Kitabı oku: «Push»

Yazı tipi:
Roman
ins Deutsche übertragen von Gunter Blank
Edel Elements
 
Und bist du einer, dem die heilgen Formen
Der jungen Kraft der Imagination
Das Herz noch rein erhielten, dann, o Freund!
Sei fürderhin gewarnt; und wisse, daß
Der Stolz, sei er auch noch so sehr verkleidet
In die ihm eigne Majestät, nichts ist
Als Unbedeutendheit; daß, wer nur ein
Lebendiges Geschöpf verachtet, Kräfte,
Die er besitzt, noch nicht zum Einsatz brachte,
Und daß bei ihm das Denkvermögen noch
Im frühen Kindheitsstadium verharrt.
Der Mensch, der seine Augen stets nur auf
Sich selbst gerichtet hält, sieht nichts als eines
Der armseligsten Werke der Natur,
Ein Wesen, dem der Weise mit Verachtung
Begegnen würde, gälte nicht Verachtung
Dem echten Weisen als ein großes Unrecht.
Sei du verständiger! Du hast gelernt,
Daß wahres Wissen uns zur Liebe führt.
 
William Wordsworth
 
Jeder Grashalm hat einen Engel,
der sich über ihn beugt und flüstert:
«Wachse, wachse.»
 
Der Talmud

EINS

Als ich zwölf war, bin ich sitzengeblieben, weil mein Vater mir n Baby gemacht hat. Das war 1983. Ein Jahr bin ich nich zur Schule gegangen. Dass jetzt mein zweites Baby. Meine erste Tochter is Mongolin. Sie is zurückgeblieben. Ich bin auch schon inner zweiten Klasse sitzengeblieben, da war ich sieben, weil ich nich lesen konnte (und immer noch inne Hose gemacht hab). Ich müsst inner elften sein und inne zwölfte kommen, damit ich n Abschluss machen kann. Bin ich aber nich. Ich bin inner neunten.

Ich bin vom Unterricht ausgeschlossen worden, weil ich schwanger bin. Was, find ich, nich fair is. Ich hab nix gemacht!

Ich heisse Claireece Precious Jones. Weiss nich, warum ich euch das erzähl. Vielleicht, weil ich nich genau weiss, wie weit ich mit dieser Geschichte komm, obs überhaupt ne Geschichte is, oder warum ich eigentlich rede; ob ichs von Anfang an erzähl oder mit heute anfang oder was in zwei Wochen is. Klar, wenn du redest oder schreibst, kannst alles machen, nich wie wenn du lebst, wo du nur machen kannst, was du machst. Manche Leute erzählen dir was, und es stimmt gar nich oder macht kein Sinn. Aber ich will versuchen, dass alles stimmt und Sinn macht, sonst kann mans doch gleich vergessen. Gibts nich schon genug Lügen und Scheiss auffer Welt?

Also, okay, heute is heute. Donnerstag, der dreiundzwanzigste September 1987, und ich geh grade den Gang runter. Gut seh ich aus, und riechen tu ich auch gut – frischgewaschen und sauber. Heiss isses, aber ich zieh meine Lederjacke nich aus, obwohls heiss is, sie könnt sonst wegkommen oder geklaut werden. Altweibersommer, sagt Mr. Wicher. Weiss nich, wieso er so was sagt. Wasser meint, is, dasses heiss is, über dreissig Grad, wie im Sommer. Und wir haben keine, ich meine null, absolut null Klimaanlage in dem gottverdammten Bau. Der Bau, von dem ich spreche, is natürlich LS. 146, die Junior Highschool. Hundertvierunddreissigste zwischen Lenox Avenue und Adam Clayton Powell Boulevard. Ich geh also den Gang runter vom Aufenthaltsraum zum Grundkurs Matte. Wozu die so Quatsch wie Grundkurs Matte brauchen, keine Ahnung. Vielleicht, damit mans hinter sich hat. Eigentlich is Matte nich so schlimm, wie ich dachte. Ich setz mich einfach in Mr. Wichers Klasse. Wir haben keine festen Plätze. In Mr. Wichers Klasse können wir sitzen, wo wir wollen. Sitz immer auffem selben Platz, ganz hinten, letzte Reihe direkt neben der Tür. Auch wenn ich weiss, dass die immer abgeschlossen is. Ich meld mich nich, er ruft mich nich auf. Nich mehr. Am ersten Tag hat er gesagt, «Schlagt eure Bücher auf, Seite 122.» Ich rühr mich nich. Er sagt, «Precious Jones, ich habe gesagt, schlagt Seite 122 auf.» Ich sag, «Bin nich taub, Mr. Wichser!» Die ganze Klasse lacht. Er wird ganz rot. Er klatscht mitter Hand auf sein Buch und sagt, «Reisst euch zusammen.» Ers n kleiner dünner Weisser, grad vielleicht einsfünfundsechzig. Ne arme Mehlnase, wie meine Mutter sagen würd. Ich kuck ihn an und sag, «Ich kanns auch klatschen lassen. Wollen wers klatschen lassen?» Und nehm mein Buch und lasses voll auffen Tisch klatschen. Die Klasse lacht lauter. Er sagt, «Precious Jones, ich muss dich bitten, auf der Stelle den Raum zu verlassen.» Ich sag, «Bevors nich klingelt, geh ich nirgendwo hin, Sie Wichser. Ich bin hier, damit ich Matte lern, und zwar von Ihnen.» Er kuckt wie n Flittchen, was grad von nem Dutzend Macker durchgefickt worden is. Weiss nich, wasser machen soll. Versucht sich zusammenzureissen, will cool sein und sagt, «Gut, wenn du was lernen willst, dann beruhig dich.» – «Ich bin ruhig», sag ich ihm. Er sagt, «Wenn du was lernen willst, dann sei still und schlag dein Buch auf.» Sein Gesicht is ganz rot, und er zittert. Ich lass gut sein. Hab gewonnen. Schätz ich.

