Kitabı oku: «Annie Dunne», sayfa 3

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»Aber du hast doch gerade erst gesagt –«, setzt er an, zum ersten Mal aus dem Gleichgewicht gebracht, aber ich bin schneller als er.

»Wo ist denn das kleine Mädchen?«, frage ich. Der abrupte Themenwechsel wird seinen Zweck erfüllen.

»In ihrem Zimmer«, sagt Billy Kerr, obwohl ich die Frage gar nicht ihm gestellt hatte.

»Gut«, sage ich und marschiere mitsamt dem Jungen hinein. Hinter meinem Rücken macht Billy Kerr eine Bemerkung zu Sarah, die ich aber nicht verstehe.

Das kleine Mädchen steht mit dem Rücken zu mir auf dem Bett. Sie trägt ihr geblümtes Sommerkleid und eine grüne Strickjacke, die ihr bereits zu klein wird.

Das Sonnenlicht, das durch das schmale Fenster fällt, strahlt auf sie herab wie eine Hoflaterne. Ein kleines Geschöpf, dem man beim Wachsen zusehen kann. Sie weiß nichts von der Welt. Sie weiß nicht, was vor ihr liegt.

Schon in dem Augenblick, als ich den Kopf zur Tür hineinstecke, kommt es mir vor, als laste eine Bürde auf ihrem Rücken. Kein Buckel wie bei mir, eine Folge der Kinderlähmung, eher ein schwerer Schatten. Dann bewegt sie sich, und das Bild ist verschwunden, eine Täuschung des Sonnenlichts und meines eigenen Verstandes.

Sie wendet den Kopf, um mich anzusehen, und in ihren Augen funkeln winzige Sterne. Ich kann mich nicht vom Fleck rühren. Und selbst der Junge, der, typisch für einen Vierjährigen – auch wenn er fast fünf ist –, nicht anders kann als herumzuzappeln, ahmt meine Reglosigkeit nach. Dann auf einmal lächelt sie, und es ist, als würde die Sonne scheinen. Ein kristallklares, ungetrübtes, unschuldiges Lächeln.

»Was machst du denn da? Auf Betten stehen und bis über beide Ohren grinsen?«

»Ich bin froh, dich zu sehen, Tante Anne«, sagt sie. »Ich hab mich einsam gefühlt.«

»Na, so weit weg war ich doch gar nicht«, sage ich. »Wir sind nur zum Brunnen gegangen. Und selbst daran wurden wir gehindert. Nächstes Mal läufst du mir einfach hinterher.«

»Ich bin froh, dass wir in Kelsha sind«, sagt sie. »Richtig froh.«

»Da bin ich aber froh, dass du froh bist«, sage ich. »Komm, hilf mir, Billy anzuschirren, diesen wilden Kerl.«

»Den interessanten Kerl, der bei Sarah ist?«, fragt der Junge.

»Nein, dem Kerl ein Geschirr anzulegen ist unmöglich. Nein, Billy dem Pony. Wir werden eine halbe Stunde brauchen, um ihn fertig zu machen. Bis dahin wird Billy Kerr ja wohl hoffentlich gegangen sein.«

Doch als ich in die Küche zurückkomme, schickt er sich bereits zum Gehen an. Sein mysteriöser Besuch scheint beendet, und er stolziert über den Hof in Richtung Feldweg. Ich stehe in der Halbtür und sehe ihm nach, wie er gleichmütig dahinstapft. Seine Hüften bewegen sich wie die eines Mannes, der zwei Eimer trägt.

Ich blicke mich zur Küche um, aber Sarahs langes, ausdrucksloses Gesicht verrät mir nichts. Sie räumt das benutzte Geschirr weg, um es später abzuwaschen, und fängt an, den Küchentisch zu scheuern. Billy Kerr hat kaum den Ellbogen darauf gestützt, umso mehr erstaunt mich ihre übertriebene Sorgfalt. Ihre langen Arme fahren über die bleiche, glatte Oberfläche, die Bürste macht ein Geräusch, als würde Stroh zusammengerecht, auf und ab und hin und her. Dann und wann taucht sie die Bürste in Salzwasser und beginnt wieder von vorn, ihre nackten Arme leuchten im Dämmerlicht.

All das ist ziemlich vielsagend, doch ich weiß nicht, was es mir sagen will. Ich beschließe, sie später zu fragen, im Bett, wenn sie entspannt ist und bevor sie sich die Decke über das Gesicht zieht. Ich habe großen Respekt vor ihrem Schweigen. Möchte sie nicht bedrängen. Wenn ich es zufällig doch tue, schlägt sozusagen die Tür ihres Gesichts im Wind, und sie fängt an, Unsinn zu reden, angsterfüllten Unsinn.

