Kitabı oku: «Der die Träume hört», sayfa 4

Yazı tipi:

– Klar, sagte er, und nach einer kleinen Pause: Hast du nur deswegen angerufen?

– Ich weiß, sagte ich, eine WhatsApp hätte es getan, aber ich bin halt alte Schule.

Er lachte, als hätte ich einen Witz gemacht.

– Bis morgen, habibi, sagte er.

– Bis morgen, moruk, sagte ich. Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal moruk zu jemand gesagt hatte, es hörte sich falsch an aus meinem Mund, aber ich glaubte, er würde sich freuen.

Lesane saß auf der Couch und zockte, als ich die Tür aufmachte. Ich wusste nicht, ob ihm jemand das Gras vorbeibrachte oder ob er rausging und es besorgte. Ich hatte ihm einen Schlüssel gegeben, doch meistens hockte er drinnen.

– Weiß eigentlich jemand von deinen Freunden, dass du hier bist?

– Nur Fayaz.

– War er hier?

– Nein, wieso?

– Fragt sich keiner, wo du bist?

– Vielleicht. Geht mir am Arsch vorbei.

– Ayleen hat mich angerufen, Sami würde eine Entschuldigung annehmen …

– Warum soll ich mich entschuldigen?

– Weil du ihm eine Kopfnuss gegeben hast.

– Ja, aber der hat ja …

Er verstummte, weil ich den Kopf schüttelte.

– Vielleicht … kann ich noch ein paar Tage bleiben? Nicht viel. Zwei vielleicht. Ich entschuldige mich dann auch.

Ich überlegte und dann nickte ich. Wir konnten über Hip-Hop reden, wir konnten zusammen an der Konsole sitzen. Ich hatte kein Wort zur Kifferei gesagt. Ich hatte versucht, ihn nicht in eine Ecke zu drängen. Aber mittlerweile war ich genervt.

– Was hast du eigentlich gesucht?, fragte ich.

– Was soll ich gesucht haben?

– In meinem Kleiderschrank. Was hast du gesucht?

– Ich wollte joggen gehen und habe nach einer Hose geguckt, aber dann hatte ich doch keinen Bock mehr.

Er geriet nicht in Verlegenheit, er musste nicht kurz überlegen, was er sagen sollte. Offensichtlich log er regelmäßig.

– Mit mir wolltest du nicht joggen gehen.

Er zog die Schultern hoch.

– Hab nicht immer Bock.

– Und Jogginghosen hast du auch.

– Ich wollte ne kurze.

– Machst du das zu Hause auch?

– Was?

– Lügen.

– Wieso lügen? Wo lüge ich denn? Ich habe nach einer Jogginghose geschaut. Ich hätte es ja gesagt, aber dann habe ich es vergessen.

– Du hättest anrufen können.

– Mein Akku hat gerade rumgespackt.

– Lügst du Ayleen auch so an?

Er sprang auf.

– Ich schwör, Mann. Vallah, ich lüg nicht.

– Setz dich, sagte ich, aber er blieb stehen. Setz dich, wiederholte ich und war selber erstaunt über meinen Tonfall beim zweiten Mal. Als sei ich über zwanzig Jahre jünger und dabei, eine Schlägerei anzuzetteln.

Er schien ein wenig erschrocken, setzte sich.

– Vielleicht merke ich nicht jede Lüge, die du mir auftischst, sagte ich, aber …

– Ich … fiel er mir ins Wort, doch ich sagte:

– Du hältst jetzt den Mund und hörst zu. Ich weiß genau, dass du am ersten Schultag nicht in der Schule warst. Deine Schuhe standen noch genauso vor der Haustür wie morgens, die Schnürsenkel zusammengeknotet – das war ich. Ich weiß auch, dass du keine Jogginghose gesucht hast. Ich weiß, dass du hier am offenen Fenster kiffst und ich bin mir ziemlich sicher, dass du noch einen anderen Grund hattest, Sami eine Kopfnuss zu geben, als diese Fernbedienung. Ich weiß, dass du mir nicht vertraust, und das würde ich an deiner Stelle vielleicht auch nicht. Aber ich habe die Schnauze voll davon, dass du glaubst, ich bin so dumm, dass ich das alles nicht merke.

