Kitabı oku: «Hallo, hört mich jemand?»
Sibel Schick kam 1985 in Antalya, Türkei, auf die Welt und wohnt seit 2009 in Deutschland. Sie arbeitet seit 2016 als freie Autorin, Journalistin und Social-Media-Redakteurin.
Sibel Schick
Hallo, hört mich jemand?
Rassismuskritische und feministische Kolumnen und Kommentare
© 2020 by edition assemblage
Postfach 27 46
D-48014 Münster
info@edition-assemblage.de | www.edition-assemblage.de
Lektorat: Asal Dardan
Umschlag: Tabea Ćubelić
Digitalsatz: Zeilenwert GmbH | zeilenwert.de
Digitalvertrieb: Libreka GmbH | info.libreka.de
ISBN ePub: 978-3-96042-821-3
Eigentumsvorbehalt:
Dieses Buch bleibt Eigentum des Verlages, bis es der gefangenen Person direkt ausgehändigt wurde. Zur-Habe-Nahme ist keine Aushändigung im Sinne dieses Vorbehalts. Bei Nichtaushändigung ist es unter Mitteilung des Grundes zurückzusenden.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Inhalt
Cover
Impressum
Vorwort
Hallo, wer gehört dazu?
Rassismus in Deutschland
Das Wahlrecht darf kein Privileg sein
Deutschland brennt
Das Problem heißt Rassismus
Positioniert euch
Meine Oma im Inklusionsparadies
Dabeisein ist nicht alles
Augen auf
Rennende Muslime? Gefährlich!
Verschlossen, verschluckt
Diskriminierung geschieht oft unabsichtlich
Hallo, wem gehört die Nacht?
Sexismus, sexistische und sexualisierte Gewalt
Lass uns joggen gehen!
Flirtfreiheit des Mannes
Hallo, hört mich jemand?
Die Namen sind nicht das Problem
Frauenmorde sind politisch – auch in Deutschland
Männer pauschalisieren
Geschminkter Hass
Männer sind Arschlöcher
Männer: Mischt euch ein!
Die Angst im System
„Mädels, lasst euch nicht vergewaltigen“
Das kleine Monster, das mich auffrisst
Hallo, wem gehört dieser Raum?
Virtuelle und mediale Gewalt in Deutschland
Keine Überwachung, sondern Schutz und Prävention
Meinungsfreiheit: Angst besorgter Bürger
Die Cyber-Männergrippe
Hass unter fast jedem Tweet
Hallo, komme ich hier rein?
Klassismus
Luxus Klimaschutz?
Vor der Bank mit Barcode um den Hals
Der Volksfeind Nr. 1: Latte Macchiato
Hallo, wen interessiert‘s?
Ein offenes, peinliches Buch
Die Narbe
Keine Modeerscheinung
Für immer verpeilt
Heimweh, das Arschloch
Eine Antwort auf Cigdem Toprak
Scham, Schmerz, Wände, Wurzeln
Endnoten
Weitere Bücher
Vorwort
Die Mehrheit interessiert sich nicht für das, was Minderheiten zu erzählen haben, es ist lästig, es ist unbequem, es betrifft sie nicht. Deshalb müssen die Minderheiten in Deutschland so laut schreien, wie sie nur können, um überhaupt Gehör zu finden. Das Problem: sobald sie schreien, werden sie als aggressiv abgestempelt. Das diskreditiert sie natürlich und nullt den Inhalt ihres Schreis. Es geht dann nur noch um den Ton und nicht mehr darum, was gesagt wird. Deutsche nennen das „der Ton macht die Musik.“ Aber hätte die Mehrheitsgesellschaft von Anfang an zugehört, hätte niemand schreien müssen. Was wiederum als Ausrede genutzt wird, Menschen und ihre Positionen zu delegitimieren. Hauptsache, man kann immer weiter weghören.