»Ich glaube, ich werde die Kinder nach Kiltegan mitnehmen und unsere Packung Tee abholen.«

»Du hättest dir Billy Kerrs Hilfe ruhig gefallen lassen sollen«, sagt sie im Plauderton.

»Na ja«, sage ich. »Für die Kinder wird es spannend sein, mir zu helfen. Der soll so runtergehen, wie er raufgekommen ist.«

»Mir egal, ob er geht oder fährt«, sagt sie. »Ich habe an deinen Rücken gedacht.«

»Mein Rücken ist völlig in Ordnung«, sage ich und erröte bis zu den Haarwurzeln.

»Natürlich ist er das«, sagt sie.

»Soll ich auch Zucker besorgen?«

»Nein«, sagt sie. »Wir haben noch reichlich.«

»Zucker und Tee. Wir leben doch wahrlich wie die Lords, Sarah, oder?«

Sarah lacht. Ihr Lachen ist kräftig und dunkel, wie die Brombeeren, die in dem großen Topf brodeln, wenn wir im Herbst Marmelade kochen. Mein Lachen hingegen, meinte der alte Thomas Byrne, der vor langer Zeit im Dublin Castle den Hof gefegt hatte, klingt wie das Bellen eines Hütehunds.

Sie steht in der Küche, aufrecht wie eine Rohrdommel in Pfahlstellung, und schwingt die Scheuerbürste. Wieder fängt sie an zu lachen.

»Du weißt doch, Annie, die einzigen Leute, die wie die Lords leben, sind die Lords«, sagt sie.

Sie legt die Scheuerbürste auf den Tisch, stützt die Hände auf die Knie und lacht. Ihr Körper biegt sich geradezu vor Lachen: So sehen Unbeschwertheit und Freude aus. Die Kinder sind vor lauter Überraschung selbst ganz aufgekratzt, sie schauen zu mir auf und fangen ebenfalls an zu lachen. Ich lasse mir die Gelegenheit nicht entgehen und lache ebenfalls, laut und herzhaft, ich lache und lache, ja, genau wie Thomas Byrne gesagt hat, wie ein verdammter Hütehund: »Wau, wau, wau.«

In Wahrheit nehmen sie sich nichts, Billy Kerr und Billy das Pony, nur dass ich Ersteren nicht vor unseren zweirädrigen Pferdewagen spannen muss. Anspannen ist ein ziemlich schwieriges Geschäft.

Im Hof kommen die Kleinen und ich an einem zotteligen Fellknäuel vorbei. Es ist Shep, der in der Sonne ein Nickerchen macht. Er ist so schläfrig, dass er kaum die Schnauze hebt. Fauler als ein Faultier, aber wir haben ja ohnehin keine Schafe, die er hüten könnte.

Als wir das dunkle Rechteck der Stalltür erreichen, werfen die Kinder bewundernde Blicke auf Billy. Seine wahre Natur begreifen sie nicht, darin liegt die Barmherzigkeit von Kindern. Aus dem Dämmerlicht des Stalls erwidert Billy ihren Blick, die flache Stirn von einer Art gedämpfter Wut gezeichnet.

Billy ist ein kräftiger, eher kleinwüchsiger Welsh Cob, den Sarah auf einem Pferdemarkt in Baltinglass erstanden hat. Sie verehrt ihn, weil sie ihn mit barem Geld bezahlt hat, mit den Pfundnoten, die ihre Mutter ihr hinterlassen hatte. Er ist ein Grauer, von einem vollkommenen Grau, das muss man ihm lassen, ohne auch nur den Tupfer, den Hauch einer anderen Farbe. Aber in letzter Zeit fürchte ich mich vor seiner Kraft. Er strahlt eine Art Hass aus, die mir Unbehagen bereitet.

Der Hass steht in seinen Augen, zwei schwarzen Steinen. Was immer er sich erträumt hat, das Leben mit uns scheint ihm nicht genehm zu sein. Vielleicht lassen wir ihn nicht oft genug hinaus. Vielleicht ist das Landleben unter seiner Würde.

Behutsam hieve ich das schwere Geschirr auf seinen Rücken und muss, ich gebe es zu, an Billy Kerrs Hilfsangebot denken, das ich in meinem Hochmut ausgeschlagen habe.

»Da ist ja überall Schleim auf dem Leder«, sagt das Mädchen.

»Nein«, sage ich keuchend. Mein Rücken schmerzt. »Das ist Fett zum Schutz gegen den Regen.«

»Es ist dreckig«, sagt sie, »und ich hab’s auf meiner Strickjacke.«

»Willst du denn nicht mit dem Wagen fahren?«, frage ich. Ich weise sie nur deshalb zurecht, weil ich Schmerzen habe.