Er war eingeschüchtert. Oder tat nur so, weil er wusste, dass man das von ihm erwartete. Ich wusste es nicht.

– Was schlägst du vor? Soll ich einfach aufhören, dir Fragen zu stellen? Stell keine Fragen, hör keine Lügen. So einfach. Oder hast du einen anderen Vorschlag?

Er sah zu Boden. Und wartete. Als sei das eine Art Regenschauer, der vorbeiziehen würde, und dann konnte man so weitermachen wie bisher. Bestimmt drei Minuten schwiegen wir, ohne dass er auch nur hochsah.

– Hast du einen Vorschlag?, wiederholte ich.

Er hob den Kopf und sah mir in die Augen.

– Gib mir einfach noch drei Tage. Bitte.

Wie hätte ich nein sagen sollen?

8

– Kann ich mit ins Büro?, fragte Lesane mich morgens. Es war Samstag, ich nickte.

Während ich etwas ziellos nach Anhaltspunkten suchte, die mir weiterhelfen konnten herauszufinden, wer Toni war, tippte und scrollte Lesane auf seinem Handy herum.

Bei fraudsters hatte ich zwei Antworten auf meine Frage nach einem Chemiker. Die erste von corebox war: Guter Witz, Uwe, aber wir wissen, wo dein Auto steht.

Uwe war ein Szenewort für Polizei. Ich hatte geahnt, dass diese Reaktion kommen konnte. Um das zu verhindern, hätte ich erst wochenlang im Forum posten und mehr Vertrauen gewinnen müssen. Die zweite Antwort von HideAll lautete: Mephedron in Deutschland? Vergiss es. Der dritte Post von Flexking: Hast PN.

Ich klickte auf Private Nachrichten, Flexking schrieb: Proofpic vom Labor, dann reden wir weiter.

Ich wusste nicht, ob ich mich über diesen kleinen Erfolg freuen konnte.

– Nizar?, sagte Lesane.

– Ja.

– Guck mal bitte.

Er schob mir sein Handy über den Tisch. Es war ein Foto von zwei Wettscheinen, bei denen jeweils 50 Euro eingezahlt worden waren. Für den ersten wurden nun 3488,59 ausgezahlt, für den zweiten 2477,12. Es war auf das Ergebnis von Fußballspielen gewettet worden.

– Haufen Asche, sagte ich und schob das Handy zurück. Ich erinnerte mich dunkel daran, dass Sevgi etwas über einen Typen erzählt hatte, der Geld mit Wettscheinen machte.

– Das ist Maverick, ein Undergroundrapper aus Neukölln, sagte Lesane. Der hat in den letzten Wochen über zehn Riesen mit Wetten gemacht.

– Und jetzt möchtest du auch wetten?

– Der hat einen YouTube-Kanal, da gibt er Tipps. Tipico hat wegen dem schon 340.000 Euro Verlust gemacht.

– Dann wette.

– Will ich ja. Kannst du mir 500 Euro leihen?

– 500?

– Du kriegst sie wieder.

– Auf den Scheinen war weniger Einsatz.

– Ich muss das Risiko verteilen, deswegen. Du kriegst 1.000 wieder. Versprochen.

– Was willst du mit so viel Geld?

– Wetten, sagte er.

– Nein, was willst du mit dem Geld, das du dann gewonnen hast?

– Ne Rolex kaufen. Rolex Daytona. Wenn ich mit der zum Vorstellungsgespräch gehe, nimmt mich jeder.

– Rolex?

– Daytona.

Ich sah ihn an. Wenn man an seinem Kind etwas sieht, das einem gefällt, ist man wahrscheinlich stolz. Als könnte man was dafür. Vielleicht kann man ja wirklich was dafür. Wenn man etwas sieht, das einem nicht gefällt, schiebt man es vielleicht auf jemand anderen. Ist dieser Junge wirklich so dumm, fragte ich mich.

– Erstens, sagte ich, hast du nicht mal eine Bewerbung geschrieben, soweit ich weiß, geschweige denn ein Vorstellungsgespräch für irgendetwas. Zweitens hast du in der Schule außerdem jede Menge Fehlzeiten, wenn ich das richtig sehe, ich weiß nicht, ob du überhaupt einen Abschluss kriegst. Drittens würdest du gerade mit der Rolex den Ausbildungsplatz nicht kriegen, weil der Mensch auf der anderen Seite sofort wüsste, dass du krumme Dinger drehst.