Hass ist in Deutschland allgegenwärtig, aber nur Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft dürfen hassen. Jene, die gehasst werden, weil sie beispielsweise von Rassismus betroffen oder transgeschlechtlich sind, müssen um das Überleben kämpfen, sich zu Expert*innen ausbilden, um ihre eigene Marginalisierung zu bekämpfen. Damit sie ihre Probleme sichtbar machen können, kämpfen sie um einen Platz in der deutschen Öffentlichkeit. Währenddessen werden Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft für ihre durchschnittlichen Werke und halbgaren Thesen mit Geld und Ruhm beworfen. Das liegt nicht daran, dass Journalist*innen und Autor*innen der Mehrheitsgesellschaft inkompetent seien. Für sie ist mehr Platz und gleichzeitig wird von ihnen schlicht weniger erwartet. Sie werden schneller beachtet und bekommen mehr Anerkennung für weniger Arbeit. Daher müssen sie sich nicht so anstrengen wie eine Person, die einer Minderheit angehört.
Ich habe nicht immer geschrien. Meine Politisierung begann circa 2006, als ich ein PETA-Video von einer Pelzfarm sah. Ich wurde zuerst Vegetarierin, ein paar Jahre später eine überzeugte Veganerin. Eine, die sich allen anderen moralisch überlegen fühlt. Ich war unerträglich. Wenn jemand in meiner Umgebung etwas Tierisches aß, gab ich mir große Mühe, alles in meiner Macht zu tun, dass diese Person es nicht genießen würde. Ich war frustriert, dass ich nicht alles essen konnte, was ich essen wollte. Ich träumte vom Hühnerfleisch, aber ich konnte es nicht essen, weil ich sofort an meine Katze Wilma denken musste, die wirklich genauso aussah wie ein Huhn. Ich stellte mir vor, wie meine süße, unschuldige, flauschige Wilma an den Beinen aufgehängt wird und hilflos versucht, sich zu befreien, um gleich getötet, zerstückelt und verpackt zu werden. Wie kann man da denn noch Fleisch essen? Das hätte ich der Wilma niemals im Leben antun können. Deshalb hatte ich nur eine Option: es allen anderen genauso schwer machen, wie ich es selber hatte. Einerseits. Andererseits hatte ich gesehen und erfahren, was der Konsum von Fleisch oder anderen tierischen Produkten für die Tiere und die Umwelt bedeutet. Diese Erfahrung kann man nicht rückgängig machen, dachte ich. Ich lag richtig. Aber das schlechte Gewissen tief zu vergraben, ist Menschen immer möglich. Heute esse ich Fleisch.
Mein politisches Bewusstsein nahm also tatsächlich mit einem PETA-Video seinen Anfang, aber es war Deutschland, das mich radikalisierte. Mein Wissen und mein Verständnis in dem Bereich der Tierrechte konnte ich zuerst auf den Feminismus und später auf die Rassismuskritik anwenden. Das mag relativierend klingen. Bestimmte Machtverhältnisse zu verstehen hilft aber dabei, andere einzuordnen, auch wenn die Unterdrückungsmechanismen nicht gleich sind.
Bis 2014 wusste ich genau, was ich vom Leben wollte: ein kleines Café am Strand in Dalmatien. Ich kellnerte damals in Köln und irgendwann wollte ich meinen eigenen Laden eröffnen mit hausgemachten Leckereien und gutem Wein. Ich stellte mir vor, in einem kleinen alten Haus zu wohnen und im Erdgeschoss meinen Laden zu haben. Ich sah mich im Treppenhaus früh morgens, ich lief runter in meinen Laden, um zu backen. Es sollte ein Leben ohne große Sorge und Unsicherheit sein. Ich stellte mir vor, abends früh zu schließen und nach Feierabend meine Füße in den warmen Sand zu stecken. Ich hörte die Möwen, die über meinem Kopf herumflogen und schrien. Ich roch den salzigen Geruch des Meeres und fühlte die warme Brise in meinem Haar. Unter einem blauen Himmel, in der Hitze, die man selbst auf den Augenliedern spürt. Diese Bilder habe ich aus der Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin. Ich projizierte sie auf diesen Ort namens Dalmatien, den ich kaum kannte. Dalmatien sollte Antalya ersetzen. Irgendwie musste ich ja dem Heimweh, das ich in Deutschland empfand, entgegenwirken. Das war also mein Plan. Und dann fand mich der Feminismus.
Eine Freundin, die eine überzeugte Feministin ist, fragte mich, ob ich gemeinsam mit ihr eine antisexistische Plattform auf Türkisch für Menschen in der Türkei gründen möchte. Sie wohnte in Paris, ich in Köln. Ich sagte zuerst nein, weil ich mir das nicht zutraute. Sie hat mich ermutigt und überzeugt.
