Kitabı oku: «Schweizerische Demokratie», sayfa 3

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Kapitel 2: Durch politische Integration zur multikulturellen Gesellschaft

«Den Bedrohungen von aussen kann nur ein Volk Widerstand leisten, das trotz aller Verschiedenheit der Sprache, der Konfession und der Rasse das Bewusstsein der nationalen Zusammengehörigkeit besitzt.»

Arbeitsgemeinschaft «Frau und Demokratie» zum 1. August 1933

«Switzerland is not peaceful because of its people but because of its institutions.»

Walter Kälin, Völkerrechtler

A. Die Schaffung des Bundesstaats von 1848

Nach dem Wiener Kongress von 1815, als in Europa viele Strukturen des vorrevolutionären Ancien Régime wieder etabliert wurden, erwartete niemand, dass die schweizerischen Kantone eine der ersten Demokratien und einen eigenen Nationalstaat schaffen würden. Zwar hatten sich Uri, Schwyz und Unterwalden als erste Kantone im 13. Jahrhundert von den Habsburgern unabhängig gemacht. Andere Orte folgten dem Beispiel und traten dem Bündnis bei, in dem sich die Eidgenossen gegenseitige Hilfeleistung zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit versprachen. Zur Zeit der Französischen Revolution bildeten dreizehn Kantone einen losen Staatenbund. Hatten diese sogenannten «Alten Orte» zunächst erfolgreich für die Befreiung von feudalistischer Herrschaft gekämpft, so hinderte sie das später nicht, sich selbst Untertanengebiete anzueignen und diese auszubeuten. Kein Wunder also, dass das morsche «Ancien Régime» der alten Kantone auch aus inneren Gründen zusammenbrach, als 1798 Truppen der Französischen Revolution auf ihrem europäischen Befreiungszug die Schweiz besetzten.

Mit dem Diktat Napoleons von 1798 wurden die Kantone zu einer Republik nach dem Muster der französischen Direktorialverfassung. Während es gelang, die Vorrechte der Alten Orte durch Gleichstellung der ehemaligen Untertanengebiete als neue Kantone zu brechen, scheiterte der Versuch, die Kantone im Einheitsstaat der Helvetischen Republik zu verschmelzen. 1803 kam auf Geheiss Napoleons die Mediationsakte zustande, welche die gliedstaatliche Autonomie der Kantone wiederherstellte. 1815 schliesslich gewann die Eidgenossenschaft ihre volle Unabhängigkeit zurück. Die Gleichberechtigung aller Kantone blieb dabei als dauerhafte Errungenschaft der Französischen Revolution bestehen. Aber man näherte sich wieder dem alten System eines Staatenbunds, einem lockeren Zusammenschluss von nunmehr fünfundzwanzig Kantonen, die sich als souveräne Staaten betrachteten. In ihrem «Bundesvertrag» garantierten sich die Kantone gemeinsame Sicherheit durch gegenseitige Hilfeleistung. Eine Konferenz von Delegierten – die Tagsatzung – konnte gemeinsame Entscheide fällen. Diese Delegierten waren jedoch an die Weisungen ihrer kantonalen Regierungen gebunden, deshalb war ein Konsens nur schwer zu erreichen. Der Staatenbund von 1815 hatte also weder ein Parlament noch ein Exekutivorgan, und der Bundesvertrag enthielt anders als die vorherigen Verfassungen keine Freiheitsrechte zugunsten der Bürger (Kölz 1992:184). Mit andern Worten: Der Schweiz fehlten wichtige Eigenschaften eines Nationalstaats.1

Die folgenden Jahrzehnte waren von einer zunehmenden Polarisierung zwischen den politischen Bewegungen des Freisinns und der Konservativen gekennzeichnet. Die Konservativen stammten vor allem aus katholischen und ländlichen Gebieten. Als Minderheit lehnten sie die Aufhebung der Einstimmigkeitsregel für Beschlüsse der Tagsatzung ab, und noch mehr widersetzten sie sich der Idee einer starken Zentralregierung. In einer Zeit der beginnenden Demokratisierung auf kantonaler Ebene wollten die Konservativen auch die starke politische und kulturelle Stellung der katholischen Kirche bewahren. Auf der anderen Seite stand die Bewegung der Freisinnigen. Sie war vorwiegend in den protestantischen, städtischen und industrialisierten Gegenden verwurzelt. Ihr politisches Ziel der Demokratisierung erreichte sie in elf Kantonen in der sog. Regenerationszeit nach 1830.2 Unter der Devise der «Volkssouveränität» und des «Fortschritts» entstanden liberale Verfassungen, die das Stimm- und Wahlrecht für die erwachsenen Männer, die Gewaltentrennung, die Öffentlichkeit der Parlamentsdebatten, aber auch die Trennung von Kirche und Staat brachten (Blum 1983).