»O doch«, sagt sie. »Ich möchte schon.«

Trotz allem sieht es schön aus, wie das Geschirr auf Billy sitzt. Über die Jahre hat es sich seiner Körperform angepasst. Ich mag seinen runden Leib, wie der eines wohlgenährten Mannes. Er riecht nach trockenem Stroh und feuchtem Dung. Haar und Haut haben einen ganz eigenen fremdartigen Geruch. Er hat etwas von einem Löwen. Jedenfalls hat er mehr Klasse als Shep. Abgesehen davon, dass er aussieht, als wollte er einen umbringen, muss man ihn bewundern.

Dann sind wir auf dem Feldweg. Die beiden Kinder sitzen einander gegenüber auf den Bänken hinter mir, und wir rollen durch das sanfte Auf und Ab der Felder und Wälder. Billys Hufe schleudern kleine Dreckbatzen hoch. Was ihn so richtig antreibt, ist das Schnalzgeräusch, das ich mit den Zähnen und der Zunge mache. Wir stürzen den grünen Fluss aus Gras hinab, und die Kinder klammern sich an ihren Sitzen fest.

Ich winke Mrs Kitty Doyle zu, die gerade über ihren Hof geht und den Schweinen eine Schürze voller Futter bringt. Ich kann sie in ihrem steinernen Koben quieken hören. In einer der Scheunen hält sich ein aufgegebener Pferdewagen versteckt. Ich kann ihn gerade noch ausmachen, als wir vorüberrumpeln, ein hohes Ding zwischen den Strohballen. Dort verrottet er, und die Lampen verlieren allmählich ihren Glanz. Wieder so eine von den Familien, die sich in den letzten Jahren ein Auto gekauft haben.

Aber der Weizen der Hannigans steht gut, wie ich sehe, die kräftigen Keimlinge überziehen die dunkle Erde wie eine schöne Häkelarbeit.

Wir kommen zu der Kreuzung, wo unser Feldweg der neuen Teertrasse weicht. Ich muss Billy zügeln. An dieser Stelle tänzelt er immer nervös, denn von der Aufregung, den Berg hinunterzurasen, ist er noch ganz aufgewühlt.

In der Ferne sehe ich Billy Kerr, der die letzten paar Meter zu den Kuhställen neben dem Haus meiner Cousinen entlangschlendert. Ihre Farm liegt hinter wuchernden Hecken verborgen. Das Haus sieht seltsam aus, so mitten auf der Weide, die die Kühe zu Schlamm zertrampelt haben. Die Wände ganz aufgeraut von Feuchtigkeit und Regen.

Trotzdem, in den moosbewachsenen Gräben drängen sich Schlüsselblumen und die grünen Fontänen des Fingerhuts. Das gelbe Feuer des Stechginsters auf dem Hügel dahinter ist gerade erst erloschen. Doch Billy das Pony hat keine Geduld für solche Wunder, mit einem Ruck ist er auf der Straße, die Räder folgen der neuen Melodie des härteren Straßenbelags, und unsere Wangen schwabbeln, so heftig werden wir durchgeschüttelt.

»Mach langsam, du wildes, verrücktes Pony, du«, sage ich und versuche, ihn zu bremsen. Zuinnerst weiß ich, dass er jetzt am liebsten in leichten, dann in wilden Galopp fallen würde, um uns alle davonzutragen, sich selbst und die unzulänglichen Menschen in dem Gefährt, in einem so irren Tempo, dass die Steinchen wegspritzen, und um die Welt in Gefahr und Ängste zu stürzen. Das kann ich nicht zulassen, und so stehe ich auf, lehne mich zurück und zwinge ihn zu einem unruhigen Schritt.

»Sche-ritt, du alter Halunke, du«, rufe ich und bearbeite die Trense mit den Zügeln herzlos mal von links, mal von rechts. Aber der niederträchtige Kerl veranstaltet noch mehr Theater als sonst und bockt. Das Gefüge aus Wagen und Pony biegt sich in der Mitte, und plötzlich habe ich Angst, dass wir im Graben landen. Die Kinder hinter mir schnappen nach Luft bei dem widrigen Schlingern und Ächzen der Scherbäume, die wie eine riesige Stimmgabel in Schwingung geraten sind.

»Weiter, geh weiter«, sage ich und würde ihn gern verfluchen, was ich mir jedoch verkneife, der Kinder wegen, für deren Erziehung ich verantwortlich bin. Und jetzt geht Billy weiter, nur um wieder einen Schritt rückwärts zu machen. Er ist fest entschlossen, mir übel mitzuspielen. Ich könnte ihm eins mit der Peitsche überziehen, müsste ich nicht die Wirkung fürchten, die ein Peitschenhieb bei seiner momentanen Gemütsverfassung hätte. Ich hüpfe auf dem hölzernen Sitz auf und ab und bin selbst schon ganz verrückt im Kopf vor lauter Sorge und Wut.