Ich wollt ihn gar nich vorführen oder verletzen. Aber er soll nich, niemand soll merken, dass Seite 122 für mich aussieht wie Seite 152, 22, 3, 6, 5 – alle Seiten sehn gleich aus für mich. Und ich will wirklich was lernen. Jeden Tag sag ich mir, heut passiert was, so was wie inner Glotze. Ich fang an durchzublicken, oder jemand blickt durch mich durch – ich lern was, hol auf, bin normal und setz mich in die vorderste Reihe. Aber heut is wieder nich der Tag.

Aber der erste Tag, von dem ich euch erzähl. Heut is also nich der erste Tag, und wie gesagt war ich auffem Weg in Mattekurs, als Mrs. Lichenstein mich im Gang abfängt und in ihr Büro zieht. Bin echt sauer, weil ich Matte wirklich mag, auch wenn ich nix mach, noch nich mal mein Buch aufschlag und nur fünfzig Minuten rumsitz. Ich mach kein Ärger. Im Gegenteil. Wenn paar von den andern Homies dumm rumquatschen, hau ich dazwischen. Ich sag, «Halts Maul, ihr Säcke, ich will was lernen.» Erst lachen sie, wollen, dass ich Mr. Wicher verarsche und den Unterricht stör. Dann steh ich auf und sag, «Halts Maul, ihr Säcke, ich will was lernen.» Die blöden Eierkohlen kucken dumm ausser Wäsche. Mr. Wicher kuckt dumm ausser Wäsche. Ich bin nämlich gross, einssiebenundsiebzig-achtundsiebzig, und wieg über neunzig Kilo. Die haben Schiss vor mir. «He Kohlenkopp», sag ich zu nem Knaben, der aufgesprungen is, «setz dich und hampel nich rum.» Mr. Wicher kuckt blöd, aber dankbar. Ich bin für Mr. Wicher so was wie seine Polizei. Sorg für Recht und Ordnung. Ich mag ihn und stell mir vor, wir sind verheiratet und wohnen in Wesschesser, wo immer das liegt.

Ich sehs an sein Augen, dass Mr. Wicher mich auch mag. Würd ihm gern sagen, dass für mich alle Seiten gleich aussehn, aber ich kanns nich. Ich krieg trotzdem ziemlich gute Noten. Eigentlich immer. Will bloss schleunigst raus ausser verdammten LS. 146, auf die Highschool und mein Abschluss machen.

Egal, jetzt bin ich in Mrs. Lichensteins Büro. Sie kuckt mich an, ich kuck sie an. Ich sag nix. Endlich sagt sie, «Nun Claireece, wir kriegen also Zuwachs.» Aber sie sagts nich wie ne Frage, sie sagts, wie wenn ich nich Bescheid wüsste. Ich sag immer noch nix. Sie sitzt hinter ihrem breiten Holzpult, hat die Hände auffer Platte gefaltet und glotzt mich an.

«Claireece.»

Alle nennen mich Precious. Ich hab drei Namen – Claireece Precious Jones. Nur Wichser, die ich hasse, nennen mich Claireece.

«Wie alt bist du, Claireece?»

Die weisse Votze hat meine Akte vor sich liegen. Seh ich doch. Bin doch nich belämmert. Die Schlampe weiss, wie alt ich bin.

«Sechzehn ist, ähh», sie räuspert sich, «ziemlich, äh, alt für die Junior Highschool.»

Ich sag immer noch nix. Wenn die so schlau is, soll sie sich ihr Maul fusslig reden.

«Nun komm schon, Claireece, du bist schwanger, Claireece, nicht wahr?»