– Wetten ist kein krummes Ding.

– Er würde dich trotzdem nicht nehmen.

– Bitte, sagte er. Bitte, leih mir das Geld.

– Wofür?

– Boah, warum muss ich denn immer alles erklären? Mann, ich will wetten, weil man damit Kohle machen kann.

– Kannst gerne wetten, aber nicht mit meinem Geld.

– Ich gebe es dir wieder. Echt. Wort drauf.

Ich dachte nach. Ich hatte gesehen, was alles bei Kamber nicht geholfen hatte. Wenn ich ihm das Geld nicht gab, würde er wahrscheinlich andere Wege suchen, um es aufzutreiben. Wenn ich es ihm gab, würde es auch nicht helfen, sondern wahrscheinlich auf irgendeine Art schaden. Aber vielleicht würde ich ihn dann besser verstehen, weil ich ihn näher bei mir hatte.

Er versuchte sich das Grinsen zu verkneifen, als ich meine Geldbörse hervorzog und ihm zwei Scheine gab.

– Das sind nur 100, sagte er. Es klang nicht enttäuscht, sondern vorwurfsvoll.

Kurz war ich versucht, ihm das Geld wieder aus der Hand zu ziehen.

– Geh, bevor ich es mir anders überlege, sagte ich, doch noch während er die Tür zuzog, fragte ich mich, was mit mir nicht stimmte, dass ich mich mit einem Siebzehnjährigen anlegen wollte. Was sollte das bringen?

Ich nannte mich Detektiv, aber ich hatte mich nie damit beschäftigt, unauffällig Menschen zu beschatten. Ich war mir trotzdem sicher, dass Lesane mich nicht bemerkte. Er fuhr mit der Straßenbahn ins nächste Viertel, in dem es Wettbüros gab. Er kam mit Wettscheinen in der Hand wieder raus. Ich fuhr zu meiner Verabredung mit Ergün.

Er bestellte anderthalb Adana Iskender, ich eine Gemüsepfanne.

– Was ist, habibi, unter die Vegetarier gegangen?, fragte Ergün und lachte.

Ich lächelte einfach nur und ließ die Frage untergehen. Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen und er war arg gealtert. Doch vielleicht dachte er das Gleiche von mir. Seine Geheimratsecken waren fast so groß wie seine Hände, da waren Falten um die Augen und tiefe Furchen von der Nase zu den Mundwinkeln. Er war früher dünn gewesen, dünner als die meisten, aber jetzt sah er aus wie eine Kugel, auf die man einen Kopf gesetzt hatte und zwei Beine druntergeklebt, Beine, die nicht so aussahen, als könnten sie das Ganze tragen.

– Warum hast du Armbruster eigentlich zu mir geschickt?

– Der sah nach Geld aus und ich dachte, vielleicht könntest du ein wenig davon gebrauchen.

Ich sah ihn an. War da etwas Überhebliches in seiner Stimme? Etwas, das mir zeigen sollte, dass er es geschafft hatte und ich nicht? Der ehemals uncoole Junge gab sich nun gönnerhaft. Oder bildete ich mir das gerade ein?

– Weißt du etwas, das mir weiterhelfen könnte?

Er lächelte.

– Es ist ziemlich aussichtslos, das ist dir klar, oder?

Ich machte eine Kopfbewegung, die alles heißen konnte.

– Ich habe ihn über die Einzelheiten nicht ausgefragt, sagte ich. Sein Sohn tot, genug Schmerz, ich dachte, ich frage dich.

– Sie waren bei Armbrusters zu Hause, Vater übers Wochenende auf Motorradtour, Mutter mit einer Freundin im Harz. Als sie Sonntag Nachmittag nach Hause kommt, sind die beiden voll drauf, Riesenteller, Kiefermahlen, unwillkürliche Zuckungen, nicht mehr gesprächsfähig. Mutter ruft den Notarzt, als der kommt, ist Fynn bereits tot. Spurensicherung findet weißes Pulver, der Freund sagt, es ist Mephedron, Laboruntersuchung bestätigt reines Mephedron. In ein paar Wochen wird die Familie einen Brief bekommen, dass die Ermittlungen eingestellt wurden. Der Freund wird nicht belangt.