»Steh, steh, du Teufelsbraten«, rufe ich. »Steh! Kinder, macht den Wagenschlag auf und springt von den Metallstufen ab. Ich glaub, ich kann ihn nicht halten.«

Und das kleine Mädchen, das schon mehr von der Welt versteht, kümmert sich um den Jungen, öffnet die kleine Klappe aus Sperrholz und lässt sich und den Kleinen hinabgleiten, eine beachtliche Höhe für ein Kind. Doch dem Herrgott sei Dank, im Nu finden sich die beiden zu ihrer eigenen Verblüffung auf dem grasbewachsenen Straßenrand. Und die große Maschine, so muss es ihnen scheinen, des Pferdewagens, mit mir obenauf, buckelt und bäumt sich von neuem.

»Kinder, bleibt ganz ruhig stehen«, sage ich. »Gott im Himmel!«

Billy hat die Trense fest zwischen die Zähne genommen. Jetzt hat er mich.

Das ist die Katastrophe. Zum Fürchten. Sarah wird mir nie verzeihen, wenn ich ihn nicht wieder zur Vernunft bringe. Denn sie schätzt dieses törichte, gefährliche Tier. Der Schrecken hat von mir Besitz ergriffen, weil ich fast vorhersehen kann, was Billy als Nächstes tun wird. Ich kann’s vorhersehen, vielleicht noch bevor er es denkt, denn er ist ein Tier, das ganz in der Gegenwart lebt, im flüchtigen Augenblick. Oder er hat es schon vor Jahren ausgeheckt, immer wenn er mich mit diesen bösen Augen ansah. Und nun geschieht’s, der Sprung, die Raserei, die wie eine Feder gespannte Energie, das lodernde Feuer in seinem runden Bauch – und er ist auf und davon, in Richtung Kiltegan, und nur ich, diese Närrin, kann ihn daran hindern.

Wir preschen ein paar hundert Meter dahin, wobei er fröhlich ein Hufeisen verliert. Der harte Straßenbelag reißt es ihm vom Huf. Es fliegt über die Hecke von Humewood, dem alten Gutshof, der im Leben meiner Vorfahren eine so wichtige Rolle gespielt hat. Billy beachtet es nicht. Dann bricht, wie ein Feuerwerkskörper, aus dem Dickicht der niedrigen Bäume zu meiner Linken etwas hervor, das ich zunächst für einen Keiler halte, für einen Keiler mit stoßbereiten Hauern. Es ist wie eine Erscheinung – erst ist da nur die ungepflegte friedliche Hecke, und auf einmal ist ein Loch hineingesprengt, und das wilde Geschöpf landet vor mir auf der Straße.

Aber in Irland gibt es keine Keiler, außerdem ruft und lärmt dieses Geschöpf und wedelt mit den Armen. Es erhebt sich, offenbart rätselhafte Gliedmaßen und verwandelt sich zu meinem dankbaren Erstaunen in Billy Kerr.

Da steht er nun mitten auf der Straße nach Kiltegan, wirft die Arme in die Höhe, springt auf und ab und ruft dem wütenden Pferd »Ho! Ho!« zu. Das Pony reagiert auf seine typische Art, bleibt abrupt stehen, bäumt sich auf und zeigt die Vorderhufe, lässt sich dann wegen des Gewichts des Wagens schwer nach unten fallen, schlägt ein-, zweimal nach hinten aus, steigt wieder hoch und wiehert, die angespannten Kiefer so weit aufgerissen, wie es einem Pferd möglich ist. Der Wagen kippt nach links weg, neigt sich so weit, dass ich aus meinem gefährdeten Nest falle und im Ampfer lande oder was sonst noch im Straßengraben wächst.

»Steh auf, Annie Dunne, wenn du kannst«, brüllt Billy Kerr, »und versperr ihm den Weg nach hinten. Dann haben wir ihn.«

Zwar weiß ich nicht, ob ich noch lebe oder schon tot bin, aber ich rappele meine alten Knochen auf, pflanze meine Füße auf den Asphalt und hebe die Arme. Vor lauter Angst und Schrecken zittere ich am ganzen Leib. Meine blau-weiße Kittelschürze ist schlammverschmiert. Mir klopft das Blut im Kopf. Billy Kerr greift nach der wehenden Mähne des Ponys und packt mit düster grollenden Lauten das Halfter, dann wird seine Stimme plötzlich ganz besänftigend und weich.

»Schon gut, schon gut, ganz ruhig, ganz ruhig, bist ein guter Junge«, sagt er.