Das laizistische Staatsverständnis des Freisinns verweigerte der konservativen Minderheit die Bewahrung der gesellschaftlichen Vorrechte ihrer Kirche. Damit verschärfte sich zu Beginn der kantonalen Demokratisierung nochmals der konfessionelle Konflikt. Dieser hatte in der Alten Eidgenossenschaft zu vier Religionskriegen geführt. An deren Ende stand aber immer der Versuch zur Verständigung und des friedlichen Zusammenlebens zwischen den katholischen und protestantischen Gebieten. Statt zur politischen Vorherrschaft einer Seite kam es zu einem labilen Gleichgewicht (vgl. Kasten 2.1).

Kasten 2.1: Religiöse Konflikte vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zwischen protestantischen und katholischen Kantonen


1529:Ein militärischer Konflikt zwischen dem protestantischen Zürich und den fünf katholischen Kantonen wird durch den «Ersten Kappeler Landfrieden» verhindert, der konfessionelle Toleranz garantiert.
1531:Die protestantischen Truppen von Zürich und Bern verlieren Kämpfe gegen die Katholiken. Im «Zweiten Kappeler Landfrieden» wird zwar die protestantische Konfession anerkannt, doch setzen die siegreichen Katholiken einige Vorrechte durch. Dieser «Zweite Kappeler Landfrieden» stabilisiert die Machtverhältnisse zwischen katholischen und protestantischen Kantonen bis 1656.
1656:Bern und Zürich versuchen, ihre Position gegenüber den Katholiken zu verbessern, verlieren aber den «Ersten Villmerger Krieg», der die katholische Dominanz bestätigt.
1712:Den «Zweiten Villmerger Krieg» gewinnen die Protestanten. Der Sieg beendet die katholische Vorherrschaft in der Alten Eidgenossenschaft und sichert den protestantischen Kantonen Bern und Zürich einen ihrer wirtschaftlichen Grösse angemessenen politischen Einfluss.

Die Religionsfrage stellte in der Regenerationszeit nicht den einzigen Konfliktpunkt zwischen Freisinnigen und Konservativen dar. So waren Schutzzölle für die kantonale Industrie und ihre Tarife heftig umstritten. Die religiöse Frage trug aber besonders zur Vergiftung des politischen Klimas zwischen den beiden Lagern bei, nachdem freischärlerische Truppen den Kanton Luzern von seiner konservativen Regierung «befreien» wollten, was Letztere mit militärischen Mitteln verhinderte. 1845 schlossen sich die katholischen Kantone zur Verteidigung ihrer gemeinsamen Interessen zu einem Sonderbund zusammen. Ausserdem versuchten sie auf diplomatischem Wege, Unterstützung für ihre Anliegen von Österreich, Frankreich und Sardinien zu erhalten. Nach erfolglosen Vorstössen zur Änderung des Bündnisses von 1815 verliessen die katholischen Kantone 1846 die Tagsatzung. Das wurde den Sonderbundskantonen als Sezession ausgelegt. Die protestantischen Kantone intervenierten 1847 mit ihren Truppen. In einem kurzen Bürgerkrieg und nach 26 Kampftagen mit etwa hundert Toten waren die Sonderbundskantone besiegt.

Für die siegreichen Freisinnigen war der Weg nun frei für ihr Vorhaben, einen Bundesstaat auf der Grundlage einer nationalen, demokratischen Verfassung einzurichten. Dessen Grundzüge waren:

1. Eine Staatsbildung von unten: Der Übergang vom Staatenbund zu einem schweizerischen Bundesstaat, in welchem die 25 Kantone alle Hoheitsrechte und Aufgaben behielten, die sie nicht ausdrücklich dem Bund übertrugen.

2. Die Beschränkung der Bundesgewalt auf wenige Aufgaben, so vor allem die Wahrung der Unabhängigkeit, die Vereinheitlichung von Zoll, Mass und Gewicht oder das Postwesen.

