Kitabı oku: «Endlich ich», sayfa 2
Die ersten Wochen danach
Ich packe meine Sachen und bin raus. Die zwei Tage nach meinem Outing waren stressig, an Schlaf kaum zu denken. Der Körper voll mit Adrenalin. Viele Interviewanfragen, Mails und Facebook-Nachrichten. Doch jetzt zählt erst mal etwas anderes. Ich steige ins Flugzeug nach Spanien, um mit meinem Bruder zu reden. Seit ein paar Jahren haben wir wieder mehr Kontakt; auch, um über unsere Familie, unsere gemeinsame Geschichte zu sprechen. Dieser Kurztrip wird hochintensiv, das weiß ich schon vorher. Ich will ihm von Angesicht zu Angesicht erzählen und erklären, wie es mir geht. Er wusste natürlich schon, was an diesem 29. Oktober passieren wird – aber groß darüber reden wollte ich am Telefon nicht. Wir hatten die Wochen vorher viel hin und her geschrieben. Seine allererste Reaktion war positiv. Er sagte mir seine Unterstützung zu. Nun aber will ich meinen Bruder sehen. Der Flieger hebt ab, Ziel: Santiago de Compostela. Ich bin dann mal weg.
In Spanien bin ich mit meinem Bruder viel unterwegs. Er berät Bodegas, und in diesen Tagen ist die Weinlese vorbei, erste Proben stehen in den Kellern an, Gespräche mit Gastronomen und anderen. Seinen Geschäftspartnern stellt er mich sehr selbstverständlich als seinen Bruder vor. Niemand fragt nach. Alle reden mich mit Finn an. Ich bin „hermanos“, der „Bruder“.
Auf den Fahrten und in den Nächten reden wir viel miteinander. Wie es ist, in der Öffentlichkeit zu stehen, dem Pressehype ausgesetzt und dem, was noch kommen mag. Als ehemaliger Assistent eines Nobelpreisträgers weiß er, was das bedeutet. Wir sprechen auch viel über die Familie, die Vergangenheit. So nah wie in diesen Tagen waren mein Bruder und ich uns schon lange nicht mehr.
Schon im Flugzeug, auf dem Rückweg nach Deutschland schlägt das Herz wieder schneller. Wie wird das jetzt sein, das neue Leben, der neue Alltag? Auf dem Smartphone habe ich gesehen, wie viele Nachrichten schon wieder darauf warten, gelesen und beantwortet zu werden. Alle sind wohlwollend und aufbauend, ja bestärkend. Keine Vorwürfe oder Anfeindungen. Es sind auch viele Anfragen von anderen Transidenten dabei, die Rat und Hilfe suchen. Vielen ergeht es offenbar ganz ähnlich, wie es mir ergangen ist. Schon in den ersten Tagen nach meinem Outing werde ich zum Vorbild. Einer, der sich traut. Viele andere richten sich dran auf. Finden durch mich den Mut, zu sich zu stehen. Vor allem viele religiöse Menschen, die sich fragen, wie ihr Transident-Sein mit ihrem Glauben zusammengeht. Vertraute Fragen. Auch ich habe viel Zeit im Gebet und mit meiner Seelsorgerin verbracht, bis ich sagen konnte: Sehr gut geht das. Gott liebt mich so, wie ich bin. „Ich kannte dich, bevor ich dich im Mutterleib gemacht habe.“ Mich, Sebastian. So einfach ist das.
