Kitabı oku: «Unser Haus dem Himmel so nah», sayfa 2

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Mit der Verlobung wollte Sami noch warten, bis ich meine Magisterprüfung hinter mir hätte. Während der zwei Jahre, in denen wir zusammen waren, hatte er in der Nähe der Universität ein Studio gemietet, wo wir uns treffen konnten. Doch die anfänglich begeisterten und leidenschaftlichen Stunden, die ich in seinen Armen verbrachte, verloren schnell an Glanz. Schnell hatte ich ihn durchschaut, kannte ihn in- und auswendig, seine Witze, Reaktionen und Schwindeleien. Und er hatte nicht ein einziges Hobby! Zum ersten Mal erlebte ich, dass es Menschen ohne Hobbys gab. Er las kein einziges Buch außer fürs Studium, das er nur durch Zufall beendete. Stattdessen ließ er sich von mir erzählen, was in den Zeitungen, Büchern und Magazinen stand, die ich ständig in den Händen hielt. Er hörte sich die wichtigsten Informationen an und nickte. Aber meinem Studium und meiner Arbeit maß er keine große Bedeutung bei, seiner Meinung nach beschäftigte ich mich damit nur, weil ich noch nicht verheiratet war. Seine Interessen beschränkten sich darauf, mit mir zusammen zu sein und ein kleines Haus und ein Auto zu haben. Ich verstand diese Art zu lieben nicht, aber letztlich entdeckte ich durch ihn eine aufrichtige, verlässliche Form der Beziehung – weit entfernt von falschen Vorspiegelungen.

Liebe bedeute nicht, hohe Ziele zu verfolgen oder Begehren zu wecken, genauso wenig, den anderen ständig von sich überzeugen zu wollen. Es genüge, zusammen zu sein und ihn beschützen zu wollen und dem anderen ein sicherer Fels und eine sanfte Zuflucht zu sein. Mit diesen Ideen konfrontierte mich Jahre später Marlene Brandt, eine der weltweit wichtigsten feministischen Autorinnen, die sich in Guatemala und Nairobi bei Freiwilligeneinsätzen für die Verbesserung der Lage weiblicher Kriegsopfer eingesetzt hatte. Sie war Professorin und mit einem Mann verheiratet, der kaum lesen und schreiben konnte und Motorboote für den Fischfang baute. Vierzig Jahre lang hatte sie mit ihm in einem kleinen Strandhaus in der Karibik gelebt. Sie hätte ihn einfach geliebt, ohne irgendeine Philosophie oder Erklärung dafür zu haben, sagte sie mir, die kulturellen Unterschiede zwischen ihnen hätten sie nie interessiert. Sie meinte auch, es sei ganz normal, dass sich liebende Menschen nicht ähnlich seien, sie müssten sich nicht für dieselben Dinge begeistern. Wenn man jemanden liebe, dann liebe man ihn unter allen Umständen.

Ich zog mich damals aus Samis Leben zurück. Einfach war es nicht, denn ich hatte ihm keine Entschuldigung anzubieten. Meine einzige Rechtfertigung war, dass ich nicht glücklich war. Ich hatte das Gefühl, dass er mich erstickte, ich konnte den Käfig, in dem ich gefangen wäre, wenn ich weiter mit ihm zusammenlebte, schon spüren, bevor ich darin steckte. Es war schwer, ihm das klar zu machen. Nach langen schlaflosen und tränenreichen Nächten voller Gewissensqualen angesichts eines Menschen, der sich mir gegenüber bis zum letzten Augenblick stets nobel gezeigt hatte, beschloss ich, ihn zu verlassen. Natürlich wollte er es nicht wahrhaben, gab nicht so einfach auf. Diese Phase dauerte fünf oder sechs Monate und war geprägt von Auseinandersetzungen, flehentlichen Bitten und Druck. Doch dann siegte bei mir der Wunsch, frei zu sein. Als ich Sami verließ, war er alkoholkrank und ich mit einem dauerhaften Schuldgefühl beladen.

