Kitabı oku: «Greta und Jannis»
Sarah Kuratle
Greta und Jannis
Vor acht oder in einhundert Jahren
Roman
Die Arbeit am Roman und die Drucklegung wurden gefördert von den Kulturabteilungen der Stadt Wien (Literatur), des Landes Oberösterreich, Stadt und Land Salzburg und dem Bundeskanzleramt.
ISBN 978-3-7013-1288-7
eISBN 978-3-7013-6288-2
© 2021 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at
Druck und Bindung: BUCH THEISS GmbH, A-9431 St. Stefan
Covergestaltung: Leopold Fellinger
Für Joshua
Inhalt
Reise ins Gebirge
Winter der Apfelernte
Vor acht Jahren
Erster Herbst nach der Apfelernte
Zweiter Frühling nach der Apfelernte
Vor acht Jahren
Dritter Winter nach der Apfelernte
Vierter Sommer nach der Apfelernte
Vor acht Jahren
Fünfter Frühling nach der Apfelernte
Sechster Herbst nach der Apfelernte
Vor acht Jahren
Siebter Sommer nach der Apfelernte
Reise aus dem Gebirge
Herbst der Apfelernte
Reise ins Gebirge
Ihre Hand. Schmal ist sie, stark ihr Druck. Finger, die seine Finger umarmen, seinen Handrücken aufrichten, während Schnee die Stufen des Zuges befällt, leuchtend liegen bleibt. Das Gesicht der Frau, die jetzt mit ihrer zweiten Hand an seinem Unterarm herauffährt, treffen einzelne Flocken, verfangen sich oder zerlaufen zwischen Haut und Haaren länger als schulterlang. Gestützt tritt Cornelio ins Freie hinab, findet unter seinen Sohlen zuerst weichen, dann harten Grund. Es kommt ihm so vor, als ob sich die Frau in einer Weise selbst Halt gibt, mit dieser Hand, dem immer noch festen Griff. Sachte löst er ihre Finger, danke, sagt er, das war, danke für Ihre Hilfe. Leise, gern, Schnee auf ihren Lippen, keine Worte mehr, von überall her sich verdichtendes Gestöber, sprühender Winter.
Im kleinen Warteraum des Bahnhofs zählt ihm eine einsam tickende Wanduhr die Zeit im Stillen vor. Durch an ihren Rändern glanzvoll beschlagene Fenster sieht er die Frau draußen zuerst Stirn gegen Sturm, dann wieder in die andere Richtung gepeitscht, wird sie sogar langsamer. Sie ist sehr schmal und blass, wie in den Mantel gefallen, kam sie ihm vor, als sie seine Hand und seinen Arm hielt. Sie trägt keine Mütze am Kopf, warum lässt sie ihren grauen Schal flattern, ihre Haare wild in der Luft.
Ein paar Jahre ist es her, unter einer hohlen Bettdecke schwer, schlief er wirklich. Greta lag wach einen Winternachthimmel lang, so groß wie das Fenster, das sie mit ihren Blicken durchs Dunkle abtastete. Immer wieder drückte sie ihre Stirn auf die harten Knie, die Fersen an ihre Schenkel, wie zur Schale, eine harte Nuss, wird sie heute noch genannt. Streckte sie ihren Arm aus, berührte sie Jannis am Schulterblatt, es hob und senkte sich wie über Wellen, unruhiges Träumen. Seine Locken schienen ihr ohne Licht zu glänzen, aber an mir, was ist gold an mir, schau mich an, fragte sie am Morgen. Was ist nicht gold an dir und uns, seine Antwort, erschrocken, auf einmal blass. Jannis, du verklärst alles.