Jetzt also: Neustart ins Leben. Vorsichtig taste ich mich von Tag zu Tag, viele erste Male stehen mir bevor. Angespannt trete ich vor meine Klassen an der Fach- und Berufsoberschule in Würzburg. Meine ersten Worte klingen fast auswendig gelernt. „Ich gehe davon aus, dass Sie in den letzten Tagen irgendwann einmal von mir gehört oder gelesen haben“, sage ich. Die Schüler und Schülerinnen, alle mindestens 17 Jahre alt, nicken und manche grinsen wohlwollend – aber niemand sagt etwas. „Ich bin jetzt Herr Wolfrum. Bitte redet mich in Zukunft so an.“ Wieder Nicken, wieder Stille. Ich halte kurz inne, schaue in die Runde. Dann mache ich einfach weiter mit dem Unterricht. Die Schülerinnen und Schüler wechseln die Anrede, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Am Mittag des selben Tages dann das Gleiche im Kollegium, begleitet von aufmunterndem Schulterklopfen, und ein paar Tage später wieder bei einer Bürgerversammlung in der Gemeinde. Überall kommt mir Wohlwollen entgegen, oft auch Respekt für diesen Schritt. Ein älterer Mann schlägt mir auf die Brust. „Klasse! Ich finde das gut, was Sie machen.“ Männer unter sich, mit ihren Gesten, ihren Symbolen. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, wie unfallfrei das Outing abläuft. Damals, als ich mich als homosexuelle Frau gefühlt und als solche geoutet habe, lief das alles nicht so reibungslos. Zumindest nicht in der heutigen Erinnerung. Ist die Gesellschaft wirklich so viel weiter? Mögen mich die Leute vielleicht einfach, weil ich bin wie ich bin und ihnen mein äußeres Geschlecht auch schlicht egal ist?
Jedenfalls: Nach dem Outing als lesbische Frau hat mir keiner aufmunternde Briefe geschrieben. Anders als jetzt. Eine Frau aus der Gemeinde meldet sich bei mir. Sie ist über 90 Jahre alt, wegen diverser körperlicher Gebrechen kommt sie nur noch sehr selten in die Kirche zum Gottesdienst. Jetzt schreibt sie mir einen wunderbaren Brief voller Respekt und voller Wertschätzung. Wünscht Segen.
Da sind auch frühere Weggefährt*innen aus meiner Schulzeit und dem Studium, die mich als radikalen Evangelikalen erlebt haben – und mir nun schreiben: „Das passt alles so gut. Du warst schon immer einer, der auf der Suche war, nie bei sich sein konnte, rumgeirrt ist und deshalb gegen sich selbst aggressiv war.“
Dann steht der erste Sonntagsgottesdienst nach meinem Outing an. Wie wird das sein? Stehe ich alleine in der Kirche? Oder kommen gar Neugierige, die sich den vermeintlich schrillen Vogel mal aus der Nähe anschauen wollen? Stehen TV-Kameras vor der Kirche, Journalisten, demonstrierende Trans-Gegner? Ich bin aufgeregt. Nicht wie am Tag X, aber doch nervös. Und erneut ist meine Aufregung völlig grundlos. Der Gottesdienstbesuch ist normal, keine Journalistenmeute vor der Kirche, keine Gehässigkeiten. Wir feiern Gottesdienst wie immer. Ganz normal. War da was?
In der digitalen Welt bin ich der Held, hier ist mir die Aufmerksamkeit sicher. Für kurze Momente kehrt sich meine Unsicherheit, meine Anspannung, als öffentliche Person, als Pfarrer noch dazu, das Outing bewältigen zu müssen, in Euphorie um. Ich merke, wie ich für viele in der Trans-Gemeinde zum Vorbild werde. Jugendliche, junge Erwachsene und manche sind älter als ich. Sie richten sich an meinem Mut und den vielen positiven Reaktionen auf, da das Outing bei mir augenscheinlich so reibungslos geklappt hat. Weitere Berichte in der Süddeutschen Zeitung und der ZEIT tun ihr übriges. Meine Gefühlslage gegenüber diesem plötzlichen Hype um meine Geschichte ist extrem ambivalent. Es geht nicht um mich als Person, das weiß ich natürlich, sondern um meine Funktion, um das erfolgreiche Coming-Out. Trotzdem fühlt sich die Aufmerksamkeit gut an.
Bis sich meine Vergangenheit wieder wie ein grauer Schleier über alles legt. Die dunkle Seite meiner Geschichte, die kaum jemand kennt und die mich aus meiner Sicht nicht zum Vorbild taugen lässt, drängt sich ins Heute. Jahrelange Depressionen, Selbstmordgedanken und Gewaltphantasien gegen mich selbst – nie könnte ich sagen: Lebt so wie ich, dann wird alles gut!