Tariq war Samis bester Freund, sie hatten eine glückliche gemeinsame Kindheit. Sie hatten nebeneinander gewohnt, waren zur selben Schule gegangen, hatten in derselben Bank gesessen und die Nachmittage damit verbracht, Fallen für Vögel aufzustellen oder den Pick-ups nachzurennen, sich an ihnen festzuklammern und ein Stück mitzufahren, bis sie vom Fahrer entdeckt wurden. Tariq war ein schlauer Bursche, selbstbewusst und humorvoll. Ihm fielen immer die richtigen Worte ein, die er bestmöglich vorbrachte. Er stammte aus dem Umland, sein Vater war Sportlehrer an unserer Schule, ein ehrfurchtgebietender und schwieriger Mann. Insgeheim zeigte sich Tariq solidarisch mit den Klagen anderer Schüler über seinen strengen Vater. Eines Tages im Winter warf Tariq ein Stückchen Kautschuk in den Ofen, der das Klassenzimmer heizte, und ein so fürchterlicher Gestank breitete sich aus, dass es auch nichts half, Tür und Fenster zu öffnen. Die Schüler begannen zu husten, und ein paar Mädchen taten so, als bekämen sie keine Luft mehr und würden in Ohnmacht fallen. Damit erreichte Tariq, dass nicht nur diese Stunde, sondern der gesamte Unterricht an jenem Tag ausfiel. Bei der Untersuchung des Vorfalls beschuldigten einige Schüler dann auch ihn, andere jedoch seinen Sitznachbarn Sami. Sami blieb vollkommen still, Tariq jedoch kämpfte verzweifelt und mit heißen Tränen um seine Zukunft, die er sich durch ein einziges nicht bestandenes Fach verbauen könnte. Weil er ein ausgezeichneter Schüler war, hielten alle seine Tränen für aufrichtig, und Sami wurde für drei Tage der Schule verwiesen. Danach kam er mit seinem Vater wieder, der Arzt war. Der musste unterschreiben, dass Sami keinen weiteren Unsinn machte. Ein Andermal schnitt Tariq Papier aus seinem Heft, bastelte daraus einen langen Schwanz und klebte ihn dem Vertretungslehrer für Arabisch an die Hose, als dieser, tief gerührt von Ibn Zaiduns Gedicht, das er gerade vortrug, an Tariq vorbeikam.

Sehnend dachte ich in al-Zahra an dich,

als der Horizont klar dalag und das Antlitz der Erde im Schimmer.

Die Schüler brachen in ein solches Gelächter aus, dass der Lehrer ganz irritiert war, bis er schließlich den Schwanz an seinem Hinterteil entdeckte. Halb aus Scham, halb aus Wut lief er rot an, warf das Buch beiseite und stürzte Hals über Kopf aus dem Klassenraum. Natürlich richteten sich die Verdächtigungen wieder gegen die Bank, in der Tariq und Sami saßen. Nie hätte Sami seinen Freund verpetzt. Tariq dagegen befreite sich von jedem Verdacht, indem er wohlüberlegt in Richtung anderer Schüler blickte, die er scheinbar verdächtigte. Man schloss Sami für eine Woche vom Unterricht aus und bestellte wieder einmal seinen Vater ein.

Nach dem Schulabschluss konnte Tariq sich mit seinem guten Durchschnitt an der Universität Damaskus für Software Engineering einschreiben. Sami dagegen hatte keine guten Noten, doch mit dem Geld seines Vaters bekam er einen Studienplatz für sein Fach an der Moskauer Universität. Bis die ersten Privatuniversitäten in Syrien öffneten, gingen besonders aus Raqqa viele zum Studium nach Moskau.

Später, als sie im Wärmekraftwerk arbeiteten, hatten beide gleichermaßen die Chance, zum Verantwortlichen für den Bereich Pumpen aufzusteigen. Da verriet Tariq der Militärpolizei, dass Sami seinen Wehrdienst noch nicht geleistet hatte. Die üblichen Vermittlungen oder Bestechungen zum Aufschub des Militärdienstes griffen zu jener Zeit nicht mehr, weil überall in Syrien Unruhen aufflammten, von Deraa aus hatten sie auf Homs und Deir al-Zor übergegriffen. Man rekrutierte alle, die ihren Dienst noch nicht geleistet hatten, und ließ selbst diejenigen Soldaten nicht gehen, deren Entlassung eigentlich anstand.

Sami wurde in einem Kraftwerk im Umland von Homs gemustert und kam in einer bewaffneten Konfrontation zwischen Regimetruppen und der Freien Syrischen Armee ums Leben. Tariq dagegen war während seiner Studienjahre ein hochrangiges Mitglied der Parteisektion seiner Fakultät gewesen und hatte sie meist bei offiziellen Anlässen vertreten. Nach seinem Abschluss richtete er seine Ambitionen auf die Kommunalabteilung in Raqqa. Er hatte den Ehrgeiz, in die Führung aufzusteigen und Sekretär der Geschäftsstelle des Gouvernements zu werden. Dies sei doch das Glück, nach dem auf dem Lande jeder strebe, pflegte er zu sagen.