Der Wind scheucht den Schnee auf, verweht ihn über die Zugstrecke zwischen Stadt und Gebirge. Ab dem Punkt, wo die alten Gleise tief begraben liegen, übersetzt der alte Postbus zwischen Bergen den Landstrich. An seiner Windschutzscheibe haften blinde Flecken, ein schwarzgrauer Schwarm. Die Vögel sollten besser landen, sich an die Bäume halten. Schnell fährt der Busfahrer, als stimmte er seine Fahrt auf klare Sicht ab, wie es sie vielleicht gestern gab oder an anderen Tagen. Ob es der Bus bis ins letzte Dorf im Gebirge schafft, so oder so würde es spät, bis Greta heimkäme. Trotz Rückenweh wird Tante Severine allein mit Flora den Stall machen. Die kleine Melina kann die Schafe und Ziegen zwar schon melken, läuft aber lieber zum weißen Esel Gian, eine Hand voll Heu, versteckte Blätter, ihren Ring von der Straße, ist das Gold, Greta, der Ring. Sie nickte, es ist Gold wert, darauf kommt es an. Im nächsten Jahr wird Greta dem Mädchen zeigen, wie sie das geschnittene Gras zusammenrecht, Heumännchen formt, wie sie mit Gänseblümchen Ringe anstecken, Margeriten fröhlich um das Kreuz an ihrer Kette binden kann. Das gefällt Tante Severine, glaub mir, in der Schule werde sie auch auffallen. Das tue ich sowieso, Greta.
Zwei Tage weg vom Hof und Greta vermisst den Geruch von der Backstube, den frischen Broten, einem Butterzopf, den sie heimlich in schwarzen Kaffee tunkt, wenn sie keines der Kinder beobachtet. Schmatzend und schlürfend genießt sie dann die vollgesaugten Brocken im Mund. Wie das aussieht, Greta, beschwert sich Tante Severine manchmal. Sie sieht aus wie Jannis beim Frühstück. Jannis, ich fahre schon heute, er sagte nichts, damals, vor Jahren, lieh ihr für den Weg zum Bahnhof einen Schirm, den Greta nie mehr zurückgab. Selten regnet es in den Bergen, aber es regnet so stark wie sonst nirgends, betonen Flora und Melina jedes Mal stolz, wie sonst nirgends, mit Kapuzen und Stiefeln in den grauen Pfützen. Greta selbst unter Jannis’ altem Schirm, ihre Haare so nass, als stünde sie auf dem Kopf, unten ein See Regentropfen. Wie Jannis beim Frühstück sehe ich aus, darum konnte ich ihn ja nicht heiraten, es grauste mir selbst. Darauf Tante Severine, Gott sei Dank, ich brauche dich, bei den Mädchen, am Hof, in der Backstube. Nach acht Jahren trägt der Apfelbaum diesen Winter wieder Früchte, im Garten all die goldenen Kugeln, könnten sie sich den Weihnachtsschmuck eigentlich sparen. Im Frühling hatte Tante Severine eine Flasche um eine Blüte am Baum gestülpt, für die Zierfrucht im Schnaps, sonst seien die goldenen Äpfel ja giftig wie Vogelbeeren. Außer die Apfelkerne, die schmeckten Melina und mir sehr, widersprach Flora. Vor acht Jahren stibitzten die zwei Mädchen ein paar Kerne aus dem Gärfass, sie hatten Glück, es war ein Wunder, erklärt es sich Tante Severine.
Zwei Reihen vor Greta sitzt der Mann mit dem Verband im Bus, angeschnallt, auf dem Kopf einen Hut, ein zweiter hängt von seinem Koffer, ein dritter an seiner Lehne. Verziert sind sie alle mit bunten Federn, es fehlen die Schneckenhäuser, überlegt Greta bei sich, die Luchsohrpinsel, die getrockneten Bienen, das richtige Gefieder, dann wäre es ein wundersamer Hut, vielleicht. Eindrucksvoll mit Hut gleicht der Mann den Erstgeborenen im letzten Dorf im Gebirge. Als er sich zu Greta umdreht, trifft sie zwischen den Sitzen auf seinen schüchternen Blick.
Wo Stahlräder feststecken, drehen in Ketten gelegte Reifen durch. Gesunde Füße könnten vielleicht noch weiterstapfen, überlegt Cornelio. Über den großen Berg aber kämen selbst sie spät, frühestens am nächsten Morgen. Alle auf der Reise bleiben im ersten Dorf im Gebirge. Dort gibt es ein Gasthaus, sie könnten übernachten dort. Morgen oder übermorgen sei die Gebirgsstraße sicher frei.
