Kitabı oku: «Annie Dunne»
Sebastian Barry
Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser
Roman Steidl
Für Derek Johns
Inhalt
Cover
Titel
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Über die AutorInnen
Weitere Bücher
Impressum
Erstes Kapitel
Ach, Kelsha ist ein abgelegener Ort, hinter den Bergen, ganz gleich, von wo man kommt. Man muss über die Berge, um dorthin zu gelangen, und schließlich durch Träume.
Ich kann die beiden Kinder noch vor mir sehen, bei ihrer Ankunft, in ihre Mäntel gehüllt. Der Sommer hat gerade begonnen, und all die Rituale des Winters und des Frühlings liegen hinter uns. Nicht, dass sich um diese Rituale heute noch jemand schert.
Mein Großneffe und meine Großnichte, Bezeichnungen, die nach den Kindern eines russischen Zaren klingen.
Mein Holzapfelbaum scheint über ihre Ankunft zu wachen, wie ein armer Mann, der seit Ewigkeiten mit der Mütze in der Hand auf Almosen wartet. In den Buchen und in der Esche rauscht es, und die Hühner gackern ihre kleine Musik. Shep springt umher wie ein Kind bei einem Tanz, mit seinem zweiten Fell aus Torfschlamm und den gelben Abwässern, die auf Höfe sickern, wo die Hunde so gern dösen.
Die Mäntel der Kinder sind sehr schöne Mäntel, Stadtmäntel. Was Mäntel betrifft, ist ihre Mutter nicht nachlässig, was immer ich sonst noch über sie sagen könnte. Doch für das Leben auf einer Farm sind sie zu schön. Wir werden sie in altes Packpapier einschlagen, sie in dem kleinen blauen Schrank in ihrem Zimmer verwahren und, so gut es geht, die Motten von ihnen fernhalten.
Durch den unteren Teil der Halbtür treibe ich die Kinder wie Kälbchen ins schöne Dämmerlicht der Küche. Auf dem blank gescheuerten Tisch stehen die riesigen Sandwiches bereit, balancieren wie verformte Brettchen auf blau-weißen Tellern. Worte werden gesprochen, und ich spüre den großen Respekt, den Sarah dem Vater der Kinder entgegenbringt, Trevor, meinem feinen Neffen mit dem sonderbaren, englisch klingenden Namen, prachtvoll in seinem grünen Künstleranzug. Sein mächtiger roter Bart, sein glatt nach hinten gekämmtes Haar, ganz wie ein Pariser Intellektueller, ein gutaussehender Mann mit dunkelbraunen zornigen Augen. Er reicht ihr ein paar Geldscheine, die sollen uns helfen, die Kinder durch den Sommer zu bringen. Ich bin stolz darauf, dass sie ihn so achtet, und stolz auf ihn, weil ich ihn großgezogen habe, damals, als meine Schwester verrückt geworden war. Meine arme Schwester Maud, die am Ende nur noch Unsinn vor sich hin brabbeln konnte.
Trevor und die Mutter der Kinder haben Großes vor, sie wollen übers Meer nach London, um zu sehen, welche Möglichkeiten sich dort bieten. Hier, in seinem eigenen Land, warten nur faulige Tümpel auf ihn, nichts, was ihn locken könnte. Mit Hilfe eines Stipendiums hat er sich weitergebildet, und ich kann den Geruch der Hoffnung an ihm riechen, den Mantel des jungen Mannes. Aber seine Hoffnung ist stark und echt. Ich bin sicher, dass er für sich und die Seinen ein Plätzchen finden wird, wo sie wohnen können und von wo aus er sich umtun und eine Anstellung finden kann. Er hat die unbedingte Entschlossenheit seines Großvaters, der vom einfachen Polizeirekruten zum Chief Superintendent der B Division in Dublin, der Hauptstadt des ganzen Landes, aufgestiegen war.
Sein Vater Matt, Mauds Ehemann, der mich so gut wie aus dem Haus geworfen hat, als sie schließlich starb, mag sich in seinen glänzend gewienerten Schuhen jeden Morgen von dem gemieteten Haus in Donnybrook zu den wilden Außenbezirken von Ringsend schleppen, wo er Kindern, die dem Unterricht so begeistert folgen, als müssten sie Ohrenkneifer verspeisen, Malen und Zeichnen beibringt. Hin und zurück auf dem schwarzen Fahrrad mit der Winterlampe und der kaum zu hörenden Klingel, in Gedanken nur beim Sommer, wenn er, sein Schicksal verfluchend, wieder die mückenverseuchte Schönheit von Wicklow malen kann.