Später reiste er viel, um an Fortbildungen über Entwicklung, Medien oder Menschenrechte teilzunehmen, und scheinbar war er zu Geld gekommen. Als dann jedoch die Revolution gegen das Regime ausgerufen wurde und das Fieber der Demonstrationen und Sezessionen um sich griff, trat Tariq in Istanbul als offizieller Sprecher der revolutionären Koalition vor die Kamera des Satellitensenders »Al Jazeera«. Er kritisierte die Diktatur des Regimes, erklärte den Zusammenbruch der Partei und verkündete den Sieg der Revolution.

Bagdad-Bahnhof al-Notoraki

Ich machte mich absichtlich nicht besonders zurecht, sondern begnügte mich mit einer beigen Baumwollhose, einer weißen Leinenbluse und einer kurzen Kette aus pastellfarbenen Majorica-Perlen, als träfe ich eine gute Freundin zum Abendessen.

Stattdessen traf ich mich mit Nasser, er wirkte diesmal respekteinflößend, wie ein wirklicher Doktor, nicht mehr wie der verstörte, trauernde Reisebegleiter. Er trug eine graue Hose und ein dunkelblaues Jackett zu einem weißen Hemd und hatte sein Haar mit Frisiercreme nach hinten gekämmt. Dadurch kam seine breite Stirn zur Geltung und ich musste unwillkürlich an meinen Großvater mütterlicherseits denken.

Äußerlich waren Nasser und ich vollkommen aufeinander abgestimmt: einfach, elegant und authentisch gekleidet entsprachen wir der zeitgenössischen bürgerlichen Ästhetik. Wir machten es uns auf den Ledersofas des Blue Fig bequem und genossen den Blick auf die Villen vor den Fenstern. Nicht weit im Norden flatterte die syrische Fahne an der Botschaft selbstbewusst im Wind und versuchte den Eindruck zu erwecken, die Geschehnisse dort im Land seien nichts weiter als ein böser Traum.

Warum mich Nasser an meinen Großvater erinnerte, weiß ich nicht, vielleicht wegen der Brylcreem in seinen Haaren. Denn mir war die rote Dose wieder eingefallen, die selbst Jahre nach dem Tod meines Opas noch an ihrem Platz, auf dem Toilettentisch des italienischen Schlafzimmers mit dem kostbaren venezianischen Gobelin an der Wand stand. Die Fenster dieses Zimmers gingen auf zwei Straßen des Viertels Bagdad-Bahnhof al-Notoraki hinaus – was dieses angehängte al-Notoraki im Namen bedeuten soll, ist mir allerdings bis heute schleierhaft geblieben. Die Fenster erzählen Geschichten von Liebe, Kunst, Reise und Erfolg, die durch die Geräusche der einlaufenden Züge aus Istanbul, Latakia, Qamischli, Budapest angeregt werden, Züge, die immer wieder losrattern – in Richtung Leben.

In den 1950er Jahren war das Viertel um den Bagdad-Bahnhof eine der schönsten Gegenden Aleppos. Es bestand aus drei breiten Parallelstraßen, die durch eine Querstraße vom öffentlichen Park getrennt wurden. In der Mitte dieses 17 Hektar großen Parks befand sich ein Standbild Abu Firas al-Hamdanis, dem berühmten Poeten aus dem 10. Jahrhundert. Es gab mehrere Springbrunnen und grüne Holzbänke im Schatten der Weiden, Zypressen und Ulmen, dazu Damaszener Rosen und wilde Rosen in Rot, Gelb und Violett. Weiß und blau wuchs der Jasmin über die Mauer, und an den geschmiedeten Kletterhilfen für das wuchernde Grün rankten duftende Pflanzen empor. Ein Bereich war für den Kinderspielplatz reserviert, in einem anderen dagegen war jeglicher Lärm streng verboten. Dort standen Gehege für die Pfauen, die hin und wieder für die Beobachter ihr Rad schlugen, es aber oft auch aus Koketterie unterließen. Schwäne glitten über ihren Teich, ohne das Blau, auf dem sie morgens wie abends ruhten, auch nur wahrzunehmen. Die Statuen, die sich rings um sie erhoben und einem mit der Zeit wie alte Bekannte vorkamen, waren von visionären syrischen Bildhauern wie Jacques Warda und Wahid Istanbuli geschaffen worden.