An den Gesichtern der anderen glaubt Cornelio Selbstvorwürfe, Hunger abzulesen, es war nicht anders zu erwarten, auf dieser Strecke, bei dem Wetter, murmelt er, da wäre er besser nicht aufgebrochen. Niemand, keine Menschenseele erwartet ihn im Gebirge. Die junge Frau vom Bahnsteig stößt ihn mit dem Ellbogen an, haben Sie Brot gegessen. Cornelio nickt, einen Wecken aus meinem Rucksack. Wahrscheinlich habe ich meine Kleider voller Mehl, er zieht den Hut. Sie mustert ihn, schwer zu sagen bei Nacht, ob nicht auch die Haare, zu seiner Verwunderung streicht sie ihm über den Kopf. Nein, bloß Schnee, natürlich, wie einem Kind, dem Fransen ins Gesicht hängen, von vorne nach hinten, seitlich am Ohr hinab streicht ihre Hand. Aber Sie riechen nach Brot, das rieche sie, wie es andere auf der Zunge schmecken.
In einem der Stockbetten liegt sie oben, der Busfahrer unter ihr schnarcht. Eine Hand aufs Herz, die andere ans Ohr, versucht Greta wegzuhören, in aller Ruhe einzuschlafen. Als wäre sie allein, daheim in ihrem Schlafzimmer. Am Hof dringt manchmal Tante Severines Schnarchen durch zwei Wände durch bis zu ihr, bloß pfeifen hilft dann. Ich hörte euch bis in den ersten Stock, schrieb Flora an einem Morgen auf ein Blatt am Küchentisch, Greta hob die Augenbrauen. Flora hört noch besser, als sie singt, mischte sich Melina ein, wie eine Lüchsin hört sie, und wie ein Vogel singe sie draußen. Wenn ich schlecht träume, ist Flora immer gleich bei mir. Wie Lüchse scheu, schüchtern verhalten sich beide Mädchen, wenn Kinder aus der Schule hinter ihren Rücken flüstern, warum sagt die Flora nichts, hört alles, und die Melina ist wie gelähmt im Klassenzimmer, im Schulhaus, fliegt draußen gleichsam wie eine Biene allen davon, wie der Wind. Hört einfach weg oder geht schneller, rät Tante Severine den Mädchen. Macht euch bekannt mit ihnen, ist Gretas Rat, geht langsamer, redet sie an, im Sonnenlicht, schaut ihnen ins Gesicht.
Greta pfeift wie am Hof, aber es bringt nichts, das Schnarchen hört nicht auf. Der Busfahrer schläft auf dem Rücken, er trank am Abend zu viel Wein, Greta viel zu wenig. Nach einer Weile schlägt Greta ihre Decke zurück und steigt über die Sprossen hinab auf den Steinboden, legen Sie sich doch bitte seitlich hin. Der Mann schnarcht in einem fort. Gretas Hand an seiner Schulter, schüttelt sie ihn halbwach, drehen Sie sich bitte auf die Seite, mit beiden Händen hilft sie mit aller Kraft nach.
Zurück auf ihrem Kopfkissen atmet Greta modrigen Geruch ein, von der Bettwäsche, dem Mauerwerk, wie Luft feuchtkalt am Hals eines Menschen, der eine Weile lang oder länger im Regen stand. Vor Jahren mitten in der Nacht wollte sie Jannis nicht aufwecken, weil sie ihm nicht sagen konnte, was das mit uns ist, ein zwei Tanzschritte, Stillstand, oder was es hätte werden sollen, als sie zu ihm in die Stadt gereist war. Ich weiß nicht, ein zwei Tage zusammen, knirschende Spaziergänge im Park, Musik, Feuerknistern, sobald es dunkel wird und kalt, wich sie am Morgen aus, Schneeregen vorm Fenster. Jannis schluckte, also ein paar Tage bloß und dann. Sie legte ihren Arm um seinen Nacken, den Kopf an seine Schulter. Zuerst zog sie ihm den Mantel aus, dann Schicht um Schicht Schal, Weste, Hemd, als ließe sich der Geruch vom Warten abstreifen. Als sie die Knöpfe seiner Cordhose löste, hob er ihr Kinn, nicht, Greta, schau mich an. Ich weiß nicht, ein paar Tage, das ist mir nicht genug.