Nach einiger Zeit als Online-Aktivistin lernte ich, wie wirksam es sein kann, die Aufmerksamkeit in den sozialen Medien auf bestimmte Themen zu lenken. Ich lernte auch, dass man politischen Aktivismus genauso gut online wie offline machen kann, dass auch diese Art von Aktivismus eine Gesellschaft nachhaltig verändern kann.
Meinen ersten Text auf Deutsch schrieb ich im Jahr 2015, weil ich mich über den berüchtigten Text „Warum mich der Feminismus anekelt“ von Ronja von Rönne aufregte. Ich setzte mich hin und schrieb ihr eine Antwort, ganz so als würde das Ronja von Rönne überhaupt interessieren. Und dann hatte ich diesen Text in meiner Hand, der überhaupt nicht lesbar war, weil meine Deutschkenntnisse einfach nicht ausreichten, um einen politischen Text auf Deutsch zu verfassen. Mein Ex und ich setzten uns dann zusammen und schrieben den Text erneut. Er musste mich nach jeder These, nach jedem Ausdruck fragen, weil er nicht verstand, was ich meinte. So schlecht war er geschrieben.
Als wir endlich fertig waren, kam das nächste Problem auf: ich wusste nicht, wohin damit. Bisher hatte ich noch nie für ein deutschsprachiges Medium geschrieben (für türkischsprachige auch kaum mehr als gebloggt, um ehrlich zu sein). Ich hatte auch keine Verbindungen, die mir dabei hätten helfen können, den Text irgendwo einzureichen. Also registrierte ich mich bei Blogspot. Wenn ich mich nicht falsch erinnere, generierte der Text ganze vier Klicks1. Einer davon war von Ronja von Rönne selbst, weil ich ihr den Link per Facebook sendete. Daraufhin schrieb sie mir u.a.: „auch du als feministin profitierst ja letzten endes davon, wenn die debatte mal wieder laut im raum steht und sich jeder neu verorten muss bzw. nochmal darüber nachdenkt.“ [sic]
Durch mein Engagement als feministische Aktivistin auf der oben genannten türkischen Plattform erktolia.org, die sich gegen Sexismus und Diskriminierung von LGBTIQ+ stellt, lernte ich, wie man in den sozialen Netzwerken viele Menschen erreichen kann. Gleichzeitig wendete ich diese Erkenntnisse in Deutschland an und baute mir über Jahre hinweg meine eigene Reichweite auf Twitter auf. Ich ging auf politische Veranstaltungen, twitterte vor Ort, markierte Referent*innen in meinen Tweets, damit sie mich retweeten. Manchmal klappte es, oft wurde ich ignoriert. Ich ritt bei Hashtags zu politischen Themen mit und veröffentlichte Blogtexte auf meiner eigenen Website, die ich mir in der Zwischenzeit zugelegt hatte.
Einige Kolleginnen, mit denen ich für die antisexistische Plattform zusammenarbeitete, hatten bereits eine gewisse Reichweite. Ich fragte sie nach Tipps, ließ mir Ratschläge geben und setzte sie dann um, auch wenn ich sie manchmal falsch verstand. Als ich einen migrantischen Publizisten in Deutschland fragte, wo ich anfangen soll, wenn ich in deutschen Zeitungen Texte veröffentlichen möchte, sagte er mir, ich solle es zuerst bei kleinen linken Redaktionen probieren. Ich schrieb dann einer kleineren linken Zeitung und bot einen Text an, allerdings gleich dem Chefredakteur. Als er sich nicht zurückmeldete, was ja auch klar war, schrieb ich nochmal eine Mail. Wie dreist, oder? Ich hätte euch so gern gesagt, dass ich es heute natürlich geschickter machen würde, aber Geschicktheit zählt nicht gerade zu meinen Stärken. Am Ende geschah ein Wunder und er meldete sich zurück. Er wollte den Text tatsächlich haben. In dieser Zeitung hatte ich meine ersten beiden Veröffentlichungen. Dreistigkeit gewann. Der erste dieser Texte musste von einem Redakteur komplett neu geschrieben werden. Er tut mir bis heute leid.