Hohe Weiden säumten die Straßen des Viertels um den Bahnhof, wo keines der Häuser mehr als 20 Meter hoch war. Ihre Zweige reckten sich durch die geöffneten Fenster, spähten die Bewohner aus, bespitzelten sie in ihren Schlafzimmern und umkränzten die Kaffeetassen morgens und abends. Hier wohnten christliche, muslimische und armenische Familien des Großbürgertums von Aleppo: die Dallas, Saqqals, Kayyalis, Martinis, Sabbaghs, Mudarres’, Aqqads, Traboulsis, Attars, Antakis, Mukarbanas, Hallaqs, Hamawis, Marjanas, Quanaas’, Sakissians, Izmirians, Sawahims. Ein wenig weiter östlich lagen die einfacheren und dichter besiedelten Viertel, Sheikh Taha, Siryian, Ashrafieh und Sheikh Maqsoud, wo Kleinbürger und Proletarier lebten. Dort in Sheikh Maqsoud wohnten die aus Dörfern wie Afrin und Azaz eingewanderten Kurden sowie Armenier und Turkmenen und Araber aus dem ländlichen Osten.

Die Wohnung meines Großvaters lag im ersten Stock mit Fenstern zur Straße, aber ohne Balkon. In den damaligen Altbauten war das erst ab dem zweiten Stock vorgesehen. Im Sommer schliefen wir bei geöffnetem Fenster und ließen uns von den nach Schönheit, Freude und Leben duftenden Abendwinden Aleppos streicheln. Die Schritte der wenigen Passanten lullten mich ein, und ihre Gespräche drangen murmelnd in meinen Halbschlaf herauf, sodass ihre Geschichten sich manchmal in meinen langen Träumen fortsetzten. Soweit ich mich erinnere, lernte ich das erste Sprichwort in meinem Leben von einer alten Frau, die unten am Fenster vorbeiging. »Kinder erwidern die Selbstlosigkeit einer Mutter mit Herzlosigkeit«, sagte sie unter Tränen, und ihre Geschichte drang in meinen Traum ein.

Unsere Fenster zeigten Richtung Westen, zum Haus des Eisenbahndirektors neben dem Bahnhof. Dieser große einstöckige Bau stand in einem schönen Garten mit einem kleinen Teich, Aprikosen-, Pfirsich- und Mandelbäumen und vielen roten und gelben Damaszenerrosen. Hinter der grauen Steinmauer erhob sich eine zweite Wand aus Pinien, und rechts vom Haupteingang befand sich ein hölzernes Häuschen für den wachhabenden Soldaten, der sein Maschinengewehr nie von der Schulter nahm.

Basil, der Sohn des Eisenbahndirektors, studierte Bauingenieurwesen und war in meine Tante Dalia verliebt, die an der Philosophischen Fakultät für Englische Literatur eingeschrieben war. Jeden Morgen folgte er ihr in dem Dienstmercedes, den sein Vater ihm eigens für seine Spazierfahrten zur Verfügung stellte, bis zur Haltestelle vor dem Öffentlichen Park, wo sie in den Bus zur Universität stieg. Als ihr dann der Winterregen von Tag zu Tag unerträglicher wurde, nahm sie schließlich das Angebot an. Basil wartete an der Bushaltestelle auf sie, fuhr sie zu ihrer Fakultät und holte sie später wieder ab.

Eines Abends kam Dalias Bruder aufgeregt nach Hause, denn man hatte in Aleppo fast alle Straßen gesperrt und Tante Dalia war noch nicht wieder zu Hause. Auf der Suche nach ihr war mein Onkel zur Universität gelaufen und kam nun verzweifelt ohne sie zurück. Wenige Tage zuvor hatten Muslimbrüder die Philosophische Fakultät gestürmt und waren mit Unterstützung ihrer studentischen Kräfte in die Hörsäle eingedrungen. Nur unter Schwierigkeiten hatte er nach Hause zurückkommen können, weil die Straßen voller Menschen waren, die um den Innenminister Adnan Dabbagh trauerten, der unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war.

Der feierliche Trauerzug marschierte auch am Öffentlichen Park vorbei, und alle im Haus rannten zum Wohnzimmerfenster, um zu sehen, wie die Massen in einiger Entfernung auf der Hauptstraße zusammenliefen, um das Spektakel um den Sarg zu erleben, der auf Schultern getragen wurde. Dieser Innenminister hatte heimlich die Sängerin Mayada al-Hannawi geheiratet. Sie erbte nun ein gewaltiges Vermögen von ihm, was zu endlosen Schwierigkeiten mit seiner Familie führte; es gab Gerüchte über einen Mordversuch mittels eines Amokschützen.