– Kein Umschlag, in dem das Mephedron verschickt wurde? Keine Informationen über einen Anstieg von Mephedronkonsum in der Stadt? Kein Detail, das für mich noch interessant sein könnte?

– Nizar, wie ich ihn kenne. Ehrgeiz und Zielstrebigkeit. Der Dealer ist nicht zu fassen, nicht für einen allein. Ich hoffe, du hast Armbruster eine gute Pauschale berechnet.

– Ich danke dir, sagte ich, aber ich war mir nicht mal sicher, ob ich es wirklich meinte.

Er lächelte.

– Wir haben den Umschlag, in dem das Mephedron angekommen sein soll. Abgeschickt aus Duisburg.

– Das schränkt die Suche doch ein.

– Klar, sagte er, vielleicht fünfhundert Briefkästen, knapp zwanzig Postfilialen, dreißig Packstationen, schätze ich mal einfach so grob. Kann man alles rund um die Uhr bewachen. Weißt du jetzt, wie man sich klont?

Er lachte.

– Ich habe noch eine Bitte, sagte ich. Kannst du mir ein Foto von einem Labor schicken, das ihr hochgenommen habt?

– Wofür?

– Für genau diesen Job.

Er sah mich prüfend an.

– Ich suche in einem Kriminellenforum jemanden, der mir Mephedron kocht. Ist keine gängige Droge, können sich nicht so viele mit auskennen, habe ich gedacht. Jemand hat angebissen, möchte aber ein Beweisfoto, dass ich tatsächlich ein Labor habe. Egal, was ich im Netz finden würde, er könnte es auch finden.

– Er wird auf dem Foto vom Labor einen Zettel mit deinem Nick haben wollen, wenn er kein Dummkopf ist.

– Proofpic, ja, vielleicht finde ich jemanden, der mir das photoshopt.

– Ich schaue mal, ob ich das hinkriege, sagte er. Wie ist dein Nick im Forum?

– Bushwick.

Er lachte.

– Du machst dir zu viel Arbeit, habibi, aussichtslose Arbeit. Er hatte ein wenig Joghurtsoße am Kinn und war mit seiner Portion fertig. In meiner dünnen Blechpfanne war noch ein Drittel übrig und ich schob sie weg. Alles schwamm in Fett und war versalzen.

– Mir schmeckt’s auch nie, wenn kein Fleisch dabei ist, sagte Ergün.

Auf dem Heimweg war ich versucht, ihm Recht zu geben. Ich machte mir zu viel Arbeit. Wofür genau? Meine Aussichten waren wahrscheinlich schlechter als Lesanes beim Wetten. Viel schlechter. Ich konnte auch einfach ein paar Wochen absitzen und mich mit dem Festhonorar zufrieden geben.

Trotzdem erstellte ich mir im Büro einen neuen Account bei Dream Market, weil Toni bestimmt auffallen würde, wenn ich vom selben Account eine geringe Menge bestellte, nachdem ich vier Kilo angefragt hatte. Ich transferierte die nötigen Bitcoins auf mein neues Dream-Market-Konto und legte 3,5 Gramm Mephedron von Toni in den Warenkorb. Ich bemerkte, dass Lesane die Tür öffnete, klickte noch auf Bestellen und sah dann erst hoch. Er war im Türrahmen stehen geblieben und jetzt erst sah ich, wie blass er war. Und unsicher auf den Beinen. Da war Angst, nicht nur in seinen Augen, sondern in seinem ganzen Körper. Ich stand auf, legte ihm den Arm um die Schulter und führte ihn zum Stuhl. Ich gab ihm ein Glas Wasser. Ich fragte nicht, was passiert war, ich wartete. Er nahm einen Schluck, dann noch einen und sah mich dann an. Ich wusste nicht, ob er losheulen würde, schreien oder lügen. Vielleicht wusste er es selbst nicht.

– Ich habe Scheiße gebaut.

Wie oft hatte Sevgi diesen Satz von Kamber gehört. Ich sah Lesane an, so freundlich wie möglich.

– Aber ich war nicht alleine schuld, echt nicht.