Jetzt fragt die Alte. Grade hat sies noch genau gewusst.

«Claireece?»

Jetzt versucht sies auf die sanfte Tour.

«Claireece, ich rede mit dir.»

Ich sag immer noch nix. Die Nutte bringt mich um mein Mattekurs. Ich geh gern in Mattekurs. Mr. Wicher siehts gern, wenn ich da bin und die grölenden Nigger in Schach halt. Ers nett, hat jeden Tag n coolen Anzug an. Der läuft nich rum inner Schule wie n Feudel, wie die andern Lehrer.

«Will nich noch mehr von meinem Mattekurs verpassen», sag ich zu Mrs. Arschgesicht.

Sie glotzt mich an, als hätt ich gesagt, ich wollt nem Hund ein blasen. Was hat sie bloss, die Schlabbervotze. (Das sagt meine Mutter zu Frauen, die sie nich ab kann, Schlabbervotze. Ich kapier irgendwie, was sie damit meint, und irgendwie doch nich ganz, aber wie sichs anhört, gefällts mir, also sag ichs auch.)

Ich steh auf, aber Mrs. Lichenstein sagt, ich soll mich hinsetzen, sies noch nich fertig mit mir. Aber ich bin fertig mit ihr, das kapiert sie einfach nich.

«Ist das nicht dein zweites Baby?» sagt sie. Ich frag mich, was sonst noch in der Akte steht, wo mein Name drauf is. Ich hasse sie.

«Du und deine Mutter solltet zu mir in die Sprechstunde kommen.»

«Wegen was?» frag ich. «Ich hab nix gemacht. Ich mach meine Aufgaben. Ich hab keine Probleme. Meine Noten sind gut.»

Mrs. Lichenstein glotzt mich an, als würd ich drei Arme haben und ausser Möse stinken.

Was hat meine Mutter damit zu tun, will ich fragen. Was hat die damit zu tun? Sags aber nich. Sag bloss: «Meine Mutter hat zu tun.»

«Nun, vielleicht könnte ich es einrichten, zu dir nach Hause zu kommen …»

Mein Gesicht muss ihr gelangt haben, und ich hätt ihr eine gelangt, wenn sie noch ein Ton gesagt hätt. Zu mir nach Hause kommen! Naseweisse Schlampe! Wir kommen ja auch nich zu dir nach Wesschesser oder wo Clowns wie du wohnen. Mann, mir reichts, ich hab genug gehört, die weisse Schlampe will mich besuchen kommen.

«Nun dann, Claireece, fürchte ich, muss ich dich vom Unterricht ausschliessen …»

«Wegen was!»

«Du bist schwanger …»

«Dass kein Grund, jemand auszuschliessen! Ich kenn meine Rechte!»

«Dein Benehmen, Claireece, ist überaus unkooperativ …»

Ich hab übers Pult gelangt und wollt ihren fetten Arsch übern Tisch ziehn. Sie wollt mir ausweichen, is nach hinten geflogen und hat angefangen, «WACHSCHUTZ WACHSCHUTZ!» zu brüllen.

Vor der Tür, auffer Strasse, hab ich immer noch gehört, wie das Arschgesicht gebrüllt hat: «WACHSCHUTZ WACHSCHUTZ!»

«Precious!» Dass jetzt meine Mutter, die nach mir ruft.

Ich sag nix. Sie hat mein Bauch angeglotzt. Ich weiss, was kommt. Ich wasch weiter ab. Wir hatten Brathühnchen, Kartoffelmus mit Sosse, grüne Bohnen und Weissbrot zum Abendessen. Weiss nich, in welchem Monat ich bin. Hab keine Lust, hier rumzustehen und mir anzuhören, wie Mama mich ne Schlampe nennt. Brüllt und schreit mich den ganzen Tag an, wie beim letzten Mal. Schlampe! Fettes Flittchen. Was denkst dir eigentlich! Wer! Wär! Wäääär! Wie die Ziege in dem Märchenfilm, den ich mal gesehn hab. Wäääär? Du willst wissen, wer …

«Claireece Precious Jones! Ich red mit dir!»

Ich geb immer noch keine Antwort. Letztes Mal, als ich schwanger war, hab ich auch an diesem Spülbecken gestanden. Als der Schmerz zugetreten hat. Wupp! Ahh Wupp! Hab ich noch nie erlebt, so was. Meine Stirn is klatschnass vor Schweiss, der Schmerz brennt in mir wie Feuer. Bin bloss dagestanden, als der Schmerz zugetreten hat. Dann hat sich der Schmerz gesetzt, dann isser wieder hochgesprungen und hat wieder zugetreten. Und sie steht da und brüllt mich an, «Schlampe! Gottverdammte Schlampe! Du verfickte Sau! Ich fasses nich – direkt vor meiner Nase. Treibts direkt vor meiner Nase.» Wieder tritt mich der Schmerz. Dann tritt sie mich. Ich lieg auffem Boden und stöhn, «Mami bitte, Mami bitte, bitte Mami, Mami! Mami! MAMI!» Dann TRITT sie mir gegen Kopf! «Nutte! Nutte!» brüllt sie. Dann donnert Miz West von nebenan gegen die Tür und brüllt, «Mary! Mary! Spinnst du! Du bringst das Kind ja um! Sie braucht Hilfe, Mary, keine Prügel. Bist noch ganz bei Trost!»