Der Mann mit Verband flüstert in die Nacht, danke, Stunden später beim Frühstück, ich war kurz davor, selbst aufzuspringen, sich sein zweites Bein zu brechen. Greta mustert seinen Teller, haben Sie Ihr eigenes Brot mitgebracht. Er zeigt auf seinen prall gefüllten Rucksack, an Wegzehrung mangelt es mir nie. Ob sie probieren, wollen Sie probieren, das Brot ist vom Vortag, zu backen habe er sich selbst beigebracht, es schmecke wirklich gut. Das rieche ich, ja, aber danke, lehnt Greta ab, bloß eins, darf ich das Brot kurz halten. Mit dem Rücken ihrer Hand klopft sie gegen den Brotboden, es tönt gut gebacken, nämlich hohl, wie es soll, Spuren Mehl an ihren Fingerknöcheln. Später zwinkert der Mann ihr zu, als der Busfahrer seine Augen reibt, ich tat kein Auge zu, die ganze Nacht lag ich wach. Greta hakt nach, sind Sie sich sicher, und zieht beim ersten Schluck heißen Tee ihre Brauen hoch.
Auf der Weiterfahrt im Bus hat die Frau Schal und Haare offen wie gestern, sie streifen die Armlehne. Ihre Finger wackeln im Takt ihrer Füße, während ihre Lippen lautlos Worte klopfen, an einer Stelle eine Art Kussmund formen. Was sagt sie, fragt sich Cornelio, denkt sie an ein Gespräch, das sie jetzt allein fortsetzt. Ob sie singen würde, wäre da eine Stimme, klänge es vielleicht wie ein Lied. Warum sind ihre Wangen so blass wie seine, die Lippen brombeerrot bemalt.
Als sie mit dem Fahrer bloß noch zu dritt im Bus sind, setzt sich Cornelio neben sie. Er räuspert sich, sagen Sie, wohnen Sie also im letzten Dorf im Gebirge. Sie schrickt auf, was sagten Sie. Ob sie im nächsten Dorf wohne, wohl das letzte in diesen Bergen. Schon, obwohl eigentlich nicht wirklich, wenn er die paar Häuser meine, die da um Kirche, Schule und Weberei stehen, wie aufgefädelt, ein bisschen verrutscht, strecken sie ihre Dachspitzen in den Himmel. Eigentlich wohne ich auf einem Hof ein Stück außerhalb vom Dorf, im wirklich letzten Haus im Gebirge, und er, wo wohne er denn, sie habe, ich habe Sie noch nie im Dorf gesehen. Cornelio nickt, ich wohne auch am Rand, erst kurze Zeit, in einem kleinen Haus, es gehört noch nicht lange mir. Ohne ein Wort mehr, als hätte er sie aus Gedanken gerissen, wendet sie sich wieder ab, schaut zu ihrer rechten Hand hinab, als wäre diese Hand ein offenes Buch.
Aus ihren fadendünnen Haaren flicht sie rasch noch einen Zopf, legt immer eine äußere über die mittlere Strähne, kein Knopf, lauter Anfänge. Am Ende die Enden festdrücken, den Teig mit Butter bepinselt aufgehen lassen, zeigte ihr Mutter vor langer Zeit, belehrte sie auch Tante Severine, obwohl Greta schon als Kind einen Butterzopf backen konnte. Ihre dunklen Haare sehen ineinander verflochten jetzt dicker, voller aus. An den nächsten Tagen wird sie Locken haben wie Jannis. Beim Aussteigen geht sie dem Mann mit Verband wieder zur Hand, bittet den Busfahrer, ihn im eigenen Auto doch bis an die Tür zu bringen, kommen Sie gut heim, es wäre wohl zu weit zum Gehen, sagt Greta noch und macht sich selbst wie immer zu Fuß auf.
Ganz gleich, wie viel sie sich mit Seife wäscht, riecht sie nach ein zwei Tagen bei Jannis nach Rauch. Besonders im Winter, wenn sie drinnen rauchen und manchmal der Ofen Asche ins Zimmer drückt. In ihrer rechten Manteltasche reibt sie an einem Stück Ziegenmilchseife, als könnte sie die letzte Berührung überziehen, aufheben den Händedruck, worin zum Abschied der Kuss lag, den sie sich nicht gestern noch vor Jahren zu geben trauten. Dann drückt sie ihre Finger an Mund und Nase, spürt Risse, Häutchen abgestorben im Nagelbett und kleine Schnitte an den Lippen, gewöhn dir das um Himmels Willen ab, Greta. Melina und Flora tun es dir schon gleich, beschwerte sich Tante Severine vor ein paar Tagen. Es beruhigt mich halt, statt Zigaretten, Greta streckte die Zunge mit Lakritz ein Stück hinaus. Tante Severine nickte, wenn es darauf ankommt, bist du den beiden Mädchen gottlob ein gutes Vorbild. Kaut den Bärendreck, wenn euch andere eine Zigarette anbieten, wie Greta. Flora war beharrlich, hast du denn niemals geraucht, Greta. Einmal gab sie zu, doch, einmal schon, immer und viele Male mit Jannis, zuerst beim Grenzstein am Berg, aber es schmeckt nicht gut, sieht schön aus, grauweiße Ringe aus Hauch und Rauch, es schmeckt tröstlich.
