Kitabı oku: «Bin ich zu ungeduldig?»

Yazı tipi:

Mit dem Flüchtlingsstrom kommt die Syrerin Fatima nach Österreich. Der Zufall bringt sie mit der in Wien lebenden Journalistin Sibylle Hamann zusammen. Diese Begegnung ist der Beginn einer Freundschaft.

„Bin ich zu ungeduldig?“ erzählt, wie sich die beiden Frauen kennenlernten. Hamann zeichnet den Weg der fünfköpfigen Familie aus dem vom Krieg schwer gezeichneten Syrien nach Österreich nach und berichtet anhand ihrer sehr persönlichen Beziehung zu Fatima und vor dem Hintergrund der österreichischen Flüchtlingspolitik von den ganz alltäglichen Problemen, mit denen Flüchtlinge wie auch Helfende in dieser turbulenten Zeit konfrontiert waren.

Die ersten Meter auf dem gemeinsamen Weg sind noch euphorisch, doch schon bald zeigt sich, dass alles nicht so einfach ist. Hamann begleitet die Familie und lernt dabei auch neue Seiten ihres Landes kennen.

Zaghaft werden Distanzen vermessen. Wie den richtigen Abstand zwischen Interesse und Respekt finden; wie hilfsbereit sein, aber nicht aufdringlich? Keine der beiden Frauen hat Routine in ihrer Rolle – man flieht schließlich nicht jeden Tag. Im Buch lässt die Autorin die vier Jahre, die seit Fatimas Ankunft in Wien verstrichen sind, Revue passieren. Sie berichtet, stellvertretend für viele Menschen, die in dieser Zeit ähnliche Erfahrungen machen, von Missverständnissen, Konflikten und auch komischen Situationen.

SIBYLLE HAMANN

Bin ich zu ungeduldig?

Vier Jahre mit meiner syrischen Freundin Fatima

FALTER VERLAG

© 2019 Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.

1011 Wien, Marc-Aurel-Straße 9

T: +43/1/536 60-0, E: bv@falter.at, W: www.falter.at

Alle Rechte vorbehalten. Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub: 978-3-85439-657-4

ISBN Kindle: 978-3-85439-650-5

ISBN Printausgabe: 978-3-85439-638-3

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2020

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorbemerkung

Prolog

Syrien, im Sommer 2015

Europa, im Sommer 2015

Wien, im September 2015

Vier Jahre mit Fatima

Oktober 2015 bis August 2016

September 2016 bis März 2017

April 2017 bis Dezember 2017

Januar 2018 bis Juni 2018

Exkurs

Übers Helfen

Epilog

Syrien, im Frühjahr 2019

Autorin

VORBEMERKUNG

Dies ist eine sehr persönliche Geschichte, die nicht von Anfang an zur Veröffentlichung gedacht war.

Viele, viele Menschen waren und sind an dieser Geschichte beteiligt. Ihre Erfahrungen sind berichtenswert – allerdings sollen sie nicht persönlich zuordenbar sein.

Deswegen tragen alle Menschen in diesem Buch nur (teilweise veränderte) Vornamen. Wo notwendig, wurden auch biografische Details verändert, um ihre Identität zu schützen.

Allen sage ich: Danke. Und bitte gleichzeitig um Entschuldigung.

Der Text des Buches basiert in wesentlichen Teilen auf vier Artikeln, die zwischen 2016 und 2018 in der Wochenzeitung Falter erschienen sind, sowie auf einem von Saskia Schwaiger geführten Interviewtext.

PROLOG
SYRIEN, IM SOMMER 2015

Die Stadt ar-Raqqa, 200.000 Einwohner, liegt am Ufer des Euphrat. Der Euphrat ist ein breiter, träge dahinfließender Fluss. Seit vielen tausend Jahren gibt es hier Zivilisation. Eine erste Blütezeit erlebte ar-Raqqa im späten 8. Jahrhundert als Hauptstadt des abbasidischen Reiches. Harun ar-Raschid herrschte hier. In Westeuropa kennt man ihn als märchenhaften Kalifen aus den Geschichten von „Tausendundeiner Nacht“. Den Arabern und Persern ist er eher wegen seiner grausamen Herrschaftsmethoden in Erinnerung geblieben.