Mama sagt, «Die hätt mir sagen müssen, dass sie schwanger ist!»

«Himmel, Mary, du hasts nich gewusst? Ich habs gewusst. Das ganze Haus hats gewusst. Bist du wahnsinnig …»

«Sag du mir nich, wie ich mein Kind aufzieh …»

Miz West schreit «Hilfe! Polizei! 911! 911!» Sie nennt Mama ne Irre.

Der Schmerz marschiert jetzt. Trampelt einfach auf mir rum. Ich seh und hör nix mehr, schrei bloss noch «Mami! Mami!»

Männer, Notarzt-Männer, hab nich gesehen, wie sie reingekommen sind, gehört auch nich. Ich mach die Augen auf, und da isser. Hispano im Notarzt-Kittel. Schiebt mich auffen Kissen. Hab mich ganz zusammengerollt vor Schmerzen. «Entspann dich», sagt er. Der Schmerz sticht mich mit Messern, und der Spic redet von entspannen!

Er legt die Hand auf meine Stirn und die andre an mein Bauch. «Wie heisst du», fragt er. «Hä?» sag ich. «Wie du heisst?» – «Precious», sag ich. Er sagt, «Precious, gleich isses geschafft. Ich will, dass du presst, hörst du, Kleines, wenn die Scheiss-Schmerzen wieder anfangen, dann musst du die Nerven behalten und pressen. Push, Precita, push

Und das hab ich gemacht.

Seitdem kuck ich immer, wenn ich Hispanos seh, nach jemand mit seinem Gesicht und sein Augen. Er hat ne Milchkaffeehaut, hübsche Haare. Hab ich mir gemerkt. Gott. Ich glaub, er war Gott. Noch nie war n Mann zu mir so nett. Im Krankenhaus frag ich nach ihm. «Wos der Mann, der mir geholfen hat?» Sie sagen mir, «Ruhig, Kleines, du hast grad n Baby gekriegt.»

Ich krieg aber keine Ruhe, weil sie mich ausfragen. Wie ich heisse? Precious Jones. Claireece Precious Jones, um genau zu sein. Geboren am 4. November 1970. Wo? «Hier», sag ich, «genau hier im Harlem Hospital.» «Neunzehnhundertsiebzig?» fragt die Schwester verwirrt. Dann fragt sie, «Wie alt bist du?» Ich sag, «Zwölf.» Hab schon mit zwölf Übergewicht gehabt, keiner denkt, dass ich erst zwölf bin, wenn ichs ihnen nich sag. Ich bin gross. Ich weiss, dass ich über neunzig wieg, aber nich genau, weil der Zeiger auffer Waage im Bad nich mehr anzeigt. Als sie mich das letzte Mal wiegen wollten, inner Schule, hab ich nee gesagt. Wozu, ich weiss, dass ich fett bin. Na und. Der Nächste, bitte.

Aber dass jetzt nich die Schulschwester, dass das Harlem Hospital, wo ich geboren worden bin, wo sie mein Baby hingebracht haben, nachdems auffem Küchenboden inner Lenox Avenue Nummer 444 geboren worden is. Die Schwester hier is schlank und hat butterfarbene Haut. Sies heller, sogar als die meisten Hispano-Frauen, aber ich seh, dass sie schwarz is. Sehs einfach. Nigger haben immer was an sich, was nix mitter Farbe zu tun hat. Die Schwester is nix andres wie ich. Ne Menge Schwarze, mit Schwesternhaube, nem dicken Auto oder ner hellen Haut, sind nix andres wie ich, sie wissens bloss nich. Bin so müde, würd mich am liebsten in Luft auflösen. Miss Butter soll mich in Ruhe lassen, aber sie glotzt mich bloss an und kriegt immer grössere Augen. Sie sagt, sie brauch noch mehr Information für die Geburtsurkunde.

Ich raffs immer noch nich, dass ich n Baby gekriegt hab. Ich mein, ich weiss, dass ich schwanger war und wie ichs geworden bin. Weiss, dass du schwanger werden kannst, wenn n Mann sein Schwanz in dich reinsteckt und sein weisses Zeug in deine Möse reinspritzt. Bin jetzt zwölf, und das weiss ich, seit ich fünf oder sechs bin, habs vielleicht schon immer gewusst, was Sache is mit Schwanz und Möse. Erinner mich jedenfalls nich, nich zu wissen, was Sache is. Nee, ich kann mich absolut nich dran erinnern, nich zu wissen, was Sache is. Aber mehr wusst ich nich. Hab nich gewusst, wie langs dauert, was da drin passiert, nix, gar nix hab ich gewusst.