Aber Trevor mit seinem roten Bart hat die Stärke und die Zielstrebigkeit einer anderen Generation.
Jetzt küsst er die Kinder auf den Scheitel und sagt auf Wiedersehen, benehmt euch, wir sehen uns in ein paar Monaten.
»Ich schreib dir jeden Tag«, sagt der kleine Junge, was lustig ist, denn er ist noch viel zu jung, um schreiben zu können. Doch der Vater hört seinem Sohn gar nicht zu, er starrt ins Leere, zweifellos abgelenkt von all den Dingen, die noch zu erledigen sind, den Vorkehrungen, den Fahrkarten, den Gebeten, die sich, so will ich meinen, ungefragt einstellen werden, obwohl er, wie ich weiß, beteuert, ein gottloser Mann zu sein, einer von dieser modernen Sorte, um den ich bangen würde, wenn nicht er es wäre.
»Jeden Tag, jeden Tag«, wiederholt der Junge entschieden.
»In meinem Poesiealbum werd ich den ganzen Sommer über Blumen für dich pressen«, sagt das kleine Mädchen. »Hier gibt’s sowieso niemand, der mir was reinschreiben könnte.«
»Passt auf euch auf in London«, sage ich zu ihm. »Und um die Kinder müsst ihr euch keine Sorgen machen. Ihr werdet genug damit zu tun haben, euch einzurichten.«
»Sobald alles an seinem Platz ist, lassen wir die Kinder nachkommen«, sagt Trevor. »Danke, Tante Annie. Das ist eine große Hilfe.«
»Es ist weiß Gott keine Mühe. Wir sind froh, sie hier zu haben.«
»Verwöhn sie nicht«, sagt er.
»Nein. Aber wir werden uns gut um sie kümmern.«
»Schön«, sagt Trevor, gibt mir einen Kuss auf die Wange und ist schon fort, hinaus ins schwache Sonnenlicht. Er schaut nicht zurück, obwohl die Kinder zur Tür eilen.
»Kommt jetzt rein«, sage ich für den Fall, dass sie ihren Vater plötzlich lautstark vermissen – so, als würde jemand unerwartet das Radio aufdrehen, »wir zeigen euch eure Betten, und ihr könnt eure Siebensachen in die Schubladen räumen, dann ist alles tipptopp.«
Wir alle, Sarah und ich und die Kleinen, hören, wie das Auto im Rückwärtsgang von unserem unebenen Hof wieder auf den Feldweg nach Kiltegan biegt. Das Glen of Imaal wird er meiden, weil er sich zu Recht vor den ausgefahrenen Straßen fürchtet. Ach, in diesen einsamen Gegenden leben sie noch in einer anderen, längst vergangenen Zeit, dort zeigt kein Kalender das Jahr 1959 an.
»Sarah und ich haben euer altes Zimmer geputzt«, sage ich mit sanfter Stimme.
Einen Augenblick lang wissen sie nicht vor noch zurück, wie Vieh, das in der Lücke zwischen zwei Weiden steht.
»Wenn ihr nicht bei uns seid, ist das alte Zimmer voller Spinnweben. Obwohl wir erst im April im ganzen Haus ordentlich Frühjahrsputz gemacht haben. Ich habe die Wände frisch gekalkt, also kommt mit euern schönen Sachen nicht dagegen, sonst gibt’s Streifen. Seit zwei Tagen ist das Feuer an, und die Matratzen sind gelüftet, so wie’s euch gefällt.«
Das Zimmer ist karg, das Zimmer ist kahl. Auf dem Kaminrost schwelt ein Häufchen brauner Torfsoden, an dessen Rändern ein granatrotes Feuer glimmt. Das Fenster ist klein wie eine Eule und rahmt den Wildwuchs der Esche, den dichten Schopf aus neuen Trieben, die unten der Wurzel entsprießen.
Der Kamin ist nur ein Loch mit einem schmalen Streifen lackierten Eisens als Sims. Nichts tickt in diesem Raum, die große Uhr hängt in der Küche.