Dass Dreistigkeit gewinnt, musste ich früh lernen. Ich war vielleicht zehn oder so und spielte mit meiner ungefähr gleichaltrigen Cousine in der Wohnung eines älteren Cousins. Ich habe halt viele Cousinen und Cousins. Als die Frau meines Cousins uns fragte, ob sie uns Pizzen aufbacken solle, lehnte ich ab, obwohl ich Lust hatte. Meine Cousine sagte dreist ja und bekam eine Pizza. Ich durfte ihr dann beim Essen zugucken. Ab dann wusste ich: wenn du etwas haben möchtest, musst du es halt sagen.
Die Tweets und Blogartikel trugen 2016 endlich Früchte. Ich erhielt eine Nachricht von der taz-Redakteurin Fatma Aydemir, die ich bis dato nicht persönlich kannte, deren Arbeit ich aber sehr schätzte. Sie bot mir eine freie Mitarbeit bei der taz an. Ich konnte es nicht fassen, weil es einfach zu schön war, um wahr zu sein. Im selben Jahr veröffentlichte ich dort meinen ersten Text. Das war das erste Mal, dass ich für einen Artikel bezahlt wurde.
Als Aktivistin ist es so gut wie unmöglich, in der deutschen Medienlandschaft ernstgenommen zu werden. Das Wort „Aktivist*in“ wird sogar ausgrenzend verwendet: „Wir sind doch keine Aktivisten – wir sind Journalisten!“ sagen viele in den Redaktionen. Das soll bedeuten, dass Aktivist*innen nicht objektiv sein und dadurch nicht berichterstatten können, Journalist*innen hingegen schon. Das ist natürlich Unsinn. Kein Mensch kann objektiv sein.
Als Nicht-Muttersprachlerin ist es auch sehr schwierig, als Autorin Fuß zu fassen. Die Arbeit dauert einfach länger und dir wird die Fähigkeit, in deiner zweiten oder dritten Sprache Texte verfassen zu können, ständig abgesprochen. Aber es gibt auch wunderbare solidarische Menschen wie Fatma Aydemir und viele andere, die nicht nur reinkommen und hinter sich die Türe schließen, sondern diese aufhalten und anderen dabei helfen, auch reinzukommen.
In Deutschland ist es also nicht für alle gleich leicht (oder gleich schwer), Gehör zu finden. Es ist vor allem dann schwer, wenn du hier fremd bist, kein Netzwerk hast und Themen behandelst, die zwar ständig Teil deines Lebens sind, aber von der weißen Mehrheitsgesellschaft, die in den Medienhäusern überwiegend vertreten ist, als nebensächlich angesehen werden. Also ich dachte immer: ich muss ganz laut schreien. Ich muss unangenehm sein. Ich muss provozieren. Ich muss auffallen. Ich habe keine Wahl. Ich werde sonst nicht gehört. Weil sich niemand interessiert.
Mein erster Text auf Deutsch ist jetzt also sechs Jahre alt. Seitdem habe ich nicht mehr aufgehört zu schreiben (und zu schreien). Manche meiner Texte waren nicht gut genug, veröffentlicht zu werden und wurden abgelehnt, andere wurden veröffentlicht. Nicht alle haben es in dieses Buch geschafft.
Im Laufe der Zeit habe ich meinen Plan, nach Dalmatien zu ziehen, um dort meinen eigenen Laden aufzumachen, fast schon vergessen. Heute ist dieser Plan nichts Weiteres als eine diffuse Erinnerung.
***
In „Hallo, hört mich jemand?“ findet ihr Kolumnen und Kommentare, die bisher bereits veröffentlicht worden sind, mit einer Ausnahme („Für immer verpeilt“ wurde nicht veröffentlicht, sondern für eine Bewerbung geschrieben.) Außerdem habe ich drei Folgen von meinem Podcast „Scharf mit alles“ mit aufgenommen. Alle Texte habe ich für dieses Buch überarbeitet, mal hier einen Kontext hinzugefügt, mal da einen neuentdeckten Grammatikfehler korrigiert. Die Texte in diesem Buch sind teilweise über tagesaktuelle Themen, die bei der Veröffentlichung des Buches nicht mehr so aktuell sein dürften. Andere sind sehr persönlich und autobiografisch. Manche sind selbstironisch, manche wütend, manche sind moderater, andere wollen nur pöbeln. Alle sind direkt. Alle sind ehrlich.