Er streichelt das Pony, als wäre es ein kleines Kind, das gerade etwas Schreckliches erlebt hat. Das zitternde Pferd, dessen Fell bebt und zuckt, lässt sich von den honigsüßen Worten beruhigen, tritt hierhin und dorthin wie ein Betrunkener. Billy Kerr reibt seinen kräftigen Hals.

»Die Kinder«, sage ich, drehe mich um und humpele die Straße entlang zurück zu der Stelle, wo sie noch immer gehorsam warten.

Alte Kelsha-Knochen können nicht einfach liegen bleiben und blaue Flecken zählen, so viel steht fest.

Viertes Kapitel

Sarah und ich liegen da wie Königinnen auf einem steinernen Grabmal. Es ist Nacht geworden, und wir haben uns zur Ruhe begeben. Der Wind zählt noch immer die Blätter in den Bergahornen, hunderteins, hundertzwei.

Ich spüre das Behagen in ihren langen Knochen, aber teilen kann ich es nicht. Zu Bett zu gehen, den sicheren Hafen unseres Bettes zu erreichen, ist für sie so erlösend wie der Tod. Man könnte sogar sagen, dass sie jeden Tag beim Schlafengehen stirbt. Selbst ich bin dankbar, wenn sich das Seil aus ständigen Pflichten endlich lockert. Nicht mehr lange hin, dann wird es wieder an uns zerren.

Dann streckt sie sich. Die Uhr ihres Herzens tickt regelmäßig, unter ihrer fleckigen Haut fließt das Blut in tausend kleinen Bächlein, ihre Brüste heben und senken sich, verleihen der ländlichen Szene auf der Bettdecke einen Anschein von Leben. Ihre Mutter, die Schwester meiner Mutter, hat sie vor vielen Jahren gestickt. Sie zeigt einen Hirsch, der, verfolgt von einem schwarzberockten Jäger auf einem dunklen, dürren Pferd, über grasbewachsene Hügel flieht. Die Landschaft wogt auf und ab wie ein riesiges Meer. Zwischen langen Zähnen und dünnen Lippen strömt pfeifend Sarahs Atem aus.

Die Lider, die sich über ihre großen Augen wölben, sind mit blauen Linien gemustert wie winzige Tassen. Die Bettdecke hat sie so weit hochgezogen, wie es ihr, ohne mich zu stören, möglich ist.

Wir sind Christenmenschen, erfüllt vom wundersamen Licht unseres Heilands, und jeder von uns wurde durch göttliches Geschick eine unsterbliche Seele zugewiesen. Eine unsterbliche Seele in einem allzu sterblichen Körper. Gut, dass ich mich darauf besinne, in diesen ersten Stunden meiner Nachtwache. Ich rechne nicht damit, schlafen zu können.

Mein Kopf fühlt sich an wie ein Flussbett nach einer plötzlich hereingebrochenen Flutwelle. Als hätten die Ereignisse des Tages alles darin weggespült.

Billy Kerr. Er hat mich überrascht. Nachdem er das Pony beruhigt hatte, kümmerte er sich rührend um uns und trug den kleinen Jungen den ganzen Feldweg hinauf, während ich das Mädchen an seiner schmalen Hand führte. Nach meinem Sturz kam ich nur humpelnd voran, behielt Billy Kerr aber im Auge und sah, wie er mit dem Jungen scherzte, ihn zum Lachen brachte und Fingerhüte für ihn pflückte, damit er sie zerdrücken konnte. Offenbar Ablenkung genug, dass sich jede Erinnerung an das schreckliche Erlebnis verflüchtigt zu haben schien.

Und als er uns alle in der Küche abgeliefert hatte und die Kinder auf der steinernen Bank neben dem tröstlichen Torffeuer saßen, marschierte Billy Kerr wieder hinunter zur Kreuzung, zu der Stelle, wo er den Wagen und sein unbußfertiges Zugtier an einen Baum gebunden hatte, setzte sich ohne alle Furcht auf den Kutschbock und brachte das Gefährt zu uns zurück. Eines der Räder quietschte, denn der Metallreif hatte sich von der Felge gelöst, so dass das ruhige Gleichgewicht der Speichen gestört ist, und die hölzerne Umhüllung der Nabe ist verrutscht. Das alles wieder instandzusetzen wird Geld kosten – Geld, das Sarah und ich nicht haben.

Billy Kerr brachte den Wagen in die Heuscheune und Billy das Pony in den Stall. Beide sahen irgendwie gedemütigt aus, der hölzerne Wagen, dessen eine Lampe sich von der Wucht des Unfalls verbogen hatte, wirkte ganz trübsinnig.