Mayada al-Hannawi war nicht nur die Sängerin ihrer Generation, sondern eine echte »Diva«, wie man inspirierende Frauen nennt. Der geistreiche, aus Salamiyeh stammende Dichter Ahmad al-Dschundi scherzte: »Ich küsse den Fernseher, wann immer Mayada al-Hannawi zu sehen ist.« Und der Nachbarssohn Ayham, ein Junge in der ersten Primarschulklasse, versetzte seinen Vater mit einem Riesenaufstand in Wut, damit dieser ihn zur Strafe zu Fuß zur Schule schickte, statt ihn mit dem Auto zu fahren. Denn auf dem Schulweg lag Nadas Friseurgeschäft, wo ein großes Poster Mayada al-Hannawis an der Türscheibe klebte, und Ayham versank in ihrem in die Ferne schweifenden, melancholischen Blick und in ihrem Gesicht, das vor lauter Liebreiz einen Stein hätte erweichen können. Der Junge blieb dort vielleicht eine halbe Stunde lang stehen und betrachtete den edlen Marmorhals der Sängerin, bis Nada, der Babier, herauskam und ihn verscheuchte.

Auch meine Tante Dalia liebte Mayada al-Hannawi, ihr Aussehen, ihre Lieder, ihre tiefe Melancholie und ihre leuchtende Haut, durch die eine engelsgleiche Seele schimmerte. Sie war überzeugt, ihr zu ähneln, und wir alle stimmten zu. Schließlich hatte sie denselben Haarschnitt, wechselte genau wie Mayada leicht die Farbe und ahmte ihr Make-up und ihren Nagellack nach. Und wenn Mayada eine neue Kassette herausbrachte, musste sie sie sofort haben.

Am Abend rief Dalia endlich an und sagte, sie habe über Schleichwege von der Universität das Haus ihrer Freundin im Viertel Sulaimaniyeh erreicht, und wenn man sich wieder sicher fortbewegen könne, würden deren Eltern sie nach Hause bringen. In Wirklichkeit telefonierte meine Tante jedoch aus dem Haus gegenüber, nämlich aus dem des Eisenbahndirektors. Sie war an jenem Tag gar nicht in der Universität gewesen, sondern hatte die Zeit mit Basil in seinem Zimmer verbracht.

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Die Hauptzufahrt zum Bahnhof führte seit Ende der 80er Jahre weiter zur Tischrin-Brücke. Nach Mitternacht kam das Leben in der westlichen Straße zur Ruhe. Bis um zwei Uhr der Nachtzug aus Damaskus eintraf, versank die Umgebung in willkommener Stille. Danach war es wieder still bis zum Sechs-Uhr-Zug aus Latakia. Zwischen Mitternacht und der Ankunft des Zuges aus Damaskus brachte Basil dem Wachposten an der Tür eine Flasche Djuwayyids Andarin-Arak und ein Kilo Grillkebab. Dalia hatte sich dann schon vergewissert, dass alle in tiefem Schlaf lagen, schloss leise die Tür und schlich die wenigen Schritte über die Treppe bis auf die rechte Hausseite, überquerte dann die Straße zum Nachbarhaus und trat geradewegs in Basils Zimmer, das zum Garten hin eine Seitentür hatte, sodass man nicht durch den Haupteingang musste. Basil liebte Dalia von ganzem Herzen. Wenn er sie traf, küsste er ihr jedes Mal vor Leidenschaft seufzend die Hände. Dalia war wunderschön, blond, mit honigfarbenen Augen und schlankem weißen Körper. Sie trug stets hochgeschnittene Straight-Fit-Jeans von Lee und eine blau-weiß-rote Karobluse, die an der Brust eng anlag und die sie vorne oder seitlich über der Hüfte verknotete, um die Rundung ihrer Brüste und ihre schlanke Taille zu betonen. Sie sah aus, als sei sie der Serie »Die Leute von der Shiloh Ranch« entsprungen. Ihre Nägel waren lang und gepflegt und hübsch anzusehen mit dem glänzendroten Lack, der schillerte, wenn sie an ihrem kleinen Schreibtisch in den Nachschlagewerken und Wörterbüchern blätterte oder ihre heißgeliebten Pastetchen aß. Die brachte ihr Basil jeden Abend von »Sumer« oder »Sirup«. Flink lief ich dann die zwanzig Stufen hinunter, um die Tüte von ihm in Empfang zu nehmen, und Dalia gab mir welche ab. Freitags bewahrte sie ihre Pastetchen immer bis Mitternacht auf, damit wir sie essen konnten, während wir die Serie »Das Schiff der Liebe« schauten.