3. Das Prinzip des Föderalismus, das in den Angelegenheiten des Bundes jedem Gliedstaat eine gleiche Stimme unabhängig von seiner Grösse einräumte.

4. Die Einrichtung einer demokratischen Grundordnung mit Exekutive und eigenem Parlament, mit Grundrechten, Gewaltentrennung und freien Wahlen, deren Minimalanforderungen auch für alle Kantone verbindlich erklärt wurden.

Der Verfassungsvorschlag wurde 1848 der Volksabstimmung unterbreitet. Da ein schweizerisches Staatsvolk noch nicht existierte, oblag die Abstimmung den Kantonen im Rahmen ihrer eigenen politischen Ordnung. So entschied in Freiburg und Graubünden das kantonale Parlament «im Namen des Volkes». In Luzern kam die Zustimmung des Kantons dadurch zustande, dass die freisinnige Regierung jene dreissig Prozent, die der Urne fernblieben, den Ja-Stimmen zurechnete. Für den Zusammenschluss vom Staatenbund zum Bundesstaat wäre eigentlich – gemäss den Regeln des Staatenbunds – die Einstimmigkeit der Kantone erforderlich gewesen, die sich als «souverän» betrachteten. Die freisinnige Mehrheit definierte die Regeln aber anders: Sie liess es bei der unbestimmten Formel einer «genügenden Mehrheit» bewenden. Nachdem zwei Drittel der Kantone zugestimmt hatten, gab die Tagsatzung am 12. September 1848 bekannt, dass die Bundesverfassung von einer grossen Mehrheit angenommen worden sei (Kölz 1992:608–610; Ruffieux 1983a:10 f.).

B. Aus Nachteilen werden Vorteile, oder: Bedingungen, die den multikulturellen Nationalstaat ermöglichten

Die Schaffung des Bundesstaats von 1848 ist nicht selten als «revolutionär» bezeichnet worden. In der Tat: Im europäischen Umfeld des 19. Jahrhunderts war die Einrichtung eines föderalistisch-republikanischen Verfassungsstaates auf der Grundlage der Volkssouveränität ein einzigartiger Vorgang. Ebenso widersprach ein Zusammenschluss unterschiedlicher Völker dem Zeitgeist. Während sich nämlich die nationalen Vereinigungen Deutschlands (1866–71) oder Italiens (1860–70) unter der Devise einer gemeinsamen Kultur, eines «Staatsvolks», vollzogen, gab und gibt es in der Schweiz kein Staatsvolk gleicher Ethnie, Sprache, Religion oder Kultur.3 In der Bundesverfassung von 1848 sucht man deshalb den Begriff des Staatsvolks vergeblich. Ihr erster Artikel lautete: «Die durch gegenwärtigen Bund vereinigten Völkerschaften der zwei und zwanzig souveränen Kantone … bilden in ihrer Gesamtheit die schweizerische Eidgenossenschaft.» Es sind also die Kantone als Gliedstaaten, die den Bund konstituieren. Mit 1848 beginnt die Schweiz als eine multikulturelle Nation (Richter 2005:88 ff.).

Diese Zusammenführung verschiedener Kulturen kantonaler Kleingesellschaften zur gesellschaftlich-politischen Einheit ist von ähnlicher Bedeutung wie die Einrichtung der Demokratie. Der vom Staatsrechtler Carl Hilty betonte Begriff der «Willensnation» hat hier seine Berechtigung, besonders wenn man sich die Schwierigkeiten der Staatsgründung vergegenwärtigt. Denn innerhalb der politischen Lager der widerstrebenden Konservativen und des staatsgründenden Freisinns versteckte sich eine Reihe von gesellschaftlichen Gegensätzen und Konflikten, die noch zu überwinden waren. Es gab erstens ein voraussehbares Minderheitenproblem für die Französisch, Italienisch und Romanisch sprechenden Volksteile, denen eine deutschsprachige Mehrheit von 70 Prozent der Bevölkerung gegenüberstand. Wegen dieser sprachlichen und religiösen Teilung mussten die Minderheiten befürchten, in einem Nationalstaat zurückgesetzt zu werden. Zweitens unterschieden sich die ökonomischen Strukturen der Kantone grundlegend voneinander. Einzelne Regionen waren Orte früher Industrialisierung. Diese forderten den weiteren Abbau von Handelshemmnissen, was aber den Interessen des Konkurrenzschutzes der Agrarkantone (aber auch der Zünfte einzelner Städte wie Basel) entgegenlief. Drittens waren einzelne Kantone intern wenig integriert oder zerbrachen gar an internen Konflikten. In Basel zum Beispiel war die Stadt zu lange nicht bereit, ihre politische Vorherrschaft über die umliegenden Gebiete aufzugeben. Als ein Kompromiss über die Vertretung beider Teile im Parlament scheiterte, spalteten sich Stadt und Landschaft in zwei unabhängige Halbkantone.4