– Was immer es ist, es lässt sich bestimmt regeln, wenn wir nur reden.

Er senkte den Kopf.

– Ich schulde Dilovan 20.000 Euro, sagte er.

– Dilovan? Dem Dilovan?

Er nickte.

Ich ging auf die andere Seite des Schreibtischs und setzte mich auf meinen Stuhl. Was immer es war, er steckte mit dem ganzen Schädel drin.

Nachdem er mir erzählt hatte, was passiert war, fragte ich mich, wo der sicherste Ort für ihn war. Mir fiel nur Rahel ein. Ich hatte sie seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr angerufen.

9

Es war halb sechs, als ich aufwachte, es gab nichts, was zurück in den Schlaf führte, das wusste ich, aber es hinderte mich nicht daran, mich noch mal umzudrehen und es trotzdem zu versuchen. Ich hatte unruhig geschlafen, in der Erwartung, die Tür könnte jederzeit aufgebrochen werden.

Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, nach Westmarkt zu fahren und Dilovan zu suchen, anstatt zu warten, bis er oder einer seiner Leute hier aufkreuzte, weil Fayaz ihnen verraten hatte, wo Lesane gerade wohnte.

Ich fragte mich, ob ich Lesane abholen und ihn mit zu Sevgi nehmen sollte. Er kann kein Türkisch, sagte ich mir, es wäre nicht sinnvoll. Außerdem hatte ich ihn bisher mit keinem Wort erwähnt, ich wusste selber nicht genau warum. Vielleicht weil ich mich schämte, dass ich nie für ihn da gewesen war. Dass ich nicht gespürt hatte, dass er existiert. Nein, das war es nicht, es war, weil ich ahnte, an wen er Sevgi erinnern würde.

Ich würde ihn bei Rahel lassen, bis ich mit Dilovan geredet hatte, aber was dann? Ins Wettbüro gehen? Sevgi um Geld bitten? Dilovan um Aufschub? Erst mal war mir wichtig gewesen, Lesane aus der Schusslinie zu haben.

Ich fragte mich, wie Lesane jetzt schlief. Ob er sich sicher fühlte. Ob Rahel ihm ansehen konnte, dass er 20.000 Euro Schulden bei einem Kriminellen hatte, vor dem man Angst haben musste. Wie gerne hätte ich ihn gestern Abend in den Arm genommen und gesagt: Keine Angst. Ich stehe hinter dir.

Obwohl es Sevgi gewesen war, die immer gesagt hatte: Nizar, ich stehe hinter dir, es reicht, wenn du aufrecht gehst, mehr brauchst du nicht zu tun, obwohl Sevgi mich beschützt hatte, draußen hatte ich mich nur sicher gefühlt, wenn Kamber dabei war. Kamber, ich hatte gewusst, mit ihm würde ich nicht allein sein, selbst wenn wir verloren.

Dilovan war gute zehn Jahre jünger als ich und irgendetwas war anders bei diesem Kerl. Er war schon mit vierzehn mit zu großen Deals nach Holland gefahren. Die Leute, die ihn nicht kannten, nahmen ihn nicht ernst, weil er so jung war, aber er hatte oft einen Dolch dabei, den er im Ärmel versteckte, und er hatte keinerlei Skrupel ihn auch zu benutzen. Mit sechzehn wickelte er selber Deals ab, heuerte Fahrer an oder fuhr selber, wenn sich keiner fand. Tarkan hatten alle bewundert, Kamber hatten auch alle bewundert, Tarkan und Kamber waren cool gewesen. Dilovan nicht, vor dem hatten immer alle Angst.

Dilovan war keiner dieser Männer, die wenigstens vorgaben, sich um das zu kümmern, was sie Familie nennen, und die mit ihrem Viertel verbunden sind. Dilovan war ein Geschäftsmann, kein Choleriker, aber auch kein cooler Typ. Viele in seiner Liga koksten zu viel, zogen zu viel Speed, tranken zu viel. Dilovan nahm keine Drogen, er rauchte nicht mal und trank selten ein Glas Bier. Er nahm keine Anabolika, von denen er hätte aggressiv werden können, er war auch nicht aufbrausend, doch wenn es um Gewalt ging, war bei ihm irgendetwas anders als bei den meisten anderen Menschen. Er brach Schädelknochen, wie andere Nackenschellen verteilten.