»Wohnen die Mäuse noch über uns, Tante Anne?«, fragt der Junge, und ich kann spüren, wie er den Sprung macht, den kleinen Sprung auf uns zu. Er nennt mich Tante Anne wie sein Vater, fällt mir auf, obwohl ich in Wahrheit seine Großtante bin. Es ist wie ein Kompliment.
»Die Mäuse?«, frage ich zerstreut, während ich ihre wenigen Kleidungsstücke in die Schubladen räume, die nach Mottenkugeln riechen und nach den Säckchen mit Knöchelchen getrockneter Kräuter. Ich verspüre die Erleichterung wie einen Luxus, wie einen Riegel Schokolade. »In diesem Haus hat es immer schon Mäuse gegeben.«
»So«, sage ich, als die Sachen ordentlich verstaut sind, »jetzt seid ihr Leute aus Wicklow. Und das ist euer Nest. Es ist schön, wieder Küken im Nest zu haben. Ich hoffe, ihr werdet diese alten Knochen nicht allzu sehr strapazieren. Und jetzt ab in die Küche, da gibt’s was zu essen.«
Sie wissen nichts von alten Knochen. Sie folgen mir brav in die Küche. Die ganze Welt ist neu für sie, und nur wenig, wenn überhaupt etwas, kommt ihnen hässlich vor. Nichts ist alt. Sie wissen nicht, wie anstrengend es ist, Kinder zu hüten.
In letzter Zeit werde ich gegen Ende des Tages immer langsamer, wie eine Uhr, die aufgezogen werden muss. Meine Bewegungen lassen nach, und ich greife mit möglichst geringem Kraftaufwand nach den Dingen. Selbst meine Worte dehnen sich. Plötzlich erfasst mich die Angst, wir könnten zu alt sein, um auf die beiden Kleinen aufzupassen. Hundert Pflichten, und nun zwei Wesen, so energiegeladen wie eine Dampflokomotive.
Doch die Angst vergeht, und ein Gefühl tiefster Zufriedenheit, freudigster Erwartung stellt sich ein. Zwei kleine Kinder in einer kleinen Küche auf dem Land, wie sie sich über die riesigen Sandwiches hermachen. Die Steinplatten unter unseren Füßen sind zu einem beeindruckend dunklen Grün poliert. Die Anrichte an der Wand neben der Tür zu meinem und Sarahs Schlafzimmer ragt, wenn man am Feuer sitzt, hoch hinter einem auf. Darin steht das Geschirr, unser ganzer Stolz, ein ziemlich schlichtes Service, die angeschlagenen Teile ausrangiert auf dem obersten Bord. Lange, gekerbte Holzleisten hindern die Teller am Herabfallen. Nur zwei Bücher finden sich dort, beide dick und in dunkelbraunes Papier eingeschlagen – die Familienbibel meines Vaters und die Gesammelten Werke von William Shakespeare, Seite an Seite wie ein Zwillingspaar.
In diesem Raum herrscht immer Abendlicht.
Das sind wichtige Dinge.
»Vor den Sandwiches hab ich mich gefürchtet«, sagt der Junge heftig kauend.
»Wieso?«
»Wegen eurer Butter.«
»Aber es ist keine Butter drauf«, sage ich in zärtlichem Ton. Einem kleinen Jungen kann ich so etwas nicht übelnehmen. Sarah und ich hatten wohlweislich keine Butter auf die Brote geschmiert. Unsere Landbutter ist ungesalzen, und die Kinder werden ein paar Tage brauchen, bis sie sich daran gewöhnt haben. Wir hatten Sorge, sie könnten die Sandwiches zurückweisen und damit all die Mühe, die wir darauf verwendet hatten.
Sarah scheint bis zu den Schatten hoch oben in der Küche aufzuragen, und dort gibt es viele Schatten. Es ist seltsam, aber sie ist wie ein Mensch, der Häuser nicht gewohnt ist, wie ein Geschöpf, das im Freien lebt, ein Hase, eine Rohrdommel. Aber auf ihrem Gesicht liegt ein Lächeln, ein Strahlen – dauernd dreht sie den Kopf, so wie sich die Lampe eines Leuchtturms dreht, und lässt ihr warmes Lächeln auf die Kinder scheinen.
Ihr volles Haar ist puderweiß, meins dagegen ein stumpfes Grau, und sie hat einen besonderen Geruch, nicht unangenehm, aber schwer zu bestimmen, nicht etwa süß oder parfümiert. Vielleicht sind es ihre gestärkten Blusen unter der nachsichtigen blau-weißen Kittelschürze, vielleicht ist es aber auch die wie gestärkt wirkende Haut, die sie bei der täglichen Reinigung im Schlafzimmer unter Zuhilfenahme von Krug und Waschschüssel seift und schrubbt.