Das alles wird mir umso bewusster, da ich mein Leben in diesen Tagen und Wochen viele Male rekapitulieren muss. Für die Journalisten, denen ich mein ganzes Leben erzählen soll. Immer abwägen, was erzähle ich, was nicht. Aber nicht nur für die Presse, auch für die vorgeschriebene Psychotherapie, die ich machen muss, um die Hormonersatztherapie genehmigt zu bekommen. Und für alles andere auch. Notwendige Operationen, die Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde.
Andere Transidente, die noch vor ihrem Outing stehen und jetzt meine Hilfe brauchen, fragen mich nach meiner Geschichte, danach, wie ich mir selbst gewiss wurde. Immer wieder höre ich, dass andere mich als Vorbild nehmen; sie erzählen in ihrer Therapie von mir. Manche Ärzt*innen kennen mich schon, bevor ich bei ihnen in der Praxis sitze.
Ich schaue dabei immer wieder den eigenen Abgründen ins Gesicht. Ich sehe auf mein Leben, das so oft an der Kante zum Abgrund verlief. Wie die Gefährten im Herrn der Ringe bin ich durch Moria gewandert. Durch das Outing bleibt kein Stein auf dem anderen. Ich sehe die Bruchsteine, aus dem ich mir meine neue Existenz als Sebastian aufbaue – nicht ohne Stolz, aber eben auch mit Anstrengung und Demut.
Dass meine evangelikale Vergangenheit und mein jahrelanges Wirken in evangelikalen Gruppen kein Thema wird, nicht in der Presse, aber auch nicht online – es verwundert mich. Ich wäre doch eine optimale Zielscheibe! Ein Mensch, der nicht akzeptiert, wie Gott ihn geschaffen hat, und der in seinen vollkommenen Schöpfungsplan eingreift. Das geht nicht. Das ist gegen Gottes Willen. Ich habe mich vom vermeintlich rechten Weg abgewandt, zunächst indem ich mich zu meiner Liebe zu Frauen bekannt habe. Homosexualität wird in diesen Kreisen sehr oft als Sünde angesehen. Von Gott nicht gewollt. Und nun will ich als Transmann leben. Viel mehr Gotteslästerei geht doch nicht. Aber offenbar haben die ehemaligen Mitstreiterinnen vollkommen mit mir abgeschlossen. Oder ist die Luft aus dem Thema völlig raus? Die „Ehe für alle“, die im Sommer 2017 ein großes Thema war, das fix beschlossene Gesetz, die erste transidente Soldatin Anastasia Biefang in der Bundeswehr, all das war kurz vor meinem Outing. Haben sich die Konservativen schon an anderen abgekämpft? Innerlich bin ich trotzdem auf der Hut.
So stark ich in diesen Wochen und Monaten offenbar auf viele Menschen wirke – in mir sieht es zunehmend anders aus. Die Entscheidung, das Outing, alles war richtig. Aber ich bin nicht der strahlende Held, dem die Titelseiten der Zeitungen gehören. Ich bin ein ungeduldiger Mensch, nichts geht mir schnell genug, vor allem nicht, wenn ich weiß, dass etwas richtig ist und ich trotzdem warten muss. Seit September 2017 bin ich in Therapie, weil ich psychiatrische Gutachten für meine Hormontherapie benötige. Transidentität lässt sich auf körperlicher Ebene noch nicht nachweisen, auch wenn die Neuroforschung schon sehr weit ist. Die Hormonumstellung greift massiv in den Körper ein, das ist ja auch so gewollt. Aber die Selbstvergewisserung reicht den Ärzt*innen nicht aus. Also braucht es eine psychiatrische Begutachtung. Und das nicht nur einmal. Nicht nur ich, viele empfinden das Verfahren als unwürdig, verletzend. Doch nach derzeitigem Stand haben wir in Deutschland keine andere Wahl, als uns darauf einzulassen. Meine Therapeutinnen sagen mir: „Wenn wir nicht bei Ihnen sicher sind, bei wem dann?“ Und trotzdem. Ich bin zum Warten verdammt. Regeln, Vorschriften, Empfehlungen der medizinischen Fachwelt. Soweit ich weiß, ist da niemand betroffen. Sie beurteilen von außen, ob wir „richtig“ sind. Wie wir uns zu fühlen und zu verhalten haben und woran wir erkennen, dass wir richtig sind. Sechs Monate. Mindestens. Diese Zeit vergeht quälend langsam. Eigentlich wollte ich ja nicht die Tage rückwärts zählen, bis ich zum ersten Mal Testosteron erhalte. Doch die Ungeduld wird täglich größer, mächtiger. Es ist kurz vor Weihnachten. Mein neues Leben klopft an. Immer lauter.