Bei Tag verlöscht entzaubern sich die Lichterketten, sie hängen über den ganzen Winter länger im Ort als überall sonst. Das Dorf zahlt halt nichts für den Strom, klärte sie Tante Severine auf, eine alte Abmachung mit dem Kraftwerk. Greta stutzte, warum fehlt es dann an Geld für eine einzige Straßenlaterne bei uns oben. Nicht genug, dass wir uns die Straße selbst vom Schnee freischaufeln müssen. Auch stapfen wir im Herbst und Winter ab vier am Nachmittag im Dunkeln, entlang von Zaunzacken hanteln sie sich den Hang steil hinauf zum Hof. Fast wie eine Burg thront ihr Daheim überm Dorf, bewohnt bei einem großen Apfelbaum, hinter einer Eiche. Haselnuss, sagte Melina. Greta schüttelte den Kopf, das ist eine Eichel. Ob Greta sie unterm Baum gefunden habe, ja, antwortete sie der Einfachheit halber, nach einer Pause, Melina, schenk doch Tante Severine ein paar Eicheln für ihre Taschen. Die Rückfrage des Mädchens, wärmen sie, wie Kirschkerne. Greta nickte, sogar sehr, ihre eigene Eichel, weil sie ihr Jannis einmal am Bahnhof in der Stadt zugesteckt hatte, er bei allen Treffen fragt, was versteckst du da in der Tasche, wie einstudiert antwortet sie immer, sag ich nicht. Dann sinkt er hinein zu ihren Fingern, endlich bist du da. Letztes Mal wich Greta von ihrer einstudierten Wahrheit ab, es ist nicht mehr die Eichel von dir, Jannis, sie wurde grau, brüchig. Eins der Mädchen brachte mir eine neue, es war die alte. Er schwieg.
Im Dorfladen besorgt Greta noch Hefe und Nüsse, sie wird am Nachmittag Brot backen mit Flora. Mit Melina, die die Nüsse bitter findet, ist es meistens zäh. Schon wieder, wird sie jammern. Fang endlich an, mehr zu probieren, Tante Severines Antwort. Das komme davon, den Kindern von klein auf Lebkuchen zu geben, sie selbst bekam nie Lebkuchen, bloß ihr älterer Bruder, Gretas Großvater, der Erstgeborene in der Familie. Wie lange denn noch, Melinas kleine Finger in der Teigschüssel, dann an ihrem Mund. Bis nichts mehr klebt, aber sonst knete halt ich fertig oder Flora.
Vor acht oder in einhundert Jahren, es wäre nicht viel anders, der Sonneneinfall am 21. Dezember zwischen See, Bergrücken und Wäldchen ein schmaler Streifen, auf dem das kleine Haus sitzt, da ist es, sagt Cornelio zum Fahrer. Im Kalender fängt der Winter an, fängt die Nacht an zu weichen, Schnee zu härten, viele Wassertropfen in der Luft, an den Zweigen. Kalter Nebel um den See vereist, unzählige Nadeln rieseln leise, letzte Blätter, die am Boden brechen, bizarr, murmelt er in Erinnerung an laute Schritte inmitten von Raureif, bizarr, finden Sie nicht auch, bizarr ist das richtige Wort dafür. Der Fahrer nickt, wird schon so sein. So, nicht viel anders, ob vor acht oder in einhundert Jahren.
Mit einem der letzten Zündhölzer macht Cornelio die Kerze am Tisch, rasch noch die Zeitung zwischen Holzscheiten im Ofen an. Zwei Fingernägel an den Spitzen angesengt, war er zu langsam, das wird ihm wieder passieren, immer wieder, bis sein Bein verheilt ist. Im Winter gefallen ihm zwei Sorten Tee gemischt, heute ein Lindenblütensäckchen und ein Teeei mit Minze, von Frühling bis Herbst wild wuchernd. An Nägeln in der Wand hängen schon die Hüte und Kappen befiedert, darunter ein Hut mit knittriger Krempe aus Stroh. Sein Vater sammelte Hüte, mit ihnen seine Erfahrungen, was ich nicht unter einen Hut bringe, nehme ich auf die Kappe, sagte er oft, und dass nichts so sehr beeindrucke wie ein Hut.