In diesem Haus gibt es nichts, was wir nicht geschrubbt hätten.
Nach landläufigen Maßstäben ist Sarah nicht unbedingt schön, aber anziehend, begehrenswert. Außerdem ist sie schlank und wirkt daher hochgewachsen, wie viele in ihrer Familie. Für die Kinder muss es aussehen, als nehme sie gar kein Ende, so weit reicht sie nach oben, bis in die Wolken ihres Haars. Ihre und meine Mutter waren Schwestern, aber ich glaube nicht, dass ein Fremder irgendeine Ähnlichkeit zwischen uns erkennen würde.
Über mehr als sieben Generationen stellten die Männer meiner Familie die Gutsverwalter von Humewood, die ihren waren Schneitler, als Schneiteln noch ein Handwerk war. Wären nicht Holzpflöcke aus dem Ausland in Mode gekommen, würden die von Sarahs Vorfahren so gehegten und gepflegten Haselnusswälder heute noch von besonderer Fertigkeit und Fachkenntnis zeugen. Und wäre mein Vater dem Landleben nicht so abgeneigt gewesen, hätte er vielleicht eine ähnliche Laufbahn eingeschlagen und diese Gegend nie verlassen – womit er sich eine Menge Ärger erspart hätte. Solche Dinge verbinden uns, Sarah und mich, auch wenn es in Wahrheit eher wirtschaftliche Zwänge waren, die mich wieder zu ihr führten. Ich war glücklich mit meinem Los in Dublin, mit Maud und Matt, mit dem Aufziehen der drei Jungen, doch das alles ist nun Geschichte. Die Zeit schreitet voran, sie kennt kein Verweilen. Die kleinen Jungen sind längst Männer, und Maud lebt nicht mehr.
Ach, die Gesellschaft dieser Kinder ist ein Segen. Sie ist unsere Chance. Nicht, dass wir das nicht wüssten. Wir glänzen vor Freude, wie mit Zucker aufgeschlagener Eischnee.
Als die Kinder gegessen haben, nehme ich sie mit hinüber zur Mauer, der blinden Mauer des Alkovens neben dem Kamin, wo eigentlich das Bett der Hexe stehen sollte, nur dass es keine Hexe mehr gibt, die dort schlafen könnte.
Keine Hexe im eigentlichen Sinn, sondern die alte Mutter, die ihr Zimmer und ihr Ehebett aufgeben musste, wenn der Sohn heiratete und seine frisch angetraute Braut ins Haus brachte. Vermutlich sind Sarah und ich jetzt die Hexen. Allerdings war es keiner von uns beiden vergönnt, Mutter zu werden. Als wir junge Frauen waren, hatten wir es uns so gewünscht.
Dort im Alkoven, wo es so beengt ist wie in der Zelle eines Einsiedlers und wo sich einst ein Bett aus Zweigen und Stroh befand, haben wir die Kinder, wenn wir das Glück hatten, sie bei uns zu haben, im Laufe ihres kurzen Lebens immer gemessen.
Der Kleine ist vier, und als ich ihn gegen den feuchten Putz drücke, fällt mir auf, dass er im letzten Jahr nicht allzu sehr gewachsen ist.
Das Mädchen, inzwischen etwas über sechs, hat einen Sprung von fast acht Zentimetern gemacht.
Das Haar des Jungen ist schwarz wie eine Amsel und klebt am Putz wie ein Rußfleck. Er lächelt und steht ruhig und bereitwillig da: ein kleiner Wachposten. Ich fürchte, in meinem tiefsten Innern glaube ich, dass ein Junge so viel wert ist wie zwei Mädchen. Ein Vorurteil, das ich einfach nicht loswerden kann.