Jetzt, im Dunkel der Nacht, muss ich an die beiden denken, daran, dass sie allein sind, voneinander getrennt, als sei der Wagen eine Frau, die man ihrem Ehemann, dem Pferd, entrissen hat.

Schließlich widersetze ich mich dem Drängen der Nacht und trete hinaus auf den sternhellen Hof, um meine knotigen Muskeln und meine stocksteifen Knochen zu strecken. Auf meiner Haut spüre ich noch die Wärme des Bettes. Eine sanfte nächtliche Brise ist sehr an mir interessiert und richtet die Härchen an meinen Armen auf. Vor mir die schlichte Wohnstatt unseres schlafenden Ponys, zu meiner Rechten die schlafenden Kälber und die Hennen in ihrer nie ganz nachlassenden Wachsamkeit. Weil Füchse durch ihren Schlaf streifen, geben die Hennen unaufhörlich winzige Geräusche von sich. Zu meiner Linken der abschüssige Hang des alten Hofes und die Pfeiler des Tores. Hinter der Schwärze des Melkstalls verbergen sich die schönen mächtigen Leiber der beiden Milchkühe, Daisy und Myrtle, die Sarah nicht wieder auf die Wiese oben zurücktreiben konnte. Fressen sie kein Gras, werden ihre Euter auch nicht prall vor Milch. Wird Sarah vergesslich, oder war es der Unfall, der ihr die dafür vorgesehene Zeit geraubt hat?

Es ist schon nach Mitternacht. Unser Hof liegt südlich von Dublin, hinter den Bergen. Das hat vieles ferngehalten und vieles eingeschlossen. In dieser Gegend waren große Gehöfte entstanden, meist im Besitz von Engländern und Protestanten, und erst eine große Kraftanstrengung, die Faust des irischen Unabhängigkeitskrieges, konnte sie zerschlagen.

Dennoch, die Spuren ihrer Macht wirken noch immer nach in unserem Leben. Über sieben Generationen, bis zurück ins letzte Jahrhundert, versah meine Familie das gleiche Amt. Ohne Unterbrechung ging es vom Vater auf den Sohn über, wie in einem richtigen Königtum. Alles, was geschah, und alles, was wir waren, entspross dieser Stellung, wie ein Reis, das Blüten treibt. Sieben Generationen, sieben Männer mit sieben Leben, übernahmen die Pflichten des Gutsverwalters von Humewood. Sie waren die Könige der Landarbeiter. Über White Meg, meinen Großvater, spricht man noch heute. Er war ein hochgewachsener, strenger und harter Mann, der über alle hinwegsah. Wenn er die Straße von Kiltegan heraufkam und auf das Tor von Humewood zuschritt, entbot er niemandem, dem er begegnete, einen Gruß oder richtete das Wort an ihn. Ich erinnere mich nicht daran, ob ich ihn als Kind je selbst gesehen hatte, aber irgendwie weiß ich, spüre ich, dass er sich der ungeheuren Würde seines Amtes bewusst war, der Tatsache, dass er den Platz seiner Vorfahren eingenommen und ihn tadellos ausgefüllt hatte, dass er, in seinem Grab auf dem katholischen Friedhof, ein echtes Vermächtnis von Werk und Wert hinterlassen hat. White Meg wurde er seines üppigen weißen Bartes wegen genannt, eine altmodische Barttracht, die die meisten Männer damals zur Schau trugen und die sich inzwischen überlebt hat.

Niemanden zu grüßen, das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, das habe ich von ihm geerbt. Rechtfertigen ließ sich das nicht unbedingt, außer dass wir uns wacker durch die im Land herrschenden Unruhen schlugen, mein Vater als hoher Beamter der Dublin Metropolitan Police beachtliches Ansehen genoss und wir wie Lieblingshühnchen im großen Hühnerstall des Dublin Castle lebten, wo die Königinnen und Könige von England ihre Polizisten und deren Familien einzuquartieren beliebten, damals, in jenen frohen Tagen, als der Vizekönig seine Flaggen wehen ließ und sein Kommen und Gehen mit gebotener Feierlichkeit und knallenden Stiefeln begangen wurde.

Ich stehe draußen unter dem Sternenlicht. Bestimmt sind die Konstellationen mit ihren Namen nicht zufrieden. Wissen sie, dass man Großer und Kleiner Bär zu ihnen sagt? Weiß der Oriongürtel, dass er der Oriongürtel ist? Im Wind gibt mein Nachthemd ein leises Rascheln von sich, fast knattere ich wie ein Segel. Ich liebe mein Land. Sie weht mich an wie eine zweite, eine innere Brise, diese seltsame und nutzlose Liebe. Es ist dieser Ort, Kelsha, der mich überwältigt, die Anordnung der Wälder, die Anlage des Hofes, die Tiere in unserer Obhut, die Ebenmäßigkeit und Sauberkeit der Steine, all das unsere Sache.