In einer jener Sommernächte lud Basil Dalia in die Zitadelle ein, wo das russische Bolschoi-Theater das Ballett »Der Nussknacker« gab. Basil war über seinen Vater an Freikarten gekommen, die man den meisten großen Staatsfunktionären zugeteilt hatte. Dalia überredete meine Großmutter, sie gehen zu lassen, ihre Kommilitoninnen seien schließlich auch da. Nur unter der Bedingung, dass Dalia mich als Begleiterin mitnahm, war meine Großmutter einverstanden, und so hatte Dalia keine Wahl.

Wir stiegen also hinauf zum Amphitheater in der Zitadelle. Es war einer der milden Juliabende Aleppos mit ruhiger Brise, einem leuchtenden Sternenhimmel und einem Mond so klar wie alles in dieser Stadt: die Steine, die Wege, das Handwerk, der Handel die Meinungen. Viele Geheimnisse gab es hier nicht.

Bei den federnden Tritten der Tänzer, der genialen Musik Tschaikowskys und dem leichten Wind döste ich ein und überließ Dalia in ihrem ärmellosen roten Seidenkleid Basils Liebkosungen. Er konnte nicht von ihr lassen, küsste sie von Zeit zu Zeit in den Nacken und vergrub die Nase in ihren blonden Locken, die den Apfelduft ihres Hamol-Shampoos verströmten. Plötzlich jedoch riss mich ein lautstarker Tumult aus dem Schlaf. Basil und Dalia sprangen auf, sie zog mich an der Hand mit sich fort. In unserer Reihe, die für die Gäste des Eisenbahndirektors reserviert war, hatte auch eine Frau um die Dreißig mit einem etwa sechsjährigen Mädchen gesessen. Die Frau war beeindruckend, groß und üppig, mit blauen Augen und blondem Haar. Durch den Schlitz ihres schwarzen Seidenrocks blitzten ihre hellrosa Oberschenkel, und an den Fingern glitzerten echte Diamantringe. Ihre Tochter sah ihr ähnlich, sie war sehr niedlich und fein herausgeputzt. Und an jenem Abend fand Basil heraus, dass diese Frau mit seinem Vater verheiratet und das kleine Mädchen seine Schwester war! Während der Vorstellung, hatte er mit der Kleinen geschäkert und sie nach ihrem Namen gefragt. Sie hatten beide denselben Familiennamen, denselben Vatersnamen, und der Beruf des Vaters war auch derselbe. Schon vor längerer Zeit hatte der Eisenbahndirektor Ghada, seine Angestellte im Hauptbüro der Direktion, zur Frau genommen, doch sie hatten ihre Ehe geheim gehalten, insbesondere weil sie Sunnitin war und er Alawit.

Nach diesem Ballettabend änderte sich einiges im Hause des Eisenbahndirektors. Denn Basil ließ sich sein Stillschweigen von seinem Vater in barer Münze bezahlen, damit die Heirat vor dem Rest der Familie geheim blieb.

Auch im Hause meines Großvaters wurde vieles anders, denn meine Tante Radscha kehrte aus Saudi-Arabien zurück. Sie hatte sich mit einem der Söhne ihrer Tante Sumayya verheiratet, die wir »Mutter der Brüder« nannten. Radscha trug Hidschab und war heimgekommen, um zu Hause – auf ihre Art – den Islam zu predigen. So wurde am Ende des Sommers der Hidschab zum Thema für die Frauen im Haus, meine Großmutter legte ihn ebenso an wie Tante Dalia, die vor Reue über die Tage, die sie unverschleiert in Basils Armen verbracht hatte, heiße Tränen vergoss. Auch Basil verschleierte sich auf seine Weise, oder besser auf Dalias Weise, denn sie fing an, ihm Predigten zu halten. Das setzte ihm psychisch so sehr zu, dass er sich ins Gebet stürzte und die nahegelegene Tauhid-Moschee nicht mehr verließ.

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Jeden Abend ging die Sonne Aleppos glühendrot hinter dem Haus des Eisenbahndirektors im Viertel des Bagdadbahnhofs unter. Die Taxifahrer kannten die Ankunftszeiten der Züge und drängten auf die Bahnsteige, waren jedoch samt Fahrgästen schon wieder verschwunden, bevor die grauroten Wagen der »Syrischen Eisenbahn« erneut anfuhren.