brüchige Existenz
und?
wenn es dich brechen will
zu Boden beugt
den Willen greift
die Stärke kappt
Halt und Seele prüft
bis ins Mark
bis auf den Seelenfaden
von dir bricht‘s
kannst‘s nicht halten
nicht widerstehen
Splitter krachen springend davon
mürbe gewordene Teile verabschieden sich leise
und?
Geknicktes wird Er nicht brechen
Geschlagenes hebt Er aus dem Staub
Bruchstückbewahrer
03.11.2016
Sturm, Drang, Radikalisierung
In ihrer Pubertät entwickelt Silke zwei Taktiken, um mit ihrem Gefühlschaos umzugehen. Sie versteht nicht, was mit ihr los ist. Weshalb sie sich in ihrem Körper nicht wohlfühlt. Warum sie keinen Freund hat. Weshalb ihr erste Anzeichen von Sexualität völlig zuwider sind. Sie, die Einzelgängerin, spielt zwar Handball. Teil des Teams ist sie nie wirklich. Nun steht die Konfirmation an. Doch mit dem religiösen „Zeug“ kann die Jugendliche nicht viel anfangen. Mit dem Ortspfarrer liefert sie sich intellektuelle Debatten über Glauben und Naturwissenschaften. Sonntags ist sie lieber beim Handballspiel der ersten Mannschaft ihres Vereins, statt in der Kirche die Zeit abzusitzen. Doch manchmal muss sie dorthin – um die nötige Zahl an Gottesdienstbesuchen für die Zulassung zur Konfirmation zu erreichen. Warum sie überhaupt mitmacht bei diesem Zinnober? Familiäres Pflichtgefühl. Die Familie ist bekannt im Ort. Keine Konfirmation für Silke wäre ein Ärgernis. Sie fügt sich. Wieder einmal.
Bis sie eines Nachts diesen Traum hat. Silke kommt zu spät in den Gottesdienst, schleicht sich auf die Empore, eigentlich wäre sie lieber in der Sporthalle, das schlechte Gewissen aber hat sie zur Kirche getrieben. Nun sitzt sie dort, wartet, holt sich am Ende eine Unterschrift vom Pfarrer. Eigentlich zu Unrecht. Dieser Traum lässt Silke nicht los. Einige Tage später schreibt sie eine Latein-Schulaufgabe. In Englisch brauchte sie eine Vier im Zeugnis, denn die Fünf ist für Latein reserviert. Während der Schulaufgabe ist immer dieser Traum im Kopf. Sie kommt mit der Sprache einfach nicht klar. Grammatik und Vokabeln wollen nicht in ihren Kopf. Doch dieses Mal schreibt sie eine Zwei. Sie legt dabei eine Übersetzung hin wie nie zuvor und nie wieder danach. Sie selbst empfindet den Gedanken als schräg und als abwegig, trotzdem ist sie sich absolut sicher: Die Klausur hat nicht sie geschrieben, sondern Gott. Und spürt dabei tief in sich drin etwas. Silke ist fest überzeugt: Gott hat sie freundlich angeschaut. Gott will mich! Gott interessiert sich für mich!