Die gesellschaftlichen Spaltungen zwischen Sprache, Religion, Zentrum-Peripherie sowie Stadt und Land finden sich zwar überall auf den historischen Landkarten Europas. Die Politologen Lipset und Rokkan (1967) haben auf ihre generelle Bedeutung für die modernen Staatsgründungen in ganz Europa hingewiesen. Die Frage lautet aber für uns: Warum haben die schweizerischen Kantone angesichts ihrer Spaltungen und ihrer divergierenden Interessen überhaupt zu einer Staatsgründung gefunden? Mindestens so wahrscheinlich wie die Bildung eines modernen Territorialstaats wäre gewesen, dass sich die Kantone in ihren gegenseitigen und internen Machtkämpfen blockiert hätten, um vielleicht eines Tages von der Landkarte zu verschwinden. Was also brachte die Kantone zu einem demokratischen Nationalstaat zusammen? Unserer Ansicht nach waren fünf Faktoren ausschlaggebend.

1. Ein grösserer Markt für die industrielle Wirtschaft

Mitte des 19. Jahrhunderts war bereits eine beachtliche Anzahl der Kantone industrialisiert. Die Nutzbarkeit der Wasserkraft entlang der Flüsse begünstigte eine dezentrale Industrialisierung bis in die Täler der Voralpen hinein. Die erste Eisenbahnstrecke wurde 1847 zwischen Baden und Zürich eröffnet. Die neuen Eliten, deren Macht und Ansehen nun weniger auf Familientraditionen beruhten als auf Kapital und geglückter unternehmerischer Initiative, sahen in den Kantonsgrenzen ein Hindernis für ihre ausgreifende Industriewirtschaft. Dem kam die neue Verfassung entgegen, indem sie versprach, Handelshemmnisse zu beseitigen und einen gesamtschweizerischen Binnenmarkt zu schaffen: Kantonale Zölle wurden aufgehoben, Masse und Gewichte vereinheitlicht, eine Landeswährung eingeführt und ein nationaler Postdienst gegründet. Zusätzlich hielt die Verfassung als Ziel die «gemeinsame Wohlfahrt» fest und garantierte gleiche Rechte sowie die Niederlassungsfreiheit für alle Schweizer Bürger. Dies alles diente dem privaten Handel und der Industrie, was den Historiker Martin (1926:265) zu folgender Aussage veranlasste: «Die Bundesverfassung ist nicht aus einer Idee, sondern aus einem Bedürfnis entstanden … Die wirtschaftliche Einheit ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Existenzbedingung für den Bund angesehen worden. Aus dieser Notwendigkeit ist die politische Einheit hervorgegangen, und diese hat zur Aufgabe gehabt, die wirtschaftliche Einheit zu schaffen.»5