Im modernen Syrien jedenfalls ist ar-Raqqa als multikulturelle, liberale Stadt bekannt. Viele Kurden leben hier, Sunniten, Alawiten, Christen. Ar-Raqqa war stets ein lebendiges Handelszentrum. Hier kreuzen sich wichtige Verkehrswege, große Staudämme erzeugen Strom, Öl liegt unter dem Wüstenboden. Die Uferpromenade am Euphrat war bekannt für ihre Bars und Discos.

2011 begann die syrische Revolution mit ein paar Jugendlichen, die Parolen gegen den Diktator Baschar al-Assad auf Hauswände sprühten. Das war anfangs sehr weit weg, in Daraa, im entgegengesetzten südwestlichen Teil des Landes. Doch der Flächenbrand des Bürgerkriegs weitete sich rasch aus. Regierung gegen Aufständische, Milizen gegen Armee, Milizen gegen andere Milizen. In ar-Raqqa fanden Regierungsgegner aus dem ganzen Land Zuflucht: einerseits die weltlich orientierten Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA), andererseits jene von der islamischen al-Nusra-Front. Gemeinsam rissen sie im Zentrum der Stadt eine Assad-Statue um und jubelten.

Ar-Raqqa fühlte sich 2013 als die erste befreite Stadt des Landes. Menschen, die aus anderen Landesteilen vor Kämpfen flohen, zogen nach ar-Raqqa zu, die Einwohnerzahl wuchs in dieser Zeit rapide.

Doch schon bald tauchten seltsame Fremde in der Stadt auf. Vermummte Männer mit Bärten und schwarzen Fahnen. Sie kamen über die nahegelegene Grenze aus dem Irak und nannten sich „Islamischer Staat“ (IS). Sie schleppten Fahrzeuge und Kriegsgerät heran, zeigten Präsenz auf der Straße, markierten Territorien und begannen, die anderen Rebellengruppen systematisch einzuschüchtern. Man hatte Angst vor ihnen: Viele IS-Kämpfer waren ehemalige Soldaten aus Saddam Husseins Armee, gut geschult im Umgang mit Waffen. Innerhalb von ein paar Monaten hatten sie die letzten Christen aus der Stadt vertrieben und die Regierungsgebäude unter ihre Kontrolle gebracht. Der Großteil der al-Nusra-Rebellen lief auf ihre Seite über, die FSA-Rebellen hingegen ergriffen die Flucht. 2014 erklärte der IS ar-Raqqa zur Hauptstadt ihres Kalifats.

Westeuropa war von dieser Entwicklung beinahe ebenso überrumpelt worden wie die Bewohner von ar-Raqqa. Die Strahlkraft des Islamischen Staats wirkte, via Social Media, weit in unsere Gesellschaften hinein, speziell in die Kinderzimmer mancher junger Muslime der zweiten und dritten Generation. Zu Tausenden strömten sie aus der ganzen Welt ins Kalifat, auch aus Österreich. Sie wollten schießen und morden lernen, Ungläubigen das Fürchten lehren und Allah Kinder schenken. Nach ar-Raqqa brachten sie Red Bull und Nutella mit.

Der IS hatte am Ufer des Euphrat inzwischen begonnen, seine Terrorherrschaft zu errichten. Schulen wurden geschlossen, die Buben in Trainingscamps gelockt, viele Mädchen verschleppt. Eine Radikalvariante der Scharia ersetzte die Gesetze. Es wurden rigide Preiskontrollen für Gemüse eingeführt und Tanz und Musik verboten. Den Frauen wurde nicht nur die Vollverschleierung inklusive der Augen, sondern auch die Farbe der Schuhe (Schwarz) vorgeschrieben. Eine Sittenpolizei überprüfte die Einhaltung der vielen Regeln und der Gebetszeiten. Es gab öffentliche Hinrichtungen, Enthauptungen, Kreuzigungen. Leichen wurden an Panzer gekettet und demonstrativ durch die Stadt geschleift. Leichen wurden an Verkehrsknotenpunkten viele Tage lang ausgestellt, zur Abschreckung.

Im Geheimen entstand damals „Raqqa Is Being Slaughtered Silently“ (RBSS), ein Internetblog von Oppositionellen. Auf Arabisch hat dieser Name einen poetischen Klang. Anfangs arbeiteten die Bürgerjournalisten noch von ar-Raqqa aus, machten heimlich Fotos, schrieben Texte, verbreiteten sie. Nach der ersten Exekution eines Kollegen tauchten sie unter, flohen über die türkische Grenze – und machten weiter: Sie stellten Fotos, Bilder, Videos und Nachrichten online, die sie von Vertrauensleuten aus ar-Raqqa geschickt bekamen. RBSS war für die westliche Welt jahrelang die wichtigste unabhängige Informationsquelle aus dem Kalifat.