Zu Beginn des neuen Jahres zogen Basil und seine Familie aus. Mit Koffern bepackt verließen sie das Haus, traten durch den Bahnhofseingang nebenan, bestiegen den Zug nach Latakia und kehrten nie mehr zurück.

Dalia hatte nicht ein Abschiedswort für Basil übrig. Eine Nacht vor seiner Abfahrt hatte sie sämtliche Fenster zur westlichen Straße hin geschlossen, sodass es im Schlafzimmerflügel stockfinster war.

Sie behauptete, Basil sei verrückt gewesen. Wie bei allen Funktionärskindern habe das Leben für ihn nur aus Autos, Chauffeuren und Pistolen bestanden. Einmal habe er sie vom Bus abgeholt und gefragt: »Komisch, warum sind denn alle Passagiere grün gekleidet?« Dabei klebte nur eine transparente grüne Folie auf den Scheiben der öffentlichen Busse. Ein andermal habe er vor ihr geprahlt, er hätte große Lust, mit seinem Auto in die Menschen zu rasen, die vor der Konsumgenossenschaft Schlange standen und auf Olivenöl, Butterfett und Kleenex-Tücher warteten, nur um zu sehen, wie sie durch die Luft flögen und die Röcke der Frauen aussähen wie umgedrehte Schirme und den Männern die Schuhe auf den Kopf fielen. Dann wieder habe er behauptet, sie und ihre Familie seien arm, denn sie hätten nur einen armen Chauffeur, ein armes Hausmädchen und einen armen Wachmann. Außerdem hätten sie nur einen einzigen Mercedes und sonst nur Peugeots. Wer dagegen beim Gouvernement arbeite, sei reich. Deshalb seien er und seine Familie reich, schließlich hätten sie nur Mercedes.

Und an jenem Abend, an dem Basil in der Zitadelle von der Zweitehe seines Vaters erfuhr, habe er sie mit sich fortgezogen, berichtete Dalia weiter. Sie seien in eine abgestellte Lokomotive gestiegen, und er habe beschlossen, sie zu entführen. Mit einer offensichtlich ungeladenen Pistole habe er den Lokführer dazu gezwungen, ihn mit der Lokomotive in das fünfzehn Kilometer entfernt gelegene Dschibrin zu fahren. Während Dalia Basil unter Tränen gebeten habe aufzuhören, habe der Lokführer nachgegeben.

Wenn Basil beten wollte, ging er in die Moschee, wobei fraglich war, ob er vorher die Waschung korrekt vollzogen hatte, und stellte sich in die zweite Reihe. Einmal stand vor ihm ein Mann in weißer Dischdascha, und weil Basil in den Rumpfbeugen und Sich-Niederwerfen noch ungeübt war, blieb er mit dem Kopf unter dessen Gewand hängen und stieß gegen sein Hinterteil. Der Mann schrie vor Schreck auf, aber Basil bekam seinen Kopf nicht wieder frei. Er habe ja versucht, sich zu befreien, sagte er später, aber es sei plötzlich so dunkel gewesen, und er habe keine Luft mehr bekommen. Die Betenden gerieten in Aufruhr, und als Basil aus der Moschee floh, rannten sie ihm hinterher und verprügelten ihn.

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Nasser war liebenswürdig und wir waren schnell sehr vertraut, doch um nicht kindisch zu erscheinen, vermieden wir Sätze wie: »Es ist, als würde ich dich schon lange kennen.« Dabei hätte dieser Satz unsere momentane Situation am besten beschrieben. Nasser gab seine Erschöpfung offen zu, aber trotz seiner Trauer habe er in den letzten Tagen immer wieder an meine Worte, mein Lächeln und die Berührung meiner Hand denken müssen und sich daraus eine »Wolke« geschaffen, die ihn »gegen die harte Zeit abgeschirmt« habe. Diese schöne Beschreibung berührte mich.

Als wir auf Aleppo zu sprechen kamen und er zu erzählen begann, suchte ich nach einem anderen Ausdruck für das Klischee: »Die Welt ist klein«. Das Haus seines Großvaters war jene elegante Villa aus rosafarbenem Stein auf der Nordseite des Stadtparks im Viertel Azizieh, die zwischen der Wohnung meines Großvaters und dem Bagdad-Bahnhof lag. Und sein Großvater war der Rechtsanwalt Bahdjat al-Haffar.