2. Wachsender politischer Druck von aussen

An den Verhandlungen des Wiener Kongresses 1815 waren die Grossmächte bei der Suche nach stabilen Verhältnissen im nachrevolutionären Europa nicht unglücklich über eine neutrale Zone zwischen Österreich, Sardinien-Piemont und Frankreich. Damit wurde die aussenpolitische Neutralität des schweizerischen Staatenbundes, welche sich die Alten Orte seit 1648 zu ihrer Vertragspflicht gemacht hatten, zum ersten Mal von den grossen europäischen Mächten anerkannt. Zwischen 1815 und 1848 spürten die Kantone dennoch, dass sie den guten oder weniger guten Absichten der angrenzenden Länder ausgesetzt waren. Zwar war die territoriale Unabhängigkeit der Kantone nie in Gefahr, doch mischten sich die Grossmächte auf diplomatischer Ebene in innere Angelegenheiten ein. Der Sonderbund und die diplomatischen Versuche seiner Mitglieder, die Nachbarstaaten für ihre Zwecke zu gewinnen, wiesen aber auch auf die innere Zerbrechlichkeit des Staatenbunds hin. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kündigten sich für die Schweiz bedeutungsvolle Veränderungen in der Nachbarschaft an: Im Prozess der nationalen Einigung wurden die Königreiche Bayern, Baden und Württemberg Teile Deutschlands und Lombardei-Venetien sowie Sardinien-Piemont Teile Italiens. Was würde die Zukunft bringen, wenn sich die Nachbarn der Schweiz zu grossen Nationalstaaten wandelten, zu denen auch noch sprachliche Affinitäten bestanden? Dem gesteigerten Bedürfnis nach kollektiver Sicherheit der Kantone entsprach einzig ein Bundesstaat. Dessen Verfassung von 1848 nannte denn auch die gemeinsame Wahrung der Unabhängigkeit der Nation in «Einheit, Kraft und Ehre» gegen aussen sowie die Garantie von Ruhe und Ordnung im Innern als eines seiner Hauptziele und übertrug diese Aufgaben einer handlungsfähigen Behörde.

3. Die Kultur gegenseitiger Hilfe und Zusammenarbeit in der Kleingesellschaft

Die Schweizer hatten die moderne Demokratie nicht erfunden; ihre Ideen kamen vielmehr von aussen durch die Französische Revolution. Erst das Verfassungsdiktat der Helvetik hatte Vorrechte der Geburt beendet, individuelle Freiheitsrechte deklamiert und die Gewaltentrennung eingeführt. Auch die erste Erfahrung mit einer nationalen «Volkssouveränität» auf der Grundlage individueller politischer Rechte entstammt der Revolutionszeit: 1802 fand anlässlich der Genehmigung der Zweiten Helvetischen Verfassung die erste schweizerische Volksabstimmung statt (Kölz 1992:140). Von aussen stammt auch das Konzept der Verbindung von Föderalismus und Demokratie: Dafür standen die USA Modell.6

Monarchische, nicht republikanische Staatsformen waren im Europa des frühen 19. Jahrhunderts die Regel. Bei allen Ideen und Anleihen von aussen musste sich deshalb der schweizerische Demokratisierungsprozess auch auf eigene gesellschaftliche Strukturen stützen können, um Erfolg zu haben. Verschiedenste kulturelle und soziale Traditionen dürften den Weg dahin geebnet haben. Die jahrhundertealte Unabhängigkeit war den kleinen Kantonen zwar teuer. Aber für den Aufbau einer grösseren Verwaltung fehlten die Mittel. Die Kleingesellschaften der Kantone befriedigten darum viele ihrer Bedürfnisse auf der Grundlage gegenseitiger Hilfe und Selbstverwaltung. In ländlichen Gebieten wie etwa des Wallis gab es die Einrichtung des «Gemeinwerks»: Jeder Einwohner war verpflichtet, einige Tage oder Wochen des Jahres für gemeinsame Einrichtungen der Gemeinde zu arbeiten (Niederer 1956). Auch die lokalen Berufszweige – wie etwa das Handwerk in den Städten – waren in Selbstorganisationen eingebunden, die z. B. die Entscheide über die Marktordnungen gemeinsam fällten. Gegenseitige Abhängigkeit zwang so zur lokalen Zusammenarbeit. Selbstbindung zur Zusammenarbeit ermöglichte aber auch die Realisierung gemeinsamer Vorteile in der Kleingesellschaft (Barber 1974). Deren lokale Versammlungen waren vielfach an Eigentum oder berufliche Stellung geknüpft. Dem setzte das französische Revolutionsrecht das politische Bürgerrecht jedes Einzelnen gegenüber und erzwang damit eine Neuschaffung der Kantons- und Gemeindebürgerrechte. Dies bedeutete einen erheblichen Einschnitt in die alte Tradition lokaler Selbstverwaltung. Es kann aber auch als Beginn einer neuen Tradition lokaler Demokratie gesehen werden: Die kommunalen Primärversammlungen bildeten in der Helvetik das «institutionelle Fundament des neuen Staates» und bestimmten jährlich die Wahlmänner der kantonalen Behörden (Kölz 1992:112 f.). Noch heute ist eine Schweiz ohne (Einwohner-)Gemeinden nur schwer vorstellbar.