Normalerweise sucht in Silkes Heimatgemeinde der Pfarrer den Konfirmationsspruch für die Jugendlichen aus. Silke hat einen Wunsch. Es soll einer aus Psalm 23 sein. Der wurde beim Tod des Vaters gebetet, war wichtig für die Familie. Aber nicht der erste Vers vom guten Hirten, sondern Vers vier: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“ Der Pfarrer ist einverstanden. Ein Wort für ein ganzes Leben. Wie passgenau der Spruch werden wird, war ihr damals noch nicht mal in Ansätzen klar.
Nach der Konfirmation schließt Silke sich der Kirchengemeinde an. Sie ist fast jeden Sonntag im Gottesdienst und engagiert sich im Kindergottesdienst-Team. Anfangs findet das alles in ihrer Ortsgemeinde statt – wobei Kirchenleben in Oberfranken zur damaligen Zeit immer eine äußerst fromme Angelegenheit ist. Silke ist dabei und zwar in vorderster Reihe. Der Besuch der Pfingsttagung in Bobengrün etwa war absolute Pflichtübung. Silke taucht innerhalb weniger Wochen nach ihrer Konfirmation völlig in die ganz fromme, evangelikale Szene ein. Sie liest alle Bücher der Szene-Stars Wilhelm Busch, C.S. Lewis, Peter Hahne, sie fühlt sich erstmals in irgendeiner Form verstanden. Sie stürzt sich aufs Thema Verkündigung, sie erzählt von ihrer „Lebenswende“, wie sie zum Glauben, wie sie den rechten Weg gefunden und wie sie ihr Leben an Jesus übergeben hat.
Zugleich wird Silke Mitglied im SPD-Ortsverein. Es ist die Zeit kurz vor Scharping, die SPD ist mal wieder anstrengend für ihre Mitglieder. Silke gilt dort als der „fromme Spinner“, ein Image, das sie durchaus mag und pflegt. In der Kirchengemeinde stößt sie damit immer wieder auf Unverständnis, oft genug hinter vorgehaltener Hand. SPD und Kirche, das ist für viele schwer, zusammen zu denken. Silke schreibt für die Lokalzeitung. Der Bericht über die Zeltmission mit Peter Hahne erscheint vierspaltig. Silke ist stolz und wird zugleich verletzt. Einer der Hauptamtlichen der Gemeinde wundert sich, wie jemand aus einem vermeintlich nichtchristlichen, weil sozialdemokratischen Elternhaus, so positiv und gewinnen für die Kirchengemeinde schreiben kann.
Trotzdem bleibt sie zunächst in der Ortsgemeinde. Die Jugendarbeit der Gemeinde läuft in gemischten Gruppen – anders etwa als beim CVJM vor Ort, wo Mädchen und Jungs voneinander getrennt sind. Alle Mädchen in Silkes Alter haben nach und nach ihren ersten Freund, nur sie nicht. Sie zweifelt wieder an sich selbst.
Dann kommt ein neuer, junger Pfarrer in ihre Heimatgemeinde. Der ist theologisch in der pietistischen Bayreuther „Gruppe Luther“ zuhause und führt getrenntgeschlechtliche Kinder- und Jugendarbeit ein. Für Silke ist das die Rettung. Sie wird in ihrem Rückzugsort Kirche nicht mehr mit Jungs in ihrem Alter konfrontiert, kein Händchenhalten und keine Küsse unter Gleichaltrigen mehr. Sexualität ist für die junge Frau etwas Böses, sie drängt ihre eigene geschlechtliche Identität immer mehr in den Hintergrund. Alle Fragen zu diesem Thema verbietet sie sich selbst. „Ich hebe mich für die Ehe auf“, sagt sie – und provoziert damit bewusst auch in der Schule. Silkes Mutter stört diese zunehmende Radikalisierung nicht, sie bekommt davon allerdings auch wenig mit. Sie denkt: Das Kind ist beim Pfarrer, also ist alles okay. Zumindest besser, als wenn sie mit Bier und Kippe in einer Kneipe säße.
Immer öfter fährt sie unter der Woche mit nach Bayreuth in die dortigen Gruppenstunden. Da spielt Politik keine Rolle. Manchmal trifft sie sogar auf andere Frauen, die politisch ähnlich denken wie sie. Es scheint, als hätte sie hier eine gute Heimat gefunden.