Ihre Körpergröße zu messen ist wie Kälber zu untersuchen. Als hätten wir, solange sie nicht in unserer Obhut waren, um ihr Wachstum gebangt, uns gefragt, ob sie auch ordentlich gefüttert und getränkt würden. Meine Hände zittern, als ich sie auf die schmalen Schultern des Jungen lege. Ein Zittern in der Magengrube, für einen Moment wird mir fast übel. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich zu ihm hinabbeugen muss. Klein ist er und makellos, sein Gesicht so glatt wie der Wasserspiegel eines Brunnens. Sein Lächeln so bezaubernd, dass man es zeichnen möchte, und tatsächlich bin ich mir sicher, dass sein Großvater Matt ihn, um sich vom Unterrichten jener undankbaren Kinder in Ringsend zu erholen, oft gezeichnet hat. Er ist so begabt darin, still zu sitzen. Still wie eine Landschaft.
Es ist wahr, ich verstehe nicht wirklich, was ein Mädchen ist, auch wenn ich vor sehr langer Zeit selber eins war. Wer mich ansieht, wird bestimmt keine Spur davon finden, keinen fortbestehenden Teil von mir, der ihm davon erzählen würde, wie ich einst über die Feldwege von Kelsha, Kiltegan und Feddin gerannt bin, leicht wie ein Büschel Stroh.
»Bin ich sehr gewachsen?«, fragt der Junge fast ein bisschen traurig, so als hätte er meine Gedanken erraten.
»Nein«, erwidere ich lachend. »Wahrlich nicht. Aber einen kleinen Sprung hast du schon gemacht.«
»Wie ich meinem Vater jemals bis zum Scheitel reichen soll, weiß ich nicht«, sagt er.
»Hast du denn die Absicht?«
»Daddy sagt, eines Tages werde ich so groß sein wie er. Aber größer soll ich nicht werden. Er sagt, wenn ich größer bin als er, muss ich von zu Hause ausziehen.«
»Vielleicht wirst du ja gar nicht größer.«
»O doch, werde ich bestimmt«, sagt er, jeder seiner neunzig Zentimeter ganz traurig.
»Ich schätze, deine Schwester wird es vor dir schaffen«, sage ich, und das Mädchen lächelt triumphierend.
»Das würde ihm nicht gefallen«, sagt sie.
»Wem?«
»Ihm«, sagt sie und meint ihren Bruder, denke ich.
Der Junge starrt seine mächtige Schwester an. Nackte Angst in seinen Augen. Diese Angst verstehe ich nicht.
»Dann iss schön deinen Teller leer«, rate ich ihm.
»Jetzt?«, fragt er zweifelnd.
»Nein, jetzt gehst du schlafen. Im Wald ist die Eule erwacht, Zeit für uns Sterbliche, zu Bett zu gehen.«
Die ganze Welt ist still. Die Buchen entlang der Mauer geben Ruhe heut Nacht. Den Wäldern auf dem Kamm muss wohl Schweigen geboten worden sein. Keine knarzenden Äste, die die Kinder stören könnten, die schließlich Stadtkinder sind und Zeit brauchen, um sich an alles zu gewöhnen, nicht nur an die Butter. Gesalzen, ungesalzen, das ist der Unterschied, gesalzenes und ungesalzenes Leben. Sie können sich nicht sofort zu Hause fühlen, das ist unmöglich, ganz gleich, wie sehr ich sie vergöttere.
Ich danke Gott für die windstille Nacht.
Die Kinder sind in ihrem Schlafzimmer und schlafen so fest wie Kiesel in einem Fluss. Ich denke an den kleinen Jungen in seinem Nest aus Laken und Decken. Die Laken steif wie weißer Karton, so gestärkt sind sie.
Ich war so darauf bedacht, ihnen angenehmes, anständiges Bettzeug zu bieten, dass ich’s wohl übertrieben habe mit der Stärke. Macht nichts. Die alte braune Wärmflasche sorgt dafür, dass die Laken ein bisschen weicher werden. Ich weiß, er wird seine kleinen Füße auf sie legen, auf freundschaftliche Art.
Gegenständen gegenüber verhält er sich seltsam, er schreibt ihnen Charaktereigenschaften zu. Darum ist die Wärmflasche seine Freundin. Der alte blaue Bettüberwurf mit den aufgestickten ländlichen Szenen ist sein Freund. Alles im Haus hat er mit einer Art gestillter Sehnsucht begrüßt. Ich frage mich, wovon er wohl träumt.
Vielleicht sieht er im Schlaf die lange, gewundene Straße nach Kelsha vor sich, die glitzernden Hecken, die unbekannten Farmhäuser. Was im Kopf eines kleinen Jungen vor sich gehen mag?