Warum, hatte ich Lesane gefragt, warum um alles in der Welt geht man zu so jemandem wie Dilovan und fragt nach Gras im Wert von 20.000 Euro auf Kombi?

– Ich habe nicht danach gefragt, hatte er geantwortet, er hat es mir angeboten. Weil er gesehen hat, dass ich ein guter Ticker bin und weil mir sonst keiner eine Chance geben wollte.

– Aber warum gleich so viel? Viel zu großes Risiko. Null Backup, falls es schiefgeht. Das war dumm. Warum?

– Er hat mir diese Chance angeboten. Er hat an mich geglaubt.

– Ihm kann es egal sein, ob du es in den Sand setzt oder nicht.

Er kriegt sein Geld.

– Ich hab’s nicht.

– Ich weiß. Und er weiß es auch, er wird dich für lau arbeiten lassen.

– Dann muss ich für jemand in den Knast. Oder Fuhren aus Holland holen. Oder bei ’nem Raub mitmachen.

– Richtig. Und das willst du nicht, oder? Der glaubt nicht an dich, der glaubt nur ans Geld. Was wolltest du mit so viel Asche? 20.000. Da wären einige Riesen für dich abgefallen, was willst du damit?

– Alles hier ist Para. Hosen kosten Geld, Schuhe kosten Geld, Uhren kosten Geld, Auto kostet Geld. Ich hätte es in drei, vier Tagen vertickt. Es war nicht meine Schuld.

Es war eine unglaubwürdige Geschichte, wie ihm das Gras abhanden gekommen war, und irgendetwas daran schien mir faul, aber ausnahmsweise hatte ich nicht das Gefühl, dass er mich belog. Sie hatten das Gras im Kofferraum von Fayaz’ Auto verstaut, in zwei Sporttaschen, vakuumiert, geruchsfrei. Hatten im Halteverbot geparkt, da, wo sie immer parkten. Wo sie noch nie abgeschleppt worden waren. Sie hatten nur eine Stunde Fußball gespielt an der Wiese am Blumenberg. Als sie wiederkamen, war der Wagen weg, abgeschleppt, wie sie herausfanden. Sie waren nervös, aber sie fuhren ihn abholen, um hinterher festzustellen, dass der Kofferraum leer war. Und da war niemand, den sie nach dem Gras fragen konnten. Lesane hatte sich mit Fayaz den Kopf zugeraucht und war nach Hause gegangen und hatte Sami die Kopfnuss verpasst.

– Erinnerst du dich an Ayleen?, fragte ich Sevgi, als sie sich die Zigarette nach dem Essen anzündete.

– Die, deren Mutter Deutsche ist?

– Genau die.

– Die Mutter taugte nichts. Der Mann hat sie ja dann auch verlassen. Wie hieß der noch?

– Hamdi.

– Genau, der ist ja zwei, drei Jahre nach der Trennung in die Türkei gezogen. Und Ayleen … die war nicht so dumm, wie alle immer geglaubt haben, weil sie diese komische Stimme hatte. Aber die hat ihre Nase immer so hoch getragen, als sei sie irgendetwas Besseres.

Einen Moment lang überlegte ich, ob ich es lassen sollte. Andererseits gab es ohnehin niemanden, über den sie ein gutes Wort verlor. Es zog in meinen Handflächen. Ich war aufgeregt. Schon wieder war ich aufgeregt. Klar konnte man sein Leben so einrichten, dass man seine Ruhe hatte. Nur brach irgendwann einfach alles zusammen. Was hatte ich schon gewollt, außer ein wenig Musikhören, eine kleine Wohnung, ab und an einen Joint und sonst Stille?

– Die hat doch diesen Hilfsarbeiter geheiratet. Wie heißt der noch?

– Sami. Er ist jetzt Paketfahrer.

– Ja, Sami. Nicht der Hellste, aber ein guter Junge. Die haben doch einen Sohn, oder? So ein Nichtsnutz, dem schon vorbestimmt ist, auf den Matratzen von Zellen zu schlafen.

Es war nicht der richtige Moment, aber es würde nie der richtige Moment sein.

– Er ist mein Sohn, sagte ich.

– Bitte?

– Lesane, er ist nicht von Sami. Ich bin sein Vater.