Eine Kruste aus Reif überzieht ihren Umweg durch den Nebel. Auf dem Häuschen mit dem Mantel aus moosigen, teils fauligen Schindeln liegt ein bisschen Sonne, Licht. An den Fenstern rissige Vorhänge, hinter die Flora und Melina einmal schauen wollten, bitte, bitte. Von mir aus, erlaubte es Greta, es wohnt ja niemand mehr im Haus. Dann schaut halt nach. Melina lief als Erste zu Greta zurück, ihren Mund offen vor Schreck.
Auf einmal taucht jetzt ein Hut hinterm Fensterglas, jemand auf den sonst so verlassenen Brettern auf, eigentlich fast verlassen, wir sahen eine Maus, es war ein Siebenschläfer, besserte Flora ihre kleine Schwester aus. Angestrengt will Greta das Gesicht unter der Hutkrempe ausmachen, wie damals die Kinder die Grundstücksgrenze überschreiten. Wie sie selbst, als sie allein die Holzleiter aus dem Garten an die Schindeln lehnte, durchs Glas auf getrocknete Blumen, ein Kleid mottenzerfressen im offenen Kasten starrte. Sie winkt und derjenige hinter Glas zieht den Hut, winkt zurück. Unter der letzten Straßenlaterne im Dorf vor der Tür des Häuschens erkennt sie den Mann vom Zug, Sie wohnen ja wirklich am Dorfrand, dann sind wir wohl Nachbarn jetzt.
Es ist ein Versteck, wohin sie sich aufgemacht habe, er könne mitkommen, kommen Sie ruhig mit. Dann schaut Greta nachdenklich auf seinen Verband. Mit den Krücken kann ich gut gehen, über Stock und Stein, versichert er. Ob er seinen Fotoapparat mitnehmen dürfe, es sei ja immerhin ein Versteck. Aber kein Geheimnis, nehmen Sie ihn ruhig mit. Können wir uns eigentlich Du sagen, ich heiße Greta. Cornelio, also mit ganzem Namen heißt du Margareta. Nein, bloß Greta. Ehe sie weg vom Kiesweg laufen, geben sich die Mädchen immer Küsschen mit ihren Nasen, weil es doch ein Versteck ist. Wer die Losung kennt, darf dem Steinmännchenweg folgen, hatte Greta festgelegt. Für einen Moment überlegt sie, ob sie ihren neuen Nachbarn einweihen oder ihn doch nicht mitnehmen sollte. Dann schüttelt sie den Kopf und hakt sich bei ihm ein, Sie, also du brauchst mich jetzt, Cornelio, glaub mir, aber eine Krücke ist genug. An ihrer Seite vorbei an dem Strommast, der mit seinen Verbündeten silbergrau die Landschaft durchschneidet, fotografiert Cornelio die Rinde der ersten großen Bäume, ein bisschen rötlich, wie angerostet, stellt er fest. Im Winter in diesem immer dämmrigen Stück Gras und Wald seien Hell und Dunkel sowieso wichtiger als die Farben, das sei im Dorf nicht viel anders, darum bloß mit Bleistift, magst du es trotzdem, fragte Melina einmal. Greta gefiel diese Zeichnung wie jede des Mädchens, nicht bloß grau fände ich trotzdem schön, woraufhin Melina die Baumstämme rot schraffierte.
Als sie nach ein paar Metern zwischen Bäumen krachend auf die bereifte Wiese kommen, geht der neue Nachbar einen Schritt vor ihr trotz Verband auf die Knie. Durchs Viereck, das Cornelios Kopf, seine Schulter, Ober- und Unterarm aufspannen, schaut sie, indem sie ihren eigenen Oberkörper nach vorne lehnt, gleichsam unter seinem Blickwinkel auf den schönsten Platz der Welt. Eine alte Fichte gibt dem Holzbänkchen Rückendeckung, um es herum ragen Reste Schilf, das nicht abgeschnitten wurde, weiße Eisbärte tragende Rohre höher als Kinder, Erwachsene, Greta. Unter den Latten vertrocknet graues Stroh.