4. Die kantonale Demokratisierung

Auf diesem kulturellen Boden und im Sog der französischen Julirevolution (1830) setzte in den Kantonen eine politische Demokratisierungsbewegung ein, für welche Historiker den Begriff der «Regeneration» (1831–1848) geprägt haben. Ihre Wortführer kamen aus der neuen bürgerlichen Elite: vor allem Juristen, Ärzte, Lehrer, Industrielle und Kaufleute in den Landstädten der Mittellandkantone. In einer Vielzahl von Flugblättern und Petitionen an die Behörden der Hauptorte fassten sie ihre liberal-demokratischen Forderungen zusammen: Rechtsgleichheit, persönliche Freiheitsrechte, Volksbildung, Gewaltentrennung, Volkssouveränität im Sinne von repräsentativer Demokratie sowie die Bildung eines Bundesstaates. Die Bewegung wuchs schnell über den Kreis der Eliten hinaus und war erfolgreich. Im kleinen Kanton Thurgau etwa, der weniger als 80 000 Einwohner zählte, wurden in den Gemeinden über hundert Petitionen mit 3000 Vorstössen für eine demokratische Verfassung zusammengetragen und diskutiert (Soland 1980:69 ff.). Auch anderswo verfehlten die Aufrufe ihre Wirkung auf die Bevölkerung nicht, wie die grossen Volkstage zwischen Oktober 1830 und Januar 1831 zeigten. Das Volk erzwang die Wahl von Verfassungsräten, die sofort mit den Verfassungsrevisionen begannen. Im Sommer 1831 verfügten bereits zehn sogenannte liberale Kantone über neue Verfassungen.

Selbstverständlich ging es in dieser staatspolitischen Revolution auch um handfeste, wirtschaftliche Interessen. Kölz (1992:227 ff.) nennt drei verschiedene Gruppen als treibende Kräfte der Regeneration. Mit der Erlangung von Bildung und Besitz strebte erstens ein neues Bürgertum nach mehr politischem Einfluss und Zugang zu allen öffentlichen Ämtern. Es verlangte die Aufhebung des Zunftzwangs, Handels- und Gewerbefreiheit sowie die Verminderung von Zöllen und Gebühren. Die bäuerlichen, gewerblichen und ländlichen Schichten als zweite Kraft forderten vor allem die Beseitigung alter Zehnten und Grundlasten, die Aufhebung indirekter Steuern und Abgaben, die Einführung direkter Steuern (auf Einkommen und Vermögen), eine Reform des Hypothekarwesens, die Verkürzung des Militärdienstes, die Senkung des Salzpreises sowie die Verbesserung und Verstaatlichung des Armenwesens. Mit den letzten Forderungen waren auch soziale Fragen angeschnitten, von denen vor allem die industrielle Landbevölkerung betroffen war. Die liberalen Regimes sollten in der Folge allerdings wenig mit ihnen anfangen. Als dritte Gruppe nennt Kölz die aufgeklärten «Stadtliberalen» etwa Zürichs oder Berns, die nicht die Demokratisierung im Auge hatten, sondern vor allem staatspolitische Anliegen vertraten. Trotz der breiten Volksbewegungen bleibt es schwierig zu sagen, ob die liberale Bewegung eine soziale Revolution «von oben» oder «von unten» war. So meinen Masnata/Rubattel (1991:42 ff.) kritisch, dass die Demokratisierung die alten Machteliten nicht beseitigte, sondern dass sie, zusammen mit der Bundesverfassung von 1848, vor allem die politische Voraussetzung für eine ungehinderte Entfaltung des Industriekapitals geschaffen hätte.

Die erfolgreiche Demokratiebewegung in den Kantonen war aber in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Im Zeichen der Volkssouveränität realisierte sie – mit wenigen Einschränkungen – ein allgemeines Männerstimmrecht, wie es zu jener Zeit nur die USA kannten. Und während die amerikanischen Verfassungsväter die Risiken und Launen eines unberechenbaren «Demos» durch viele Regeln – etwa die Teilerneuerung des Senats und die «checks and balances» zwischen den staatlichen Gewalten – eindämmten, gingen die Kantone genau den umgekehrten Weg. Sie begnügten sich nicht mit der Rolle des Volks als Wahlkörper, sondern übertrugen ihm auch materielle Entscheidungsbefugnisse. In den Kantonen brachten das «Veto» und das Referendum die Anfänge der Abstimmungsdemokratie, die dem Volk eine direkte Nachkontrolle parlamentarischer Entscheidungen erlauben.