– Geh, sagte sie. Was willst du denn mit dem? Wenn du jemanden adoptieren willst …

– Nicht adoptieren, unterbrach ich sie. Er ist mein Sohn. Mein leiblicher Sohn. Wir haben einen Test machen lassen.

Sie ließ ihre Zigarette sinken und sah mich an.

– Ich bin eine alte Frau, sagte sie, erlaub dir keine Scherze mit mir, mit einem Bein stehe ich …

– Es ist kein Scherz, sagte ich. Er ist mein Sohn.

– Seit wann weißt du das?

– Ein paar Tage, sagte ich, weil ich nicht lügen wollte.

Ich hatte sie oft angelogen, sehr oft, aber ich wusste nicht, wie lange das letzte Mal her war.

– Wer weiß es noch?

– Ayleen und er selber. Sonst niemand.

– Sami?

Ich schüttelte den Kopf.

Sie hatte es auch nicht geahnt und irgendwie beruhigte mich das. Sie griff nach der Packung, obwohl in ihrer Hand noch eine Zigarette brannte. Man sah den Widerstreit in ihr zwischen Freuen und Fluchen.

– Was hat sie sich dabei gedacht, dir das so lange zu verschweigen?

Sie legte die Packung wieder weg, als sie die Zigarette zwischen ihren Fingern bemerkte.

– Ich weiß es nicht.

Sie schüttelte den Kopf.

– Was hat sich diese Schlampe denn gedacht?

Ich hob die Schultern. Sie sah mich an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, noch einen Moment und sie würden über das Lid fließen. Sie drehte den Kopf weg.

– Wie hieß das Mädchen noch mal?

– Ayleen?

– Nein, diese Deutsche, mit der du weggefahren bist.

– Rahel? Wie kommst du denn jetzt auf Rahel?

Sie sah mich wieder an. Die Tränen waren nicht geflossen und würden nicht fließen.

– Ich bin eine alte Frau, sagte sie. Ich hätte dir ein Kind gewünscht. Was habe ich verbrochen, dass ich nie ein Enkelkind im Arm halten konnte? Was hast du verbrochen, dass sie dir seine Kindheit gestohlen hat? Sie ist eine Diebin. Du wärst ein guter Vater gewesen.

Sie sagte es mit einer solchen Überzeugung, dass es mich traf wie ein Faustschlag. Mir schossen die Tränen in die Augen und ich schaute auf den Tisch.

– Und warum hat sie es dir jetzt gesagt? Welchen Vorteil erhofft sie sich davon?

– Er streitet sich jeden Tag mit Sami. Sie hatte Angst, dass es Gewalt gibt, und wusste sich nicht mehr zu helfen.

– Ja, sagte sie, jeder Fehler, den man zu verstecken versucht, führt am Ende in eine Sackgasse. Vielleicht sieht es eine Zeit lang aus wie das Paradies, aber das Paradies kennt keine Sackgassen. Wenn Gott den Menschen nur etwas mehr Verstand gegeben hätte. Was machst du jetzt? Trefft ihr euch?

– Er wohnt gerade bei mir, rutschte es mir heraus.

– Er …

Mein Magen verkrampfte sich. Ich wollte nicht lügen.

– Er hat Sami eine Kopfnuss gegeben. Ist vielleicht gut, wenn alle ein wenig Abstand haben.

Ich wusste, woran es sie erinnert hätte, wenn ich ihr die ganze Wahrheit erzählt hätte. Ich wollte nicht. Und ich glaube, wenn sie es sich hätte aussuchen können, hätte sie es auch nicht gewollt.

– Ist er ein dummer Junge?, fragte sie.

– Ich fürchte schon.

Sie schüttelte leicht den Kopf und lächelte. Macht nichts, sollte das heißen. Sie lächelte voller Wärme.

– Wir haben schon ganz andere Berge erklommen, sagte sie. Ich schämte mich, dass ich nicht zu so einem Lächeln fähig war.

Später, nachdem ich ihr wieder und wieder versprochen hatte, ihn nächstes Mal mitzubringen, schloss sie die Wohnungstür hinter mir und ich setzte mich im zweiten Stock einfach auf die Stufen.

Ich wollte nicht raus.