Ich nutze ein Gendersternchen. Weil Geschlechter über Mann und Frau hinausgehen. Wo das nicht möglich ist, versuche ich durchzukommen, indem ich geschlechtsneutrale Begriffe verwende. Ich habe versucht, die Texte thematisch klar zu trennen und zu sortieren, aber es gelang mir nicht. Themen, die ich in meinen Texten behandele, also Rassismus, Sexismus, Klassismus und virtuelle Gewalt, greifen in der Regel ineinander und sind daher nicht immer gut zu trennen. Oft erwähne und problematisiere ich mehrere Aspekte gleichzeitig. Ich entschied mich trotzdem, sie in getrennten Kapiteln unterzuordnen.
In diesem Buch findet ihr fünf Kapitel. Als erstes sind Texte über Rassismus in Deutschland dran, im zweiten findet ihr welche, die sich mit Sexismus beschäftigen. Diese werden gefolgt vom dritten Kapitel über virtuelle und mediale Gewalt, und dem vierten Kapitel über Klassismus. Im fünften und letzten Kapitel sind persönliche Texte über Sprache, Heimat und mein Leben zu lesen.
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Mein taz-Artikel „Hallo, hört mich jemand?“ gab diesem Buch seinen Titel. Und dem Artikel gab der taz-Redakteur Peter Weissenburger die Überschrift. An dieser Stelle also: Danke, Peter! Außerdem bedanke ich mich bei dem Verlag edition assemblage für diese Veröffentlichung, meiner lieben Freundin Tabea Ćubelić für die hervorragende Covergestaltung, meiner Freundin Fatma Aydemir, weil alles mit ihr begann, meiner guten Freundin Asal Dardan für die Ankündigungstexte und das Lektorat, meinem Freund Ingmar für seine Solidarität. Dieses Buch ist unser gemeinsames Produkt.
Hallo, wer gehört dazu?
Das Wahlrecht darf kein Privileg sein
06.03.2020, was wäre wenn-Magazin
„Erst als ich nach Italien zog, verstand ich, dass ich Deutsche bin“ sagte mir jemand einst. Gemeint waren die Erfahrungen, die man als Fremde macht, wenn man in ein anderes Land zieht. Aber Migration ist nicht gleich Migration. Nicht alle Gruppen haben dieselben Probleme und Bedürfnisse. Die Erfahrungen können sich drastisch unterscheiden. Allerdings lässt sich mit genügend politischen Maßnahmen überall in der Welt gut leben.
Bei politischen Maßnahmen in Deutschland, die dafür sorgen sollten, dass es allen – auch Zugewanderten und ihren Nachkommen – gut geht, ist noch Luft nach oben. In einer postmigrantischen Demokratie wäre die Migration ein natürlicher Teil des Lebens, in dem alle mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen zusammenleben können. Die Realität ist anders. Deutsche, die seit drei Generationen hier leben, werden bis heute migrantisiert und aus dem Deutschsein ausgeschlossen. Grundlegende Rechte wie der Schutz vor Ausschlüssen, Diskriminierung und Gewalt werden bei Minderheiten oft zum Luxusproblem erklärt. Die Bestrebungen nach Gleichberechtigung kommen zu langsam voran, weil diese in der Regel von Betroffenen ausgehen, die es immer noch schwer haben, Gehör zu finden, obwohl Migration längst zur gesellschaftlichen Realität gehört. Deutschland wird nicht nur durch Migration geprägt, sondern profitiert auch von ihr. Ausländische Arbeitskräfte waren massiv daran beteiligt, dass das Land nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut wurde und sich zu einer Wohlstandsgesellschaft entwickelte. Dennoch ist es so, dass bei allen denkbaren Anlässen von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte Dankbarkeit erwartet wird.
Dieselbe Mehrheitsgesellschaft, die für das bloße Existenzrecht der Minderheiten Dankbarkeit erwartet, ist nicht in der Lage, selber Dankbarkeit zu zeigen, wenn sie durch die Arbeit der Minderheiten2 reich wurde, weil sich diese jahrelang kaputtschufteten.3 Nicht dass der Wert eines Menschen davon abhängig wäre, wie viel er leistet – das ist er nicht. Hier geht es nur um einen Doppelstandard.