Die kantonale Demokratisierung begünstigte die Gründung des Nationalstaats. Denn zunächst waren die erfolgreichen liberal-demokratischen Kräfte zugleich Träger der Idee des Bundesstaats. Sodann erleichterte die Erfahrung kantonaler Demokratie die Übertragung des Demokratiekonzepts auf die nationale Ebene. Schliesslich war das allgemeine Stimm- und Wahlrecht in gewissem Sinn ein Ersatz für die noch fehlende schweizerische Gesellschaft: Es gab kaum etwas Gleiches zwischen Deutschschweizern, Romands und Tessinern oder zwischen Protestanten und Katholiken ausser dem demokratischen Recht auf politische Teilnahme, zuerst in den Kantonen und dann auch im neuen Staat. Das allgemeine Stimm- und Wahlrecht sowie die Volkssouveränität wurden dadurch zu den wohl wichtigsten symbolischen und realen Elementen, welche die abgekapselten Gesellschaften der Kantone miteinander verbanden und ihre politische Integration gestatteten.

5. Die Verbindung von Demokratie- und Föderalismusprinzip

Unsere letzte Behauptung, dass das Demokratieprinzip der nationalen Einigung förderlich war, stösst sofort auf einen zentralen Einwand: Wo bleibt der Einfluss der Minderheiten, wenn die einfache Mehrheit der Stimmen entscheidet? Die theoretische Antwort lautet: Auch die Beschlüsse einer Mehrheit sind nie endgültig. Die Minderheit darf versuchen, Entscheide neu zur Diskussion zu stellen. Zudem können sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament oder nach Wahlen ändern. Diese theoretische Antwort kann konfessionelle oder ethnische Gruppen als permanente Minderheiten freilich nicht befriedigen. Denn das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition ist nur möglich bei der Änderung von Präferenzen, die der Bürgerschaft als Ganzem offenstehen. Die Interessen struktureller Minderheiten der Sprache, Kultur, des Geschlechts oder der Ethnie jedoch haben kaum eine Chance, durch veränderte Präferenzen mehrheitsfähig zu werden: Demokratie macht aus Deutschschweizern keine Romands und aus Protestanten keine Katholiken. Für die Interessen struktureller Minderheiten ändert sich darum das Mehrheitsverhältnis in einer Demokratie nicht. Umgekehrt kann es sich eine strukturelle Mehrheit leisten, Minderheiten systematisch zu übergehen. Eine Mehrheitsdemokratie kann also zu «ewigen» Machtverhältnissen und Diskriminierung führen. Genau dies waren die Befürchtungen der Minderheitskantone. Katholiken, Romands und Tessiner hatten Grund zur Annahme, dass sie in einem Nationalstaat unter deutschschweizerisch-freisinniger Hegemonie die ewigen Verlierer wären, ihre Bedürfnisse und Interessen systematisch benachteiligt blieben.

Ein zweites Problem: Auch die Freisinnigen waren keineswegs frei in der Errichtung des Bundesstaats. Denn auch für ihre Kantone bedeutete der Zentralstaat den Verzicht auf Teile eigener Autonomie. Die Zentralisierung konnte also nur so weit stattfinden, als plausibel gemacht werden konnte, dass die Vorteile der Zusammenarbeit im Bundesstaat die Nachteile des Verlustes eigener Autonomie überwogen. Die Antwort auf beide Probleme bestand in der Kombination von Demokratie- und Föderalismusprinzip. Dies beinhaltete zweierlei:7

1. Mitwirkung beim Bund als Ersatz für den Verlust kantonaler Souveränität: Die Verfassung gab den Kantonen die Möglichkeit, sich am Entscheidungsprozess auf nationaler Ebene zu beteiligen. Ähnlich dem amerikanischen Zweikammersystem wird der Nationalrat, dessen kantonale Sitzverteilung der Bevölkerungsgrösse entspricht, von einem Ständerat ergänzt, in dem die Kantone unabhängig von ihrer Grösse mit zwei Stimmen repräsentiert sind. Zudem reden die Kantone bei Verfassungsänderungen mit, da neben dem Volksmehr auch eine Mehrheit der Kantone zustimmen muss. In der Gesetz- wie in der Verfassungsgebung wird also die demokratische Entscheidungsregel «eine Person – eine Stimme» ergänzt durch die föderalistische Entscheidungsregel «ein Kanton – eine Stimme». Da bindende Entscheidungen nur durch Zustimmung beider Räte zustande kommen, wurde der Einfluss der kleinen (und das waren vornehmlich konservative) Kantone verstärkt.