Mit seinen bloßen Fingern möchte er die breite Sitzfläche bis zur Lehne hinauf abschaben. Das bringt nichts, hält ihn die Nachbarin ab, breitet ihren grauen Schal auf der Bank aus, für ein paar Minuten ist das genug, bloß nicht zurücklehnen. Genau in die Mitte setzt sie sich, vielleicht weil sie häufig allein herkommt. Es gab Pläne, da eine Straße zu bauen oder Schienen zu verlegen. Cornelio wundert sich, das Bänkchen gefällt mir sehr, wirklich, so geschwungen. Aber ich scheitere, mir an diesem Ort einen Zug vorzustellen, fügt er hinzu. Nach einem Räuspern sagt sie, weißt du, ich male mir manchmal einen Zug aus, wie gestern am Bahnhof geht sie jetzt vor der Bank auf und ab, manchmal warte ich hartnäckig darauf, dass jemand ankommt, sie seufzt, wieder lässt sie sich auf die Bank fallen, jetzt aber am Rand. In der Mitte zwischen ihnen beiden ein freier Platz.
Schweigsam sitzen sie auf dem Schal, die Füße im Schnee, im Rücken den Wald so nah, dass er an einem Baumstamm seinen Kopf anlehnen könnte. Alles an mir, murmelt er lautlos, fühlt sich so schwer an. Mein Kopf, meine Schultern, meine Arme und Beine, sie hängen herab, als fielen sie mit dem Schnee langsam auf den Grund. Scheinbar leicht in der Luft, kommt Cornelio vor, verbinden sich die vielen Schneeflocken zu Stricken, binden dann seinen Körper an eine Erde fest, die ihm nicht vertraut ist. Ein Leben lang war er zu leicht. Es rührte sich nicht viel, solange er sich nicht bemühte, waren seine Berührungen ohne Druck, selbst seine Worte ohne Gewicht. Bis er von einem Apfelbaum fiel, ein Biss vom Apfel wog schwer wie Gold im Mund.
Was von den Tagen bei Jannis erwarten, wusste sie selbst nicht. Unendlich viel Schnee, schrieb er ihr vor Jahren, die Stadt gleichsam bloß für sie beide, so richten wir es uns ein. Als Greta in die Bahnhofshalle einfuhr, sah sie ihn auf einer erhöhten Bank warten. Ich musste einen späteren Zug nehmen und konnte dir nicht mehr Bescheid geben. Bist du denn die ganze Zeit über draußen gesessen, Schuhe, Hose, Mantel voller Schnee, den es zu ihm unters Vordach geweht haben musste. Jannis zuckte mit den Schultern, es geht mir nicht wie den Kutschern, sie fahren den ganzen Tag über im Schneefall, er klopfte die Flocken von seinen Kleidern, das ist nicht viel. Während sie noch nickte, kam sie ihm näher, bis sich endlich ihre Nasen berührten, aus dem Nicken ein Wippen wurde, ein Schaukeln ihrer Köpfe, bis die harte Kälte abfiel wie eine zweite Haut.
Noch einmal dort, würde sie ihn auf die Lippen, die Wangen weich küssen, neben den Augen, wo überall sein Lächeln lag, sein Herz, dein Herz, du trägst es wie ein Kind im Gesichtsausdruck, weißt du das, würde sie sagen, wären sie an diesem farblosen Wintertag ein graues Liebespaar geworden. Am Abend hätte sie seinen goldenen Lockenkopf an ihre Brust und Schulter gezogen, statt sich rauszureden, es gibt für mich nicht bloß dich, nicht bloß dich und mich, es ist nicht so leicht. Was sei so schwer daran. Sie konnte es ihm nicht sagen. Kaum mehr als ein Jahr später heiratete Jannis. Greta zog vom vorletzten ins letzte Dorf im Gebirge. Sie hilft dort ihrer Großtante, Tante Severine, mit den Kindern, fühlt sich ein bisschen erwachsener seither. Alle Besuche bei Jannis sind jetzt ein Geheimnis, jede Begegnung zunächst eine Zurückhaltung. Bloß eins, bitte sag mir, Jannis, deine Frau wollte dich, war das alles. Zögerlich antwortete er, vielleicht, das ist viel.