In der Schule redet sie sich bei Diskussionen um Kopf und Kragen: Sexualität sei etwas Böses, Tanzen des Teufels, all das korrumpiere den guten Christenmenschen. Sie setzt sich verbal scharf mit all jenen auseinander, die diesem strikten Weltbild nicht entsprechen: Sei es mit den Heavy-Metal-Fans mit ihren langen Haaren, sei es mit den bei Jungs beliebten Mädchen. Sobald ein Lehrer in der Schule diskutieren will, muss man Silke bloß einen provokanten Schubs geben und sie springt darauf an.
Die junge Frau ist deshalb beliebt beim Kollegium – verfestigt mit ihrem Verhalten aber die Rolle als Außenseiterin. Das aber findet sie nicht weiter schlimm. Heute ist Sebastian klar: So funktioniert Radikalisierung bis heute. Silke ist auf die Kritik Andersdenkender vorbereitet. Die „Gruppe Luther“ prägt ihre Überzeugungen, sie liefert ihr Argumentationshilfen – und stärkt das eigene Opfer-Empfinden. Angriffe und Anfeindungen von außerhalb werden als Zeichen der eigenen Glaubensstärke umgedeutet. Gegenseitig erzählen sie sich in den Gruppenstunden, wer von wem, wie heftig und oft angefeindet wurde. Silke führt das interne Ranking meistens an, wird von Gleichaltrigen bewundert, steigt in der Hierarchie auf, fühlt sich als Liebling der Gruppenleiterinnen.
Neben der Strategie, sich völlig in den Glauben zu stürzen, gibt es bei Silke auch noch eine zweite Seite – die nicht nur auf den ersten Blick schwer dazu zu passen scheint. Sie liest und liest, vor allem Philosophisches, Politisches, Wissenschaftliches, sie zieht sich in ihren Intellekt zurück; auch, um immer weniger Bezug zum eigenen Körper zu haben. Sie beschäftigt sich mit Politik, liest Willy Brandt und über die Anti-Apartheit-Bewegung in Südafrika. Wie passt das zusammen? Sozialdemokratin und Evangelikale? Natürlich war bei der SPD in Oberfranken Mitte der 1980er-Jahre nicht der real existierende Sozialismus ausgebrochen, aber trotzdem? Eine kleine Brücke zwischen Pietismus und SPD ist für Silke die Gerechtigkeit. Die evangelikale Szene vertrat zwar eine sehr exklusive Form von Gerechtigkeitssinn, aber immerhin. Für Silke passte das.
Die junge Frau, die schon zu diesem Zeitpunkt ausschließlich Hosen und eher männliche Klamotten trägt, stellt sich ohne mit der Wimper zu zucken vor ihre eigene Klasse und diskutiert über die Sünde sexueller Gedanken. Sie moralisiert bei wirklich jeder sich bietenden Gelegenheit. Tanzkurse werden zu Sodom und Gomorrha umgedeutet. Hohn und Spott ist ihr damals sicher, als sie dann doch auch selbst einen Tanzkurs macht. Sie will trotzdem irgendwie dazu gehören, zur Klasse, zu den Schulkamerad*innen, den „normalen“ Menschen. Ein Glaubensbruder, der sich ihrer erbarmt, wird ihr Tanzpartner. Silke nimmt ihr Außenseiterdasein an, frei gewählt ist es nicht. Sie ist nicht glücklich zu dieser Zeit. Doch in der „Gruppe Luther“ wird sie für ihre „Standhaftigkeit“ gelobt. Ihr Gemeindepfarrer macht ihr Mut. Mit ihm kann sie über sehr viel reden. Viele Abende verbringt sie dort. Mehr und mehr bekommt er die Rolle eines Ersatzvaters. Sie hat Selbstzweifel, aber er findet mit ihr eine Erklärung: Christus hat in der Welt gelitten, Christen müssen in der Welt leiden – und das sei nun eben ihr Leidensweg.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.