Der Kessel hängt zwar noch an seinem schmutzigen Haken – gegen den fettigen Kochdunst kommen selbst wir nicht an –, aber ich habe ihn vom Feuer weggeschwenkt. Ich darf mich nicht dazu hinreißen lassen, so spät am Abend noch Tee zu trinken, denn dann liege ich steif vor Schlaflosigkeit im Bett, und das kann ich im Augenblick wahrhaftig nicht gebrauchen. Ich werde auf meinen Schlaf angewiesen sein – zu meiner Erholung, dieser freundlichen Schwester des Schlafes.
Ist der Tag voller Mühsal, wird er uns lang; ist er voll schöner Momente, erscheint er uns kurz, und doch ist das Leben an sich nicht mehr als ein Wimpernschlag. Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, ländliche Gedanken vermutlich, alte Redensarten meines Vaters.
Wie ich liebte mein Vater das stille Spektakel des Kaminfeuers, zumindest bis ihn die große Unrast ergriff. Danach war ihm nichts mehr recht.
Wie ich hier so in der Düsternis des verglimmenden Torffeuers sitze, scheint alles weit entfernt, scheint alles auf Abstand bedacht, wie die Rehe, die sich im Morgendämmer vorsichtig aus dem Wald wagen, um das zarte Gras zu äsen. Ich denke an nichts Besonderes, lasse, wie man es an einem Feuer tut, meinen müßigen Gedanken freien Lauf. Und so fällt mir zum Beispiel ohne jeden Grund ein, dass Rehe an jedem Tag des Jahres Sonntagsstaat tragen.
Jack Furlong, der Kaninchenmann, stellt den Kaninchen nach, aber ich weiß, die Rehe würde er nicht jagen. Oben in den Hügeln, wo keine Bäume mehr stehen, gibt es Tausende Kaninchen. Er ist ein zartfühlender Mann, aber es ist nun mal seine Aufgabe, sie zu töten.
Billy Kerr würde die Rehe nicht in Frieden lassen, wenn er sich einen Gewinn verspräche, denn er ist ein Mann ohne Qualitäten. Wahrscheinlich gibt es überall, wo Menschen sind, einen Billy Kerr oder jemanden wie ihn. Sonst wäre ja für immer alles gut.
Aber kein Leben ist gefeit gegen die Risse in den Dingen. Wie ich so ganz allein dasitze, zwischen den schlafenden Kindern und der schlafenden Sarah, die sich in unserem Zimmer hinter mir die Bettdecke über das Gesicht gezogen hat, denke ich nicht bewusst über Billy Kerr nach. Mein Geist geht auf Wanderschaft, es gibt ein gewisses Maß an Behaglichkeit. Die Kinder schlafen lautlos, die Torfasche im Kamin fällt mit dem vertrauten mäusekleinen Geräusch in sich zusammen. Über mir kann ich die winzigen Tanzschritte der wirklichen Mäuse hören, die mit seltsamer Regelmäßigkeit auf dem Dachboden hin und her trippeln, immer von einem Ende zum andern und dann so zielstrebig zurück, als wollten sie einen großen Stern auf die staubigen Dielen zeichnen.
Nach einer Weile werde ich von einem kleinen wimmernden Laut gestört, der aus dem Hühnerstall zu kommen scheint. Der Hühnerstall ist an die südliche Giebelwand des Hauses gebaut oder doch fast, und so sind wir und die Hühner Nachbarn.
Aber dann glaube ich doch nicht, dass es die Hennen sind. Hennen geben empörte Geräusche von sich, wenn die Füchse aus den Wäldern kommen. Das hier ist nicht das Geräusch empörter Hennen, sondern etwas Weicheres, Dunkleres. Als ich begreife, dass es aus dem Zimmer der Kinder kommt, springe ich aus meinem Sessel.
Ich stürze zu ihrer Tür, hebe, so sanft jahrelange Übung es mir ermöglicht, den metallenen Riegel und spähe in das schimmernde Dunkel. Das bisschen Licht, das mir von draußen ins Zimmer folgt, betastet die Ecken und Kanten der Gegenstände, das matte Messing der Bettgestelle und dergleichen. Ich frage mich, ob der Junge wach geworden ist und die fremde Umgebung ihn ängstigt. Aber nein, es ist nicht er, sondern der zarte Schwan von einem Mädchen in ihrem weißen Nachthemd. Ihre Decken liegen zurückgeworfen im eisigen Bad des verirrten Lichts, die kleinen Beine sind angewinkelt, den Kopf mit dem dunklen Haar wirft sie hin und her, und aus ihrem roten Mund dringt ein merkwürdiges Geräusch, das sich nach echter Qual anhört.