Die Schwester sagt was, aber ich hör sie nich. Ich hör die Jungs vonner Schule. N Junge sagt, ich wär potthässlich. Sagt, «Claireece is zum Brüllen hässlich.» Und sein Kumpel sagt, «Nee, die fette Schlampe is zum Kotzen hässlich.» Hahaha. Wieso ich jetzt an die blöden Jungs denken muss, keine Ahnung.

«Deine Mutter», sagt sie, «wie heisst deine Mutter?» Ich sag, «Mary L. Johnston.» (Das L steht für Lee, aber meine Mutter kann Lee nich ausstehn, klingt so nach Provinzkaff.) «Wo is deine Mutter geboren?» fragt sie. Ich sag, «Greenwood, Mississippi.» Die Schwester fragt, «Bist du schon mal dagewesen?» Ich sag, «Nee, ich war noch nirgends.» Sie sagt, sie fragt, weil sie selber aus Greenwood, Mississippi, is. Ich sag, «Oh», weil irgendwas muss ich ja sagen.

«Dein Vater», fragt sie, «wie heisst dein Vater?»

«Carl Kenwood Jones, von ausser Bronx.»

Sie fragt, «Wie heisst der Vater von dem Baby?»

Ich sag, «Carl Kenwood Jones, von ausser Bronx.»

Da wird sie ganz, ganz still. Sagt bloss, «Schande, das is ne Schande. Mit zwölf, mit zwölf», sagt sie immer und immer wieder, als wär sie nich ganz dicht (oder hätt n Schock oder was). Dann kuckt sie mich an, mit ihrer hellen Haut und ihren blauen Augen – weiss schon, dass die Jungs auf sie abfahren. Sie sagt, «Hattest du jemals eine …, ich mein, bist du jemals ein Kind gewesen?» Dass ne blöde Frage, bin ich jemals n Kind gewesen. Ich bin n Kind.

Bin ganz durcheinander, müde. Ich sag ihr, ich will schlafen. Sie lässt das Bett runter, und ich schlaf ein.

Als ich aufwach, is jemand anders da. Sehn aus wie Bullen oder so. Wollen mich ausfragen. Ich frag, «Wos mein Baby? Ich weiss, das ich eins gekriegt hab. Ich weiss.» Die Neue mit der Schwesternhaube lächelt mich nett an und sagt, «Aber sicher, Miss Jones, Sie haben ein Kind gekriegt.» Sie schiebt die Männer mit den Uniformen weg vom Bett. Sie sagt, mein Baby is auffer Intensivstation und ich kanns bald sehn und ob ich nich den netten Männern ihre Fragen beantworten würd. Das sind aber keine netten Männer. Das sind Bullenschweine. Bin doch nich blöd. Denen sag ich gar nix.

Die ganzen Sachen von damals, 1983, als ich mein erstes Baby gekriegt hab, gehn mir durch n Kopf. «Precious! Precious!» Meine Mutter brüllt mich jetzt an. Aber mit den Gedanken bin ich bei meinem Baby, damals vor vier Jahren. Hab an diesem Spülbecken gestanden, als der Schmerz mich getreten hat und sie mich getreten hat.

Meine Hand taucht ins Spülwasser und schnappt das Fleischermesser.

«Precious! Precious!»

Sie lässt besser die Finger von mir. Wenn sie mich weiter anbrüllt und wieder tritt, stech ich sie ab. Ich schwörs.

«Precious, hast den Verstand verloren? Steht da wie n Ölgötz. Ich red mit dir.»

Ach nee.

«Hab überlegt.»

«Du überlegst rum, wenn ich mit dir rede?»

Das sagt sie, als würd ich Hundert-Dollar-Scheine abfackeln.

Anner Tür klingelts. Ich frag mich, wer das is. Bei uns klingelt niemand, bloss Cracksüchtige, die ins Haus wollen. Ich hasse Cracksüchtige. Werfen schlechtes Licht auf uns Schwarze.

«Los, sag diesen Arschlöchern, sie sollen aufhören mit dem Gebimmel», sagt sie. Sies näher anner Tür, aber meine Mutter bewegt ihren Arsch nur, wenn sie muss. Is wahr. Ich geh zur Tür und merk, dass ich noch immer das Messer inner Hand hab. Manchmal hass ich meine Mutter. Manchmal denk ich, sies hässlich.

Ich drück auf SPRECHEN und brüll: «Hör mit dem Gebimmel auf, du gottverdammter Flachwichser.» Und geh wieder inne Küche, um den Abwasch fertigzumachen.