In der BRD wie auch der DDR war man zwar auf ausländische Arbeiter*innen angewiesen, dennoch war Deutschland für diese Menschen nie ein Ort, der sie willkommen geheißen hat. Ihre Arbeit wurde ihnen nicht gedankt, sie selbst waren kaum mehr als lästig. Es gab kaum bis gar keine politischen Maßnahmen, die Arbeiter*innen vor rassistischen Übergriffen zu schützen oder sie als gleichberechtigter Teil der Bevölkerung aufzunehmen.
Sowohl die sogenannten Gast- als auch die Vertragsarbeiter*innen wohnten in Stadtteilen, Nachbarschaften und gar Wohnheimen, die eigens für sie bestimmt waren. Entweder war der Kontakt zu der Mehrheitsbevölkerung strikt verboten (wie in der DDR), oder sie waren durch ihren Wohnort oder die Natur ihrer Arbeit isoliert.
Von den sogenannten Vertragsarbeiter*innen der DDR hielten sich nicht alle an die Verbote und die strikten Regeln, und gingen trotz Sperrstunde abends aus dem Wohnheim. Allerdings bedeutete dies für sie Lebensgefahr. In den 40 Jahren SED-Diktatur wurden 8.600 rechtsradikale bzw. antisemitische und rassistische Übergriffe dokumentiert. Mindestens 12 Vertragsarbeiter*innen wurden in diesen Angriffen getötet. Der Historiker Harry Waibel zählt4 zwischen 1970 und 1990 insgesamt 40 rassistische Angriffe auf Wohnheime.
Die Wende ist gerade 30 Jahre her, die ersten Integrationskurse gibt es erst seit 16 Jahren. Die Erfahrungen der sogenannten Gast- und Vertragsarbeiter*innen und ihren Nachkommen mögen sich unterscheiden, allerdings haben ihre heutigen Probleme in einem Punkt einen ähnlichen Ursprung: Sie wurden jahrelang gezwungen, unter sich zu bleiben.5 Jede Generation, die in Deutschland in die Schule ging, brach diese Isolation ein wenig, allerdings nur in einem gewissen Rahmen und nur durch eigene Bemühungen. Schüler*innen in deutschen Schulen sind bis heute überwiegend nach Herkunft segregiert.6 Minderheiten wohnen in deutschen Städten bis heute überwiegend in politisch vernachlässigten Stadtteilen unter sich und Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft schicken ihre Kinder lieber in Schulen mit niedrigem Anteil an Migrant*innen.
Wir diskutieren über eine Parallelgesellschaft, bei der man an eine Art Unterwelt mit eigenen Gesetzen und Regeln denken muss, wie in einem dystopischen Sci-Fi-Film. Wir führen gewagte Diskussionen über eine angeblich gescheiterte Integration jener Gruppen, die doch gerade nicht integriert werden sollten oder durften. Diese Diskussionen über Integration sind gewagt, weil jene, die sich darüber beschweren, teilweise diejenigen sind, die für das Problem an erster Stelle verantwortlich sind. Gewagt, weil in dieser Diskussion die Ursache der angeblich gescheiterten Integration ausbleibt, nicht erwähnt wird, und betroffene Menschen selbst für die Missstände, unter denen sie leiden, verantwortlich gemacht werden.
In Deutschland leben circa 10 Millionen7 Menschen mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft. Das macht ungefähr ein Achtel der gesamten Gesellschaft aus. Davon haben 4,7 Millionen8 die Staatsbürgerschaft eines EU-Staates und 5,3 Millionen sind Bürger*innen eines sogenannten Drittstaates (außerhalb der EU).
Nach dem Vertrag von Maastricht (1992) haben die Staatsbürger*innen der EU-Länder ein EU-weites Wahlrecht auf kommunaler Ebene. Das heißt sie dürfen in Deutschland an den Kommunalwahlen teilnehmen, solange sie ihren Hauptwohnsitz in Deutschland haben. Allerdings gilt dieses Wahlrecht nicht für die Bundestagswahlen.
Die restlichen 5,3 Millionen Menschen aus Drittstaaten werden von demokratischen Verfahren komplett ausgeschlossen, unabhängig davon, ob sie ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, ihre Steuern zahlen, ihre Kinder hier die Schule besuchen und wie lange sie schon hier leben. Sie haben kein Recht, das System, von dem sie betroffen sind, mitzugestalten. So wird ein Recht plötzlich zum Privileg.
