für mich war es nicht so leicht, Arbeit zu finden. Vater war Schneidermeister, und Hendla mit ihren achtzehn Jahren war eine geschickte Näherin, aber ich war letztlich ein kleiner Junge ohne Ausbildung. Das bisschen Nähen, was ich hinbekam, war nichts im Vergleich zu Rossners Leuten. Aber dann hatte ich doch Glück. Ich hatte Pferde immer schon gern gehabt, und ein Tier, das ich immer wieder streichelte und tätschelte, gehörte einem jüdischen Lieferanten namens Dombek. Jetzt pflegte und fütterte ich also dieses Pferd und half Dombek beim Möbeltransport, machte Botengänge für ihn, half beim Heben und Schleppen. Ich weiß nicht mehr, wie viel ich dafür bekam – wahrscheinlich nur ein Taschengeld aber es war mein erster Lohn, und ich war stolz, etwas zum Haushaltseinkommen beizutragen.

Das alles änderte sich allerdings Anfang der Vierzigerjahre. Inzwischen hatte ich Arbeit in einer Möbelfabrik gefunden, die einem Mann namens Killov gehörte und von Herrn Häuber verwaltet wurde. Beide Männer gehörten zu den freundlicheren Deutschen, aber nicht annähernd so wie Rossner. In der Fabrik wurden Möbel und hölzerne Transportkisten hergestellt, und die Arbeiter waren nach Juden und Nicht-Juden aufgeteilt. Ich war mit der Fertigung schwerer Kisten aus Buchenholz beschäftigt. Sie wurden für den Transport der 500-Kilo-Bomben benutzt, die die Dornier- und Heinkel-Flugzeuge über Europas Städten abwarfen. Ende 1940 hatten wir keine Ahnung, was im Rest der Welt vor sich ging. Inzwischen hatte man uns die Radios abgenommen, und so weit es uns betraf, war Post ein Ding der Vergangenheit. Mein Vater bat mich zu erwähnen, dass ich noch einen älteren Bruder hatte, der ebenfalls Arbeit suchte. Da Dombek jetzt niemanden mehr hatte, der ihm mit den Pferden half, arbeitete Nathan für ihn.

Wenn das überhaupt möglich war, dann liebte Nathan Dombeks Pferde noch mehr als ich. Er kümmerte sich um zwei der Tiere, bis irgendwann ein Wagen an der Steigung zum Bahnhof wegrutschte und ihm über den Fuß fuhr. Außerdem hob er sich wenig später einen Bruch, und damit war es ihm nicht mehr möglich, für Dombek zu arbeiten.

Meine Zeit in der Fabrik war surreal. Es fühlte sich an, als wären wir alle Teile einer Maschine. Wir Juden bekamen natürlich weniger Lohn als die Nicht-Juden, und mit ihrer typischen teutonischen Besessenheit zogen die Deutschen uns auch noch Steuern und Sozialabgaben von unserem Wochenlohn ab. Diese Abzüge stiegen noch, als „Beiträge“ zur sogenannten Winterhilfe eingezogen wurden, eine Sondersteuer, mit der warme Kleidung für die Truppen an der bitterkalten Ostfront finanziert wurde.

Ein wichtiger Faktor meiner Arbeit in der Killov-Fabrik war das Essen – eine Konstante, die immer wichtiger wurde, während sich alles andere um uns herum auflöste. Mittags gab es Suppe oder Eintopf und vor allem eine Dreiviertelstunde Pause. Da ich noch jung war, möglicherweise sogar der jüngste Arbeiter dort, war ich Herrn Häuber aufgefallen, und er entwickelte ein väterliches Interesse an mir. Er ließ mich Besorgungen erledigen, und am Anfang, bevor die Bestimmungen aus Berlin strenger wurden, durfte ich sogar seine kleine Tochter morgens zur Schule bringen. Nathan ging es ähnlich. Die Tochter ging auf die Fürstenbergschule für Nicht-Juden, die auch nach dem Einmarsch der Deutschen noch in Betrieb war. Wenn ich zu Herrn Häuber nach Hause kam – manchmal fuhr ich ihn in der Mittagspause mit seiner zweispännigen Kutsche dorthin –, schenkte mir Frau Häuber etwas Essen für meine Familie. Ich würde jetzt gern behaupten, dass es sich um Marmelade, einen Laib Brot, Wurst, Tee, Zucker oder Butter handelte … aber all das hatte es nur im Garten Eden gegeben, und der gehörte der Vergangenheit an. Trotzdem waren auch Gemüse und Kartoffeln in unserer Situation sehr willkommen. Chana war erst sieben, und Wolf und Josek sogar noch kleiner. Selbst Majer war erst elf Jahre alt, und in einer Stadt, in der Arbeit rar war, konnte er noch nichts dazuverdienen.

Die Fabrik hatte allerdings auch ihre Schattenseiten. Killov und Häuber waren freundlich, aber ihre Untergebenen waren es leider nicht. Der Beamte, der uns jeden Tag hinein- und wieder hinausließ, war ein überzeugter Nazi und verachtete uns zutiefst. Er war ein Widerling mit nur einem Arm, der immer einen antisemitischen Spruch auf den Lippen hatte. Und oft genug zog er uns auch am Ohr, wenn er in der entsprechenden Stimmung war. Niemand beklagte sich, niemand unternahm etwas dagegen, nicht zuletzt, weil die meisten Polen die Anerkennung als Volksdeutsche beantragt hatten. Das war vielleicht am schwersten zu ertragen: Freunde und Nachbarn starrten uns mit kaum verhohlenem Hass an und waren froh, wenn sie nicht mit uns in derselben Werkstatt arbeiten mussten. Als Himmlers üble Rassenpolitik durch Waffen, Hunde und volles Kriegsrecht verschärft wurde, wechselten entsetzlich viele Leute blitzschnell die Seiten.

Außerhalb der Fabrik wurde das Leben täglich schwerer. Läden und Firmen eröffneten in den Wochen nach dem Einmarsch bald wieder, aber jetzt wurden sie natürlich von Deutschen oder zumindest von polnischen Volksdeutschen geleitet, und Juden durften sie gar nicht mehr betreten. Wir waren also auf bestimmte Stadtviertel beschränkt und konnten nur noch in wenigen Läden einkaufen. Dort bildeten sich die unvermeidlichen Schlangen, wie sie zum Symbol des Kriegsalltags in ganz Europa werden sollten. Vor allem Frauen und Kinder standen stundenlang im strömenden Regen oder scharfen Wind, um wenigstens ein bisschen Brot zu ergattern. Gerade deshalb war die Killov-Suppe so lebenswichtig: So bekamen Nathan und ich wenigstens einmal am Tag eine anständige Mahlzeit. Ich wusste, unsere Eltern mussten auf so etwas verzichten, damit wenigstens die Kleinen genug zu essen hatten.

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25 mayıs 2021
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