Natürlich schleiche ich mich zu ihr. Ich weiß, dass man Schlafwandler nicht aufwecken sollte, aber sie wandelt ja nicht. Dennoch sieht sie aus, als sei sie in einer anderen Welt erwacht, als träume sie mit geöffneten Augen davon, irgendwo anders zu sein. Sie blickt weder mich noch sonst etwas im Raum an, ihre Augen sind auf Unsichtbares gerichtet.
Vielleicht sollte ich Sarah wecken, denn bei all ihrer Schweigsamkeit weiß Sarah oft die Lösung für Dinge, die mir dunkel und verworren erscheinen. Die Glieder des kleinen Mädchens wirken recht anmutig in diesem trüben Licht, sie erinnern mich an etwas, vielleicht an meine eigene Mädchenzeit, vielleicht an meinen eigenen weichen, schmächtigen Körper, bevor ich mit der Kinderlähmung zu kämpfen hatte. Ich weiß es nicht.
Das kleine Mädchen schreit auf. Ich riskiere es, eine Hand auf ihre Stirn zu legen, und als ich mich über sie beuge, verändern sich ihre Augen sofort. Sie stößt einen klaren dünnen Kreischlaut aus, wie ich ihn noch nie gehört habe.
»Was ist los, was ist los?«, frage ich.
»Der Tiger ist im Zimmer«, sagt sie.
»In Wicklow gibt es keine Tiger«, sage ich, aber, der Himmel steh mir bei, ich sehe mich trotzdem um, voller Angst, einen zu erblicken. »Gott bewahre, Kind, da ist nichts. Ssch, ssch«, sage ich, setze mich auf den Rand des schmalen Betts und streiche ihr über den Kopf. Ihr Haar ist so weich wie frisches Gras. »Brauchst keine Angst zu haben. Du bist hier in Kelsha. Liegst wohlbehalten in deinem Bett. Ich bin doch bei dir und Sarah auch.«
Das kleine Mädchen fängt an zu weinen. Es ist ein schwaches, fernes, in sich gekehrtes Weinen, schwermütig und ergreifend. Plötzlich schäme ich mich, weil ich vorhin geringer von ihr gedacht habe als von ihrem Bruder. Mein Herz fliegt ihr zu, wessen Herz würde das nicht?
»Ach, Tante Anne«, sagt sie.
»Ach, mein Liebes«, sage ich.
Ich nehme sie in die Arme. Sie ist nur Haut und zarte Knöchelchen. Sich vorzustellen, dass ein Mensch eine Seele ist, umschlossen nur von diesem Käfig aus Knochen! Was für eine Einrichtung, wie soll uns das schützen?
»Ich habe große Angst vor dem Tiger«, sagt sie. »Bin ich froh, dass er nicht hier ist.«
»Das will ich meinen«, sage ich.
Sie schaut mich an. Schiebt mich ein wenig von sich weg, wie um mich besser sehen zu können. Ihre Augen haben sich an die Dunkelheit des Zimmers gewöhnt. In ihrem Blick liegt eine ganze Welt aus Worten; fast kann ich sehen, wie ihr Gehirn damit ringt. Aber es ist zu viel für sie. Vielleicht fehlen ihr die Worte für das, was sie sagen will. Stattdessen sagt sie etwas anderes, etwas Einfaches, das alle Kinder dieser Welt irgendwann einmal gesagt haben, zu ihren Müttern oder zu wem auch immer. Aber zu mir hat es noch niemand gesagt.
»Ich hab dich lieb, Tante Anne«, sagt sie.
In meiner Brust lächelt der Wolf des Stolzes.
»Oh, da bin ich sicher«, sage ich, zufrieden wie noch nie, und decke sie wieder ordentlich zu. Und fange an zu lachen.
Und auch sie lacht.
»Schlaf jetzt«, sage ich. »Ich bleibe so lange hier sitzen, bis du eingeschlafen bist. Versprochen.«
Und genau wie ich es zu dem Jungen gesagt hatte, stößt die Schleiereule, die ja gar keinen Schleier trägt und die in der höchsten Kiefer am Rande des Waldes lebt, einen eindringlichen, erinnerungsschweren Schrei aus.