Klingelt weiter. Ich geh wieder hin und brüll, «Hör mit dem Scheißgebimmel auf.» Der Wichser klingelt weiter. «Hör auf.» Es klingelt weiter. «AUFHÖREN!» brüll ich. Es hört nich auf. Meine Mutter kommt rausgestürzt und sagt, «Drück HÖREN, Dummkopf.» Würd am liebsten sagen, bin nich dumm, aber ich weiss, dass ichs bin, also sag ich nix, und ausserdem will ich nich, dass sie mich tritt, weil, seit ich das Messer aussem Spülwasser geschnappt hab, weiss ich, dass ich mich die längste Zeit hab treten lassen. Ich stech sie ab, wenn sie Precious Jones auch nur noch n einziges Mal tritt. Ich drück HÖREN. «Hallo, hier ist Sondra Lichenstein. Ich will mit Claireece Jones und Ms. Mary Johnston sprechen.» Mrs. Lichenstein! Was will die alte Nutte? Will sie diesmal richtig was vors Maul?

«Wer isses, Precious?» fragt meine Mutter. Ich sag, «Die weisse Schlampe ausser Schule.» – «Was will die?» «Keine Ahnung.» «Frag sie.» Ich drück SPRECHEN und sag, «Was wollen Sie?» Dann drück ich HÖREN, und Mrs. Lichenstein sagt, «Ich will mit dir über die Schule reden.» Die Votze hat n Knall.

Bin jeden Tag inner Schule gewesen, bis der weisse Mehlarsch mich im Gang abgefangen und so vollgesülzt hat, dass ich sie inne Fresse hauen wollte. Hat mich vom Unterricht ausgeschlossen, bloss weil ich schwanger bin – und zack war Schluss mit Schule. Jetzt hat sie ihren weissen Arsch auf die Lenox rübergeschoben und erzählt mir, dass sie mit mir über die Schule reden will. Mein Gott, wo stecken bloss die Cracksüchtigen, wenn man sie mal brauch.

«Was soll das, Precious?» fragt meine Mutter. Meine Mutter will nich, dass so ne weissen Wichser wie die Sozialarbeiterlehrerin Mrs. Lichenstein hier rumschnüffeln. Meine Mutter will nämlich nich rausfallen, ausser Stütze, mein ich. Dazu kommts nämlich, wenn so weisse Wichser wie Mrs. Lichenstein ein besuchen kommen. Wenn ich nich schwanger wär, würd ich glatt die Treppen runterrennen und der Schlampe in Arsch treten. Meine Mutter sagt, «Sieh zu, dass sie verschwindet.» Also brüll ich in die Sprechanlage: «Hasta la vista, baby.» Dass Spanisch für ‹Auf Wiedersehn›, aber wenns Nigger sagen, klingts wie ‹Leck mich am Arsch›. Drrring, klingelts schon wieder. Nich zu fassen, diese zurückgebliebene Schlampe. Ich drück SPRECHEN und sag, «Verschwinde, Mrs. Lichenstein, sonst polier ich Ihnen die Fresse.» Drrrrring. Ich drück HÖREN, «Claireece, es tut mir wirklich leid wegen Donnerstag. Ich wollte dir doch nur helfen. Ich … Mr. Wicher sagt, du seist eine seiner besten Schülerinnen …» Sie macht ne Pause, als wollt sie überlegen, was sie als nächstes sagt, und sagt dann, «Ich habe eine Ms. McKnight angerufen, vom Alternativen Schulprojekt ‹Lernen Für Alle›. Das ist eine alternative Schule.» Sie macht wieder ne Pause, dann sagt sie, «Claireece, hörst du mir zu?» Ich drück SPRECHEN und sag, «Ja.» – «Also gut, ich habe also Ms. McKnight vom Alternativen Schulprojekt ‹Lernen Für Alle› angerufen. Die Schule befindet sich im Theresa Hotel, im neunzehnten Stock. Das ist auf der Hundertfünfundzwanzigsten, nicht weit von hier.» Ich drück SPRECHEN, «Ich weiss, wo das Theresa Hotel is», sag ich. Schlampe, sag ich zu mir selber, die Mehlnasen denken, man is blöd. Ich drück wieder HÖREN, sie sagt, «Die Nummer ist 755-0831. Ich hab ihnen von dir erzählt.» Dann is Pause. «Ruf an oder geh hin, neunzehnter Stock –» Ich drück SPRECHEN und sag ihr, dass ich sie schon beim ersten Mal verstanden hab. Mir wirds ganz warm ums Herz – um die eine Hälfte jedenfalls –, wenn ich dran denk, dass Mr. Wicher gesagt hat, ich wär ne gute Schülerin. Die andre Hälfte würd am liebsten explodieren und Mrs. Lichenstein in Arsch treten. Kein Gebimmel mehr – schätze, das heisst, sie hats begriffen.