Bei der Bundestagswahl 2017 wählten knapp sechs Millionen Deutsche die AfD. In einem Deutschland, in dem eine in Teilen rechtsradikale Partei im Bundestag und allen Landtagen vertreten ist und ihre Ergebnisse bei fast jeder Wahl verbessert, vermittelt der Ausschluss jener Menschen, die von der Politik ebenjener Partei betroffen sind, eine klare Botschaft: Ihr seid egal. Ihr seid nicht Teil dieser Gesellschaft.
Die Wähler*innen einer Partei, die menschenfeindliche Positionen vertritt, die die Nazizeit auf einen Vogelschiss reduziert und ebenjene Zugewanderte als Gesindel bezeichnet, die also in Teilen ganz klar faschistisch ist, werden als „besorgte Bürger“ und „Protestwähler“ verharmlost. Die Tatsache, dass AfD-Wähler*innen ihre Macht bewusst dafür einsetzen, eine undemokratische Partei zu wählen und damit anderen, insbesondere Minderheiten, Schaden zufügen, wird in dieser Diskussion nicht berücksichtigt. Ihre undemokratischen Interessen werden vor derer gestellt, die kein Wahlrecht haben und deren Treue zu europäischen Werten immer wieder infrage gestellt wird. Dadurch wird deutlich, dass es eben nicht um irgendwelche Werte geht, sondern vor allem um Herkunft. Nur diejenigen dürfen bestimmen, die nach Blut und Boden zu Europa gehören: Bei Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte wird es als Recht per Geburt eingesehen, eine undemokratische Partei mit den Mitteln der Demokratie zu legitimieren.
Was ist schon Integration, wenn nicht die Ermöglichung der Teilhabe? Und wenn diese Integration gescheitert sein soll, was können die Betroffene dafür, außer zu versuchen auf die Missstände hinzuweisen? Wem keine Teilhabe ermöglicht wird, kann nicht mitgestalten. Wer nicht mitgestalten darf, kann für sich keine Teilhabe ermöglichen. Es ist ein Teufelskreis.
Man könnte jetzt denken, dass man sich ohne Wahlrecht auch anderweitig einbringen kann. Zum Beispiel bei einem lokalen Verein. Allerdings kämpfen viele gemeinnützige Vereine, Verbände, Organisationen und Projekte ums Überleben. 2019 wurden Organisationen wie Attac, Campact und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten die Gemeinnützigkeit entzogen. Für betroffene bedeutet das vor allem eine finanzielle Katastrophe, die sich bis hin zur Insolvenz strecken kann. Aber auch, dass sie zum Beispiel kein Mitglied von Dach- und Fachverbänden mehr werden dürfen und sich nur begrenzt organisieren können. So ist auch die politische Arbeit für Menschenrechte und Demokratie und gegen Menschenfeindlichkeit in Deutschland voller Hürden.
Seit Anfang des Jahres werden bundesweit zwei Dritteln der bis 2019 geförderten Demokratisierungsprojekte nicht mehr finanziert. Es geht um ca. 200 Projekte, die sich beispielsweise gegen Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Transfeindlichkeit, Homofeindlichkeit und andere Formen der Menschenfeindlichkeit einsetzen. In vielen dieser Strukturen arbeiten auch Menschen, die selber betroffen sind, und sich teilweise gegen ihre eigene Margina-lisierung wehren. Beruflich. Teilweise Vollzeit. Sie studieren, bilden sich zu Expert*innen aus und kämpfen. Während Menschen, die nicht marginalisiert sind, ihren Neigungen und Wünschen entsprechend einen Berufsweg wählen können, gehen viele Betroffene einen teils schmerzhaften, kräftezerrenden Weg für eine Gesellschaft, in der alle gleichberechtigt sein sollen – nicht nur theoretisch, sondern auch in Wirklichkeit. Viele dieser Menschen stehen jetzt seit Anfang des Jahres ohne Arbeit da, weil die Strukturen, in denen sie tätig waren, nicht mehr gefördert werden.
Die Arbeit gegen Menschenfeindlichkeit in Deutschland ist eine Frage des Überlebens. Es ist kein Hobby.