Aus seinem Bett aus Ampferblättern erhebt sich der Misthaufen wie eine ägyptische Pyramide. Hinter den Mauern des langen Schuppens ist das stille Örtchen, wo Sarah und ich unsere Notdurft verrichten. Den Hintern wischen wir mit den Gräsern ab, die dort wachsen und die immer feucht sind. Die städtische Gepflogenheit, Zeitungspapier zu benutzen, ist nicht halb so zufriedenstellend wie diese langen, dünnen grünen Halme. Wir werfen sie in die Grube, wo wir auch unsere Nachttöpfe entleeren.

Da stehe ich also unter dem Sternenlicht und wiederkäue Gedanken, als wäre ich selbst ein Tier, ein weiteres Ding in der Überfülle der Welt. Ich weiß, dass ich nichts bin. Mein Stolz hat kein eigenes Fundament, er ist nur ein Anbau, errichtet auf Vorurteilen, ein Wetterschutz gegen meinen Zorn. Aber darauf kommt es nicht an. Der Architekt ist Gott, und ich schlaflose, älter werdende Frau bin es zufrieden, eine Freundin der Dinge zu sein, die Er geschaffen hat, ein Schatten unter Schatten. Mein Holzapfelbaum ist fester verwurzelt als ich und wird länger überdauern – zweifellos wird ihm und seinen bitteren Früchten eines Tages ein anderes Herz Gefolgschaft leisten, zur Erntezeit die winzigen Äpfel einsammeln und sie mit derselben Hingabe und Heiterkeit auspressen, wie ich es tue, voller Freude über die Großzügigkeit des Baumes, seine innere Ruhe und sein augenscheinliches Glück, seine Fruchtbarkeit. Er ist wie eine Mutter mit alljährlich tausend Kindern, dem Nachwuchs einer Bienenkönigin. Im Herbst summt der ganze Baum unhörbar vor sich hin, so aufgeregt sind seine Früchte.

Da steht er nun, im dunklen Schiefer der Nacht, und breitet seine großzügigen, seine bitteren Arme aus.

Das ist das Glück, das mir gewährt ist.

Wenn ich mich überhaupt noch etwas ausruhen soll, wird’s Zeit, es noch einmal mit dem Bett zu versuchen, denn wenn erst die flinken Finger der Morgendämmerung an der Dunkelheit zupfen, müssen wir auf den Beinen sein. Ist deine Arbeit bis um zehn nicht getan, ist der Tag vergeudet. Ich gehe zurück ins Haus und schließe die Halbtür hinter mir, damit die Hühner nicht hereinspazieren. Natürlich sind sie jetzt alle in ihrem Stall eingesperrt; die Halbtür zu schließen zählt zu den Gewohnheiten des Tages. Meine Lieblingshenne, die uns mit jeder Menge glänzenden braunen Eiern versorgt, ist bei ihren Gefährtinnen. Tagsüber beobachte ich sie, wie sie, hübsch und reinlich, im Hof umhertrippelt und heimlich ihr Gelege plant. Sie legt ihre Eier gern an möglichst unzugänglichen Orten ab, bisher habe ich sie noch nie dabei ertappen können. Man braucht ein scharfes Auge und einen guten Instinkt, um reiche und noch warme Beute zu machen. Der Junge glaubt ihre Geheimnisse zu kennen, was ebenso wahr wie unwahr ist – er ist klein genug, dass sein Blick bis unter die Bretter reicht, auf denen das Heu gelagert wird, unter alte hölzerne Streben. Red Dandy, wie ich sie nenne, ist ein Rhode Island Red und, wie ich mit einigem Stolz sagen kann, eines meiner Hühner. Eine so gute Legehenne hat Sarah nicht. Ich schließe also die Halbtür, lasse aber durch die obere Hälfte die aufmunternde nächtliche Brise zur dunklen Küche herein. Er hat etwas Reinigendes, dieser angenehme Luftzug. Und dann schlüpfe ich wieder neben die schlafende Sarah, zwischen die steifen, gestärkten Laken, unter die farbenfrohe Bettdecke mit der immerwährenden Jagdszene. Und bin vollkommen zufrieden, im Einklang mit Gott und den Menschen. Auf meiner vom Wind noch leicht kühlen Haut spüre ich, wie die trockene Wärme, die von Sarah ausgeht, allmählich zu mir herübersickert. Der Schlaf überkommt mich, als würde ich beim Schwimmen in einem Fluss versinken.