»Was? Was, die Villa vor der Cocktail-Bar Kan ya ma kan? Ich spürte einen leichten und freudigen Schwindel, und wir schwiegen eine Weile.

›Wenn du wüsstest, Nasser. Wenn du wüsstest, Nasser. Ich könnte dir aufzählen, wie viele Zaunpfähle den kleinen Garten umgaben, welche Farbe die Stühle auf dem Balkon hatten, welche Pflanzen in den Blumentöpfen auf den breiten Brüstungen wuchsen … Auch von dem Chinarindenbaum vor dem kleinen Tor zur Nebenstraße, wo ich nicht hindurfte, wenn ich mit meinen Cousins und Cousinen draußen gespielt habe, könnte ich dir erzählen.

Vielleicht war deine Mutter Shahira also die Frau, die damals immer im Morgenmantel, mit Lockenwicklern in den Haaren und leuchtendrotem Lippenstift auf den Balkon trat, um uns zu sagen, wir sollten verschwinden oder wenigstens ein bisschen leiser sein. Und ich war das Mädchen, das auf der Gartenmauer eurer Villa saß, den Rücken gegen das Eisengitter gelehnt und die Füße auf eine große Wucherung am Stamm des Chinarindenbaums gestützt.‹

Ich nannte Nasser Beweise dafür, dass wir vom selben Ort sprachen, und wir lachten beide ungläubig über diesen Zufall, der unsere Leben verband.

»Kennst du das Haus der Kayyalis? Sie waren eure Nachbarn«, fragte ich.

»Meinst du Frau Ra’ifa? Natürlich!«

»Ra’ifa war die Schwester meiner Oma, wir nannten sie Nana Umm Baschar. Und die Wohnung meines Opas war in dem großen Haus, das Joseph Nassur gehörte, am Anfang der Straße, genau gegenüber vom Park.«

»Nein, nein, nein, das kann ja nicht wahr sein! Unter euch war Abdus Fahrradgeschäft …«

»Abdu kennst du also auch! Unglaublich!«

»Bei ihm haben wir immer unsere Reifen aufpumpen lassen, bevor wir durch den Park fuhren. Was ist aus ihr geworden?«

»Aus wem?«

»Frau Ra’ifa.«

»Sie ist tot. Sie bekam einen Schlaganfall und ist gestorben.«

»Es gibt keine Macht, noch Stärke außer bei Gott. Möge Gott ihrer Seele gnädig sein. Und ihr Sohn Baschar, wohnten er und seine Frau nicht auch bei ihr?«

»Genau. Sie sind dann nach Neu-Aleppo gezogen. Die Wohnung war noch nach dem alten Gesetz gemietet.«

»Und eure Wohnung, die Wohnung deines Großvaters meine ich?«

»Sie gehörte ihm, und meine Großmutter wohnt noch immer dort. Unter den gegebenen Umständen ist es ein sicheres Viertel, deshalb ist meine Tante mit ihrer Familie zu ihr gezogen. Deren Wohnung liegt in Mokambo, das ist eine heiße Gegend.«

Frau Ra’ifa, wie Nasser sie nannte, oder Nana Umm Baschar, wie sie bei uns hieß, war eine alte Nachbarin des Hauses al-Haffar. Sie war frisch verheiratet dort eingezogen, zu einem Zeitpunkt, als Madiha Hanim, Nassers Großmutter, bereits in der Villa wohnte. Ich erinnerte mich noch genau an Frau Ra’ifa, sie kam täglich zum Morgenkaffee zu ihrer Schwester, meiner Großmutter. In den Sommertagen, die wir in der Wohnung meines Großvaters in Aleppo verbrachten, stand ich besonders früh auf, um sie und ihre schönen Geschichten nicht zu verpassen. Sie war damals Ende fünfzig und ich zehn. Wenn sie morgens aus dem Haus ging, schlug sie einen Mantel um ihren gedrungenen Leib mit den schmalen Schultern und dem prächtigen Hinterteil. Darunter trug sie noch das hellblaue oder rosarote Valisère-Nachthemd, dessen spitzenbesetztes Dekolleté die kleinen, mageren Brüste durchscheinen ließ, mit denen sie fünf Töchter und zwei Söhne genährt hatte.

Genüsslich schlürfte sie ihren Kaffee aus den mit Romeo-und-Julia-Motiven bemalten Tassen meiner Großmutter und berichtete uns von den Konflikten zwischen der Regierung und den Muslimbrüdern in Hama, von denen uns unser Onkel nichts erzählte:

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9783966750257
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