Ich geh schlafen und denk an den neunzehnten Stock vom Theresa Hotel, ne Alternative. Ich weiss nich, was ne Alternative is, aber ich glaub, ich wills rauskriegen. Neunzehnter Stock, dass das letzte, was mir durch n Kopf geht, bevor ich einschlaf. Ich träum, ich bin innem Aufzug, der so hoch rauffährt, dass ich denk, ich überlebs nich. Der Aufzug geht auf, und da steht der milchkaffeebraune Mann, der spanisch kann. Ich erkenn ihn wieder, von damals, als ich mein Baby gekriegt und n Küchenboden vollgeblutet hab. Er legt die Hand auf meine Stirn und flüstert, push, Precious, push, du musst ganz fest pressen.

Als Precious erwachte, erinnerte sie nicht den Traum, sondern wie sie das letzte Mal gepresst hatte. Es dauerte zwei ganze Tage, ehe man ihr das Kind brachte und sie sehen konnte, was mit «ein bisschen Atemschwierigkeiten» gemeint war. Sie versuchte, ihre Arme auszustrecken, doch sie war erschöpfter als je zuvor in ihrem Leben. Die butterhäutige Schwester und eine zierliche schwarze Schwester standen an ihrem Bett. Die zierliche schwarze Schwester hielt das Baby. Schwester Butter steckte die Hand unter die Decke, ergriff Precious’ zu Fäusten geballte Hände, öffnete sie sanft und strich mit den Fingern beruhigend über Precious’ Handflächen. Dann schaute sie die andere Schwester an. Die Zierliche wollte Precious das Baby geben, aber Schwester Butter fiel ihr in den Arm und nahm es ihr ab.

«Mit deinem Baby ist etwas nicht in Ordnung», flüsterte sie, «aber es lebt, es ist deins.» Schwester Butter legte das in Decken gehüllte Kind in Precious’ Arme. Precious betrachtete eindringlich die schrägen Augen, das flache Gesicht und die zuckende Zunge.

«Mongoloid», sagte die andere Schwester. Schwester Butter sah sie scharf an.

«Wass passiert?» fragte Precious betäubt.

«Nun, einiges. Der Doktor wird es dir genau erklären. Dein Kind hat möglicherweise das Down Syndrom und litt während der Geburt unter Sauerstoffmangel. Dazu kommt, dass du so jung bist, sehr junge Mütter sind anfälliger …» Ihre Stimme verlor sich für einen Augenblick. «Warst du während der Schwangerschaft jemals beim Arzt?»

Precious antwortete nicht. Sie streckte die Arme aus und hielt Schwester Butter das Baby hin. Schwester Butter nickte, und auf ihr Zeichen nahm die zierliche schwarze Schwester das Baby in Empfang. Schwester Butter setzte sich auf die Bettkante. Sie versuchte, ihre Arme um Precious zu legen, und strich ihr sanft über die Stirn. «Es tut mir leid, Precious, es tut mir ja so leid.»

Precious versuchte sich herauszuwinden, doch die butterhäutige Schwester aus Greenwood, Mississippi, zog Precious an sich und schloss sie fest in die Arme. Precious konnte den von Creme und Deo durchtränkten Duft ihres Kittels riechen und den schwachen Geruch von Juicy-Fruit-Kaugummi, und sie spürte eine Wärme von Schwester Butter ausgehen, die sie bei ihrer Mutter niemals empfunden hatte. Sie begann zu schluchzen. Ganz leise nur, zuerst, dann immer heftiger, und alles schmerzte – die blutig klaffende Wunde zwischen ihren Beinen, die blaugeschwollene Beule an ihrem Kopf, wo ihre Mutter sie getreten hatte und die Schwester Butter nicht sehen konnte, weil sie sie an sich drückte. Selbst ihr Vater, der nachts zu ihr kam, hatte sie nie umarmt, hatte sie nur immer von sich gestoßen und ihr sein stinkiges, nach Pisse riechendes Ding erst in den Mund und dann in die Vagina gesteckt. Jahre und Jahre und Jahre. Am ersten Schultag trug sie ein schmuddeliges rosa Kleid, an dem sein Geruch klebte. Zweite Klasse. Dritte Klasse. Vierte Klasse. Es schien, als gehörte ihm die Nacht, und sie war ein Teil von ihr. Unsichtbar, dunkel, aufgelöst. Es war so dunkel, dass sie einfach aufhörte – aufhörte zu sprechen, Ball zu spielen, die gepunkteten Linien zu verbinden. Farben und Formen zu unterscheiden. Was machte es für einen Unterschied, ob der lila Fleck quadratisch oder rund war. Ob er blau oder lila oder gelb war. Was machte es für einen Unterschied, wohin die Buchstaben auf dem Blatt zeigten, ob die Spitze des Lebkuchenhauses nach oben oder nach unten ragte. Still und leise versenkte Precious, als sie sechs Jahre alt war, Buch, Puppe, Springseil, ihren Kopf, ihr Ich im hintersten Winkel des Klassenzimmers und tauchte erst wieder auf, als sie zwölf war und der Notarzt ihr sagte, sie solle ihn anschauen, nachdem er sie stöhnend auf dem Küchenboden in der Lenox Avenue Nummer 444 vorgefunden hatte. Und jetzt hielt diese Schwester ihr Gesicht in den Händen und sagte, «Schau mich an, Schatz, du wirst damit fertig Das schaffst du.»