Fühlt sich die Dunkelheit von unseren Träumen gestört? Die ganze Gegend, die ganze sonnenabgewandte Seite der Erde träumt. Männer und Frauen, Schwestern, Brüder, in den ihnen zugewiesenen Betten. Wie zufällig das alles ist! Meine Träume sind so konkret wie das wirkliche Leben, schlüssig und klar. Darin sehe ich meinen Vater, den Polizisten, und meine Mutter in jungen Jahren, als sie es liebte, mit uns zusammen zu sein, und sich als seligste der Frauen empfand, weil sie drei Mädchen und einen kleinen Jungen hatte. Wir waren ihr trockenes Reich und ihr fahles Feld, auf dem sie nichts wachsen ließ; nur die tändelnde Sonne war zugelassen, damit sie für uns tanzte, ihr trockenes Lied für uns sang. So sehe ich meine Mutter oft in meinen Träumen: von hohem Wuchs, nicht wirklich schön, aber ruhig lächelnd. Eine Krankheit zehrte sie aus und entriss sie dieser tränenreichen Welt, da stand mein Vater in seinem fünfzigsten Jahr. Für uns zu sorgen war eine schwere, zeitraubende Aufgabe für ihn. Aber in meinen Träumen ist meine Mutter nicht tot, sondern ganz unverkennbar lebendig, unparteiisch und auf heitere Weise gerecht.

Der Sommer bietet allgemeinen Frieden, vielleicht jenen Frieden, welcher höher ist denn alle Vernunft. Gott mag den irischen Winter im Sinn gehabt haben, als er diesen Satz in das Buch der Bücher schrieb. Meine Stimmung ändert sich mit den länger werdenden Tagen, dieser freundlichen List des Sommers, Ewigkeit vorzugaukeln, wenn die Sonne auf den Hof scheint und Shep angesichts dieses Lichts, der schweren Last der Hitze an diesen besonderen Tagen aus dem Staunen nicht herauskommt. Dieser anschwellende Jubel des Lichts, wenn ich am Morgen auf den Hof hinaustrete – so wird es hoffentlich im Himmel sein. Die Steine sind schon warm, haben sich in der Morgendämmerung aber noch nicht allzu sehr aufgeheizt. Das Regenwasser tief in der Erde sickert noch weiter hinab, und ein liebliches Leintuch aus Trockenheit breitet sich über das Land. Das Gras leuchtet, und die einzelnen Halme stehen getrennt voneinander wie die nicht zu bändigenden Fransen eines Stoffes. Auf dem Misthaufen bildet sich eine Kruste. Die Pisse der Kälber verdampft in den Rinnen wie Spucke auf einem heißer werdenden Backblech. Etwas Glattes, Glänzendes stiehlt sich auf die Dinge, auf Klinken und auf Insekten. In den langen, geduldigen Trieben, den Knospen des Holzapfelbaums, den kleinen, wie ein Scharnier geformten Flügelnüssen des Bergahorns kann man das Werk der Sonne fast hören. Wie frisch und belebt selbst das Laubwerk ist, voller Saft und Lebensfreude. Stein und Erde und Holz, unser kleiner Palast am Berghang, wo solche wie wir zu Hause sind.

Wie anders unsere Geschichte verlaufen wäre, dürften wir Griechen oder Spanier sein und könnten uns auf dieses Sonnenlicht verlassen! Aber es ist nur eine List, denn so mancher Sommertag ist ein naher Verwandter des Winters. Und doch sind wir froh über diese List, wir zehren davon.

Die Lämmchen habe ich noch nicht aus ihrem Schlupfwinkel zwischen den Laken gescheucht. Sollen sie ruhig ein bisschen länger liegen bleiben, sind ja noch Stadtkinder. Bald schon werden sie sich unserem Rhythmus angepasst haben und wie selbstverständlich mit dem ersten Hahnenschrei aufstehen, voller Energie. Der Zinkeimer in meiner Hand quietscht leise, als ich den taufeuchten Weg zum Brunnen entlanggehe, den Duft des Klees einsauge und den eigentümlich frischen Geruch des Weißdorns, ein so leichter Geruch, das man ihn kaum wahrnimmt, der bloße Hauch eines Geruchs. Die Zweige biegen sich unter der Last der Blüten. Die Hänge von Kelshabeg bringt er zum Leuchten, es ist eine einzige Pracht. Die höheren Grashalme streifen mein gepunktetes Kleid und hinterlassen eine feuchte dünne Spur, aber das schert mich nicht. Trotz meines Alters spüre ich ein Schwirren in meinen Knochen, eine Dankbarkeit, eine Lust auf dieses Abenteuer, und ich mache mir Gedanken über den Zustand des Brunnens. Ob sie schon vor mir da gewesen ist, die wilde Hexe von der anderen Seite des Feldwegs? Hat sie irgendeinen alten Schmutzeimer ausgewaschen und dabei Schlamm aufgewirbelt?

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