2. Nichtzentralisierung: Die politische Heterogenität der Kantone setzte der Zentralisierung enge Grenzen. Dem Bund von 1848 wurden nur wenige Kompetenzen eingeräumt. Damit beliess das Verfassungsprojekt den Kantonen die meisten ihrer Aufgaben und eine grösstmögliche Autonomie. In allen Fragen, die den Kantonen vorbehalten blieben, waren weiterhin unterschiedliche Antworten gemäss den besonderen Präferenzen der jeweiligen kantonalen Mehrheiten möglich. Diese Nichtzentralisierung versprach den Fortbestand kulturell verschiedener Lebensstile und den Schutz der konfessionellen und sprachlichen Besonderheiten der Kantone. Sie bedeutete auch eine Konzession an die katholisch-konservative Minderheit. So enthielt das Verfassungsprojekt einen doppelten Kompromiss: einen Interessenausgleich zwischen Zentralisten und Bewahrern kantonaler Autonomie und einen Teilausgleich zwischen Freisinn und Katholisch-Konservativen. Beides erhöhte die Chancen einer Annahme in der ersten Volksabstimmung, die für die Gründung des Bundesstaats erforderlich war.

Kasten 2.2: Geschichtsmythen als schweizerische Erinnerungskultur

Im 19. Jahrhundert wirkten Geschichtsmythen überall in Europa als Katalysatoren der Nationalstaatenbildung. Historische Mythen vermischen auf Quellen gestützte Fakten mit Geschichtskonstruktionen, homogenisieren die Gesellschaft und fördern den Willen zum Zusammenleben, bieten gemeinsame Normen und Werte an, wecken kollektive Unabhängigkeits- und Freiheitsgefühle, schenken der eigenen Gemeinschaft einen schicksalshaften, oft gottgewollten Ursprung und helfen, deprimierende kollektive Erfahrungen aus der Vergangenheit aufzuarbeiten (Filser 2004). Historische Mythen lassen, wie es Ernest Renan in seiner 1882 gehaltenen Rede «Que est-ce que c’est une nation?» ausdrückte, die Nation als «Schicksalsgemeinschaft der Lebenden mit den Toten und den noch Ungeborenen» erscheinen (Hobsbawm 2004:225). Sie setzen die Vergangenheit absichtlich mit der Gegenwart zusammen und künden darüber hinaus von einer heilvollen Zukunft.

Während und nach der Gründung des Bundestaates fungierten längst vergangene Schlachten und Heldenfiguren als «Erinnerungsorte» für die junge Schweizer Nation (Nora 1996). So machten um 1848 etwa Geschichten und Lieder über Arnold von Winkelried die Runde. Man berichtete, er habe in der Schlacht von Sempach 1386 die habsburgischen Lanzen auf sich gezogen, um seinen eidgenössischen Mitstreitern und der Freiheit eine Bresche zu schlagen. Seit 1865 erinnert das Winkelrieddenkmal in Stans an den heldenmütigen Widerstand der Eidgenossen gegen übermächtige fremde Vögte. Wilhelm Tell wurde im 19. Jahrhundert ebenfalls verehrt. Als Ideal eines hart arbeitenden, einfachen, fürsorglichen und freiheitsliebenden Bergbauers und Familienvaters zierte seine Gestalt Dorfplätze, Briefmarken sowie Postkarten, und noch heute erinnert der Fünfliber an den Schweizer Nationalhelden. Auch wenn der Tellmythos auf einer alemannischen Sage aufbaute, half er in allen Schweizer Landesteilen, den Widerstandsgeist gegen Fremdbestimmung und eine Alpenromantik als charakteristische Schweizer Tugenden zu konstruieren (Richter 2005:89–90). Auch die Gaststätten im jungen Bundesstaat trugen geschichtsträchtige Namen: Helvetia, Drei Eidgenossen, Weisses Kreuz oder eben Wilhelm Tell.

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