Es muss ein Leben wie im Gefängnis gewesen sein. Einem Gefängnis, das noch dazu aus der Luft angegriffen wurde: Amerikaner und Franzosen bombardierten den IS, die syrische Regierungsarmee bombardierte verschiedene Rebellengruppen und das eigene Volk, an ihrer Seite bombten auch die Russen, die türkische Armee bombardierte Kurden. Und alle Bomben trafen natürlich auch die Zivilbevölkerung.

Wer konnte, floh in dieser Zeit in ein Nachbarland. Aber dort waren schon so viele: 1,2 Millionen im Libanon; zwei Millionen in der Türkei. Die Grenzen waren zu dieser Zeit noch offen. Für die Türkei brauchten Syrer kein Visum. Sie konnten sich legal im Land aufhalten, aber versorgt wurden sie nicht. EU-Hilfe für Flüchtlingsprogramme war zwar versprochen, kam aber nicht an. So wohnten die Flüchtlinge in überteuerten Untermieten und wurden auf dem informellen Arbeitsmarkt ausgebeutet. Sie verdingten sich als Tagelöhner in der Landwirtschaft oder als Dienstboten. Ihre Kinder durften offiziell nicht in die Schule gehen. Familien, die bei ihrer Ankunft noch halbwegs wohlhabend waren, brauchten in dieser Zeit, Tag um Tag, ihre Ersparnisse auf.

Und so ist im Sommer 2015 der Punkt erreicht, an dem viele syrische Flüchtlinge in der Türkei keine Zukunft mehr sehen. Der Krieg in ihrer Heimat, wird ihnen klar, wird so bald nicht vorbei sein. Die Kinder müssen irgendwo wieder in die Schule gehen. Das letzte Geld ist bald weg. Und so kommen hunderttausende Menschen etwa gleichzeitig zu dem Schluss: Es reicht, wir gehen nach Europa!

Zwei Varianten gibt es für syrische Familien in jenen Tagen. Es ist eine Charakterfrage, für welche man sich entscheidet, doch sie wird weitreichende Folgen haben, bis heute. Die einen schicken jemanden voraus – meistens den Familienvater oder einen erwachsenen Sohn. Er soll die gefährliche Route über die Ägäis nehmen, sich nach Deutschland durchschlagen, einen Job, eine Wohnung finden und sich anschließend darum kümmern, den Rest der Familie nachzuholen – auf sicherem, legalem Weg, möglichst im Flugzeug.

Andere Familien sagen: Egal was passiert und egal wie gefährlich die Reise wird, wir fahren gemeinsam.

EUROPA, IM SOMMER 2015

Wer sehen will, ahnt schon seit einigen Monaten, dass sich etwas anbahnt. Man sitzt im Railjet von Budapest nach Wien – mit Leuten aus Pakistan, die wahrscheinlich nicht kommen, um sich Schönbrunn anzuschauen. Auch an der Brenner-Grenze sind schon im Frühjahr viele Reisende unterwegs nach Deutschland, die anders ausschauen als die üblichen Touristen: viele junge Männer, einzeln oder in kleinen Gruppen, die meisten tragen nur eine Tasche mit ein paar Habseligkeiten bei sich. Aber man fragt nicht viel an den europäischen Grenzen. Es gilt ja das „Schengen“-Prinzip: keine Kontrollen.

Theoretisch gilt auch das „Dublin“-Prinzip: Demnach ist jenes EU-Land, das ein Flüchtling zuerst betritt, automatisch für das Asylverfahren zuständig. Aber Dublin ist in dieser Zeit de facto bereits abgeschafft. Dass die Flüchtlingsversorgung in Griechenland spätestens seit der Finanzkrise am Boden liegt, weiß man im Rest Europas schon länger. Wegen der unzumutbaren Zustände in den dortigen Lagern werden aus Österreich keine Rückführungen nach Griechenland mehr angeordnet. Doch nach außen hin wird das nicht laut gesagt. Man tut, als gälte Dublin noch und als wäre alles wie immer.