1993, The World Is Yours, Scarface

Es fängt mit Unruhe und Aufregung an, er muss kacken und geht ins Gebüsch. Als er wiederkommt, behaupten die anderen, sie spürten nichts. Kamber schlägt vor nachzuwerfen, obwohl nicht viel mehr als eine halbe Stunde vergangen sein kann. Sie haben nicht genug zweite Teile für jeden, also bekommt jeder noch ein halbes. Es sind kleine weiße runde Pillen, auf der einen Seite ist der Diesel-Indianer, auf der anderen eine Bruchrille.

Sein Brustkorb scheint sich zu weiten, er atmet tief ein, überrascht davon, wie viel Luft in ihn hineinpasst und wie gut sie sich anfühlt. Es ist, als würde eine nie gekannte Energie ihn durchfluten, eine Energie, die ihm aber dennoch vertraut vorkommt. Das ist eine Viertelstunde nach der nachgeschmissenen halben Pille.

Kurz darauf ist er überfordert. Als würde ein Orkan ihm die Füße vom Boden reißen und ihn mitnehmen. Er bekommt mit, dass Kamber sagt, er spüre immer noch nichts, dann scheint das Bild vor seinen Augen zu wackeln, er weiß nicht wohin mit der Energie, er ist ganz bewegungslos. Er weiß nicht wohin mit sich. Das ist nicht die Paranoia, die manchmal beim Kiffen kommt, es ist etwas ganz anderes. Als würden alle Knoten in ihm einfach aufgelöst werden.

Er hört, wie Kamber auf eine Frage antwortet: Wieso? So fühle ich mich immer.

Das Nächste, woran er sich hinterher klar erinnert, ist, dass sie zu dritt auf der Bank am Spielplatz sitzen und Kamber vor ihnen auf und ab geht, während er selber redet. Als hätten sich die Worte jahrelang in ihm aufgestaut. Als würden sie jetzt alle wie von selbst in der richtigen Reihenfolge aus seinem Mund sprudeln.

Wie froh er ist, einen Bruder wie Kamber zu haben, eine Mutter wie Sevgi. Wie traurig er manchmal ist, weil er Sevgi so viel Kummer bereitet. Wie oft er sich wünscht, wie Kamber zu sein. Mutig. Unerschrocken. Draufgängerisch. Klug. Gewitzt. Wie sich diese Sehnsucht nach Freiheit anfühlt. Eine blaue Sehnsucht, sagt er, blau wie der Himmel, blau wie das Meer. Er sieht die anderen an und sie nicken. Klar, blaue Sehnsucht, sie verstehen ihn genau. Er erzählt von dieser Angst, die ihn nie ganz loslässt, die Angst, dass alle einfach gehen könnten, dass Kamber auf einmal weg ist, dass Sevgi auf einmal weg ist, dass er allein ist.

Kamber geht immer noch auf und ab, manchmal hebt er einfach die Arme zum Himmel und schaut hoch. Er sagt, wie eifersüchtig er manchmal auf Nizar ist, obwohl er ihn liebt. Liebt, sagt er, er liebt Nizar und Nizar spürt dieses Wort in seinem ganzen Brustkorb.

Kamber erzählt, wie er das Gefühl hat, Mutter und Vater würden sich wünschen, er wäre jemand anderes. Jemand, der weniger Scheiße baut. Jemand, der ruhiger ist. Wie er manchmal einfach nur Scheiße baut, weil er ihre Aufmerksamkeit haben möchte. Wie sie ihn aber nie sehen, egal, wie sie gucken, sie sehen ihn einfach nicht. Und wie er auch deswegen Scheiße baut, weil er es liebt. Weil es Freiheit bedeutet. Dass Freiheit keine Farbe hat, weil man sich einfach jede nehmen kann, die man möchte. Dass nur Regeln eine feste Farbe haben. Die drei auf der Bank nicken. Auch ihn verstehen sie.

Wie froh er ist, solche Freunde wie die drei zu haben. Sie sollen doch aufstehen. Er will sie umarmen. Er gibt jedem einen Kuss auf die Stirn. Ohne euch wäre ich nichts, sagt er.

Am nächsten Tag wird er sagen: Ich fand, die Pillen waren scheiße. Davon bekommt man nur so schwule Gefühle.

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