Precious blickte in ohnmächtiger Bestürzung zu ihr auf, erinnerte sich, wie der Schuh ihrer Mutter wie eine Kugel auf sie zugeschossen kam, wie der Penis ihres Vaters ihr ins Gesicht baumelte, und nun das plattgesichtige Baby mit den Koreaner-Augen.

«Wie denn?» schluchzte sie. «Wie?»

Das Baby kam zur Grossmutter, der Mutter von Precious’ Mutter, auf die 150ste Ecke St. Nicholas, obwohl ihre Mutter auf dem Sozialamt gesagt hatte, dass das Baby bei ihr und bei Precious leben würde und dass sie drauf aufpassen würde, wenn Precious in der Schule war.

Drei Monate nach der Geburt des Babys, Precious war noch immer zwölf, schlug Precious’ Mutter auf sie ein. FEST. Dann nahm sie die gusseiserne Pfanne, zum Glück war kein heisses Fett drin, und schlug Precious damit so heftig ins Kreuz, dass sie fiel. Dann trat sie Precious in die Rippen. Dann sagte sie: «Vielen Dank, Miz Claireece Precious Jones, dass du meinen Mann gefickt hast, du miese kleine Schlampe!» Precious dachte, sie müsse sterben. Sie konnte nicht mehr atmen. Da, wo sie das Baby gekriegt hatte, tat es weh.

«Du fette Schlabbervotze! Niggersau! Ers mir abgehaun! Was hast du den Drecksäcken in dem Krankenhaus erzählt? Umbringen sollt ich dich.»

Precious lag zitternd und schluchzend am Boden und fürchtete, ihre Mutter würde sie umbringen. «Steh auf, Fräulein Hochnäsig», brüllte ihre Mutter. «Setz dein hintervotzigen Arsch in Bewegung und mach mir was zu essen, sonst hast du gleich was zum Plärren.»

Precious stand auf und machte Essen. Schweinshaxen mit Wirsing, Maisfladen, Apfelkrapfen und Makkaroni mit Käsesoße. Zwei Stunden stand sie in der Küche. Precious wusste, dass zwei Stunden vergangen waren, auch wenn sie die Uhr nicht lesen konnte. Der Mann im Radio hatte vier Uhr gesagt, Nachrichten verlesen, dann kam Musik, und als sie den Teller ihrer Mutter auffüllte, sagte der Mann sechs Uhr. Nacken, Schulter und Rücken schmerzten, als wenn ein Auto sie überrollt hätte. Sie brachte ihrer Mutter den Teller und stellte ihn vor sie auf ein Tablett.

«Wos deiner?» wollte ihre Mutter wissen.

«Hab kein Hunger.»

Die Augen ihrer Mutter funkelten höllenrot, die breite Falte auf ihrer Stirn wurde tiefer.

«Ich … meine Schulter tut weh … ich will mich hinlegen.»

«Deiner Schulter fehlt nix. Hab dich ja kaum angerührt! Los, hol dein Teller und hör auf mit dem Blödsinn, sonst tut deine Schulter gleich richtig weh.»

Precious ging in die Küche zurück und füllte sich einen Teller auf.

«Margarine», polterte ihre Mutter. «Bring die Margarine und Tabasco.»

Precious brachte ihr die Margarine und Tabasco, ging wieder in die Küche und häufte dunkle süß-saure Kohlblätter, Schweinshaxe, Makkaroni mit Käsesoße, Apfelkrapfen und vor Margarine triefende Maisfladen auf ihren Teller. Schweigend schlang sie das Essen in sich hinein, unfähig, etwas zu schmecken, weil es dumpf in ihrer Schulter pochte und ihr ein gleißender Schmerz durch den Nacken fuhr.

Die Weißen im Fernsehen lachten und küssten sich.

«Isser nich niedlich!» seufzte ihre Mutter, als ein schwarzer Schauspieler in einer Bierreklame auftauchte. Sie schob Precious ihren Teller hin. «Mach mir noch ein, mach dir …»

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12 kasım 2024
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