Greta nimmt das Gespräch mit dem Nachbarn Cornelio wieder auf, zum Glück fährt da kein Zug, es sähe trostlos aus, es gäbe ja keine Haltestelle, niemand würde im Schilf aussteigen. Außer er zieht die Notbremse, weil er Greta im Nebel winken sieht. Der Schal wird langsam feucht, lässt Greta aufspringen und übers weiße Feld zum Bach stapfen, der den Grund in Grundstücke teilt, von Stromleitungen überspannt, manchmal von Kinderbeinen. Aber nicht im Frühling, wenn das Gras wächst. Nicht im Sommer, schärfte Tante Severine den Mädchen ein, sonst gibt es wieder Probleme mit dem Pächter, ein böser Mensch, besprach sie mit Greta, Flora und Melina schon im Bett. Hast du Gott heute schon gedankt, dass du keinen Mann hast, seufzt Tante Severine täglich. Nein, aber ich werde es noch machen, stimmt Greta dann zögerlich ein. Sie hastet jetzt zum neuen Nachbarn zurück, warte, du brauchst mich ja, Cornelio, führt ihn wie eins der Kinder achtsam am Arm zum Wasser. Von ihren zwei Händen zittert bloß noch eine. Am Bach entlang begleitet sie ihn zum Mooshäuschen, vorbei am kleinen Bergsee. Ob ihm in seinem neuen Daheim nicht kalt sei, der Winde pfeife wohl durch alle Löcher, der Himmel sieht nach Schnee aus, ist das Dach denn dicht. All das alte Holz vorm Häuschen sei sicher so feucht wie das abgemähte Gras unter der Schneedecke. Cornelio seufzt, ich war im Herbst kurz da, schnitt die Wiese mit den Brennnesseln ab. Ehe sie Heu war, habe es geschüttet wie aus Kübeln, also ließ ich alles liegen, ich musste zurück in die Stadt.
Komm gern zu uns, es gebe Gerstensuppe. Das ist freundlich, aber es geht schon, danke, ich könnte sogar noch einen alten Sessel verheizen. Auch bin ich Kälte gewohnt. Sein Vater habe immer bei der Wärme gespart, und beim Licht, im Winter war es daheim auch immer winterlich, drinnen fast kälter als draußen, und dunkler.
Sag mir, ob sie ihm noch einmal sagen könne, deinen kurzen Namen, er fällt mir im Moment nicht ein. Cornelio klopft den Schnee von seinen Beinen, hört sie sagen, Greta, noch einmal, einfach Greta. Von den Mauern reibt er Schnee wie Zucker kristallisiert, legt einen Flecken Moos frei, grün wie die Zeit vor und nach dem Winter. Ich glaube, die Mauern sind vor allem Moos. Die kleine Tanne verwandelt mein neues altes Häuschen nach und nach zurück in Wald. Er habe das Gefühl, als störte er im Grunde, als nähme er etwas weg, weiß der Himmel wem oder was. Gib etwas zurück dafür. Richte eine Schale mit ein paar Apfelstücken, stell sie auf die Schwelle vor der Tür, schlägt ihm Greta vor, es gibt Schnecken, die auch im Winter immer reisen. Um ihre Fühler tragen sie Hörner, in ihren Häusern bilden sie Perlen. Nähme er so eine Perle, stünde Cornelio wieder in der Schuld. Also nimm keine, so einfach ist das, oder gib wieder etwas zurück.
Zuerst drückt sie ihre Hand in das Moos an der Mauer, zeigt dann zum Schloss am Hügel hinauf. Wie das Moos dein Häuschen, schildert sie, überwuchert Efeu das Schloss bis weit zu unserem Hof. Von Efeu heiße es, an heißen Tagen wandeln sich seine Blätter zu Schmetterlingen. Cornelio räuspert sich, ist das wahr. Greta schüttelt zuerst den Kopf, nickt dann, glaub mir, es gibt auch Vögel, die mit Blüten fliegen. An ihren Federästen bleiben Blätter und rosa und rote Blüten von Obstbäumen hängen, sie trocknen in der Sommerluft, verwachsen mit den Vögeln. Ohne diese Blüten wären diese Feuervögel vielleicht Landtiere. So fliegen sie, auch in den Dachstuhl vom Mooshäuschen, davon wirst du noch ein Lied singen können.