Der Ausschluss aus politischer Teilhabe ist die eine Seite der aktuellen Lage. Der Hass, der den Menschen, die sich einen Weg in die Strukturen erkämpfen, entgegenschlägt, eine andere. Sener Sahin aus dem bayrischen Wallerstein sah sich sogar genötigt, seine Kandidatur für die CSU als Bürgermeister zurückzuziehen, weil ihm als Muslim die nötige Unterstützung verwehrt wurde.
Der Ausschluss funktioniert allerdings auch nach der Ankunft in den Strukturen. Als Belit Onay 2019 zum ersten Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt mit einer Migrationsgeschichte gewählt wurde, wurde er über die sozialen Netzwerke mit einer rassistischen Hasswelle konfrontiert. In einem Interview mit Der Spiegel9 sagte Onay, dass es Menschen mit Migrationsgeschichte schwerfalle, in deutschen Parteien Fuß zu fassen, weil ihnen die Netzwerke fehlen, die sie innerhalb der Parteien benötigen. Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte würden oft über ihre Familie in diesen Netzwerken landen. Zudem fehle es an Interesse, weil es kaum Vorbilder in der deutschen Politik gebe. Dass die Repräsentation eine entscheidende Rolle bei der Berufsentscheidung spielt, ist bereits im Zusammenhang mit der Frauenquote ausgiebig diskutiert und belegt worden.
Es geht aber um mehr als Quoten: Am 15. Januar gab es Schüsse auf das Bürgerbüro des Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby in Halle. Der in Senegal geborene Politiker zog 1986 nach Deutschland und schaffte es trotz aller Hürden in den Bundestag. Im Gespräch mit Zeit Online10 erklärte er die vermehrten Angriffe auf Politiker*innen und Einschüchterungsversuche der Minderheiten und Andersdenkenden damit, dass innerhalb der letzten zwei Jahre die Aggression zunehme – nicht nur im Netz, sondern auch in der Politik: „In den Debatten werden Abneigungen deutlicher zum Ausdruck gebracht als früher, etwa gegen Minderheiten. Und das kann dann dazu führen, dass der ein oder andere Mensch, der vielleicht isoliert lebt und Zugang zu Waffen hat, zur Tat schreitet.“
Wer also im Bundestag oder den Landtagen sitzt und was dort gesagt wird, hat einen direkten Einfluss darauf, was auf der Straße passiert.
Als 2018 das Hashtag #MeTwo ins Laufen gebracht wurde, haben viele betroffene Menschen von traumatischen Rassismuserfahrungen in der Schule durch Lehrkräfte berichtet. Dass rassistische Diskriminierung in deutschen Schulen systematisch ist, belegt eine Studie11 der Universität Mannheim: Kinder mit anders klingenden Namen werden bei gleichen Leistungen schlechter bewertet. Während jede*r dritte Schüler*in einen sogenannten Migrationshintergrund hat, beträgt der Anteil der Lehrpersonen mit Migrationshintergrund lediglich acht Prozent12. Kinder, die Rassismuserfahrungen machen, erhalten auch weniger Gymnasialempfehlung und haben später geringere Chancen auf einen akademischen Abschluss. Die logische Schlussfolgerung: Diese werden u.a. von dem Beruf als Lehrkraft ausgeschlossen – ein weiterer Teufelskreis. Der Karriereweg als Lehrkraft ist keine Ausnahme. Menschen, die von Rassismus betroffen sind, werden auch in anderen Berufswegen mit Ausschlüssen konfrontiert. So wüssten zum Beispiel Jugendliche mit Migrationshintergrund wenig über die Ausbildungsmöglichkeiten und deren Bedingungen im öffentlichen Dienst, berichtete Annemie Burkhardt, ehemalige Geschäftsführerin des Berliner Qualifizierungszentrum für Migrantinnen und Migranten, im Gespräch13 mit der Heinrich-Böll-Stiftung 2014. Laut einer Studie14 des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit von 2016 müssen Frauen mit Kopftuch vier Mal mehr Bewerbungen schicken, bis sie zum Bewerbungsgespräch eingeladen werden. Zudem erhöht sich die Diskriminierung, je höher die Position ist: So müsse die Bewerberin mit Kopftuch für eine Stelle in der Bilanzbuchhaltung 7,6 Mal so viele Bewerbungen verschicken als etwa Sandra Bauer, für eine Stelle als Sekretärin müsse sie nur 3,5 Mal mehr Bewerbungen schreiben. Je größer die Karrierewünsche, desto größer die Diskriminierung.