Schon im ersten Halbjahr 2015 haben tausende Flüchtlinge Griechenland verlassen und sich zu Fuß nach Norden auf den Weg gemacht, sie reisen durch Mazedonien, durch Serbien und weiter Richtung Ungarn. Und es kommen nach Griechenland stetig neue nach: An der türkischen Küste, gleich neben den Touristenstränden an der Ägäis, sind Sammelpunkte entstanden, wo Schlepper ganz offen ihre Dienste anbieten, Schwimmwesten und Schlauchboote bereitstellen und für die Überfahrt auf eine der griechischen Inseln Geld kassieren. In Kos, Lesbos, Samos gehen täglich einige hundert Menschen an Land. Staatliche Fähren bringen sie dann aufs griechische Festland.

Noch aber hat die westeuropäische Öffentlichkeit das Thema nicht so richtig auf dem Radar. Man spricht in diesem Sommer über die griechische Staatsschuldenkrise und die Frauen-Fußball-Europameisterschaft. Die Länder auf der Balkanroute versuchen, die Flüchtlinge so unauffällig wie möglich über die nächste Grenze weiterzureichen; sie beschleunigen ihre Durchreise, indem sie Busse und Züge bereitstellen. Nur Ungarn will dem anschwellenden Strom etwas entgegensetzen und kündigt an, an seiner EU-Außengrenze einen Grenzzaun hochzuziehen.

Das Buch „Flucht“ der Presse-Redakteure Christian Ultsch, Thomas Prior und Rainer Nowak zeichnet gut nach, wie aus diesen verschiedenen gleichzeitigen Dynamiken – Wegschauen, Beschleunigung, Abschottungsversuche – ein Sog entsteht, der immer mehr Menschen mitreißt. Flüchtlinge, die schon allzu lang in Lagern oder notdürftigen Unterkünften ausgeharrt haben, spüren: „Jetzt oder nie!“ Alle rundherum setzen sich in Bewegung. Wenn wir zu lange warten, fürchten sie, könnten wir übrig bleiben. Und irgendwann ist es zu spät.

WIEN, IM SEPTEMBER 2015

Die Erschöpfung ist den Menschen anzusehen, die täglich am Hauptbahnhof und am Westbahnhof ankommen. Österreich ist im Ausnahmezustand. Man könnte auch sagen: Es mobilisiert seine besten Kräfte und zeigt, was es kann, wenn es will. An der österreichisch-ungarischen Grenze in Nickelsdorf wird über Nacht ein Empfangszentrum aus dem Boden gestampft: mit Decken, Essen, medizinischer Notversorgung, aber ohne Registrierung.

Von dort werden die Menschen nach Wien gebracht, mit Bussen, Sonderzügen, Taxis oder Privatautos. Am Westbahnhof hat die Caritas ein Versorgungsnetzwerk aufgebaut, an dem sich hunderte Freiwillige beteiligen – sie helfen bei der Essensverteilung, betreuen Kinder in einem eigens eingerichteten Kinderraum, stehen den Menschen mit Rat und Tat bei.

Am Hauptbahnhof, an der Hinterseite, dort, wo die Straßenbahn der Linie D unter den Eisenbahngleisen durchfährt, entstehen gleichzeitig selbstorganisierte Hilfsstrukturen. „Train of Hope“ heißt das komplexe, schillernde, basisdemokratische, unübersichtliche Wunderwerk aus privater Initiative. Es gibt eine Krankenstation, in der Ärztinnen und Ärzte erste Hilfe leisten. Es gibt Leute, die Kleider und Schuhe sammeln, sortieren und verteilen. Andere kümmern sich um Lebensmittelspenden und verwalten ein immer komplexer werdendes Lager, in dem von Bananen bis Haarshampoo fast alles angeboten wird. Andere nehmen Vermisstenmeldungen auf. Privatpersonen und Vereine bringen täglich Töpfe mit warmem Essen vorbei – am beliebtesten sind die Eintöpfe des Sikh-Kulturvereins.

Eine ganz besondere Rolle in dieser Zeit spielen österreichische junge Leute mit arabischer, persischer oder türkischer Muttersprache. Sie werden dringend zum Übersetzen gebraucht und erleben – häufig zum ersten Mal in ihrer Schul- oder Berufskarriere –, wie wichtig ihre Sprachkenntnisse sein können.

Die ankommenden Flüchtlinge allerdings sind völlig erschöpft. Viele von ihnen haben auf der strapaziösen Reise traumatische Dinge erlebt – sie waren in Seenot, wurden von Reisegefährten getrennt, sind in Panik, weil sie nicht wissen, wo ihre Angehörigen sind; oder sie haben, speziell in Ungarn, körperliche Gewalt oder Demütigungen erfahren. Die meisten haben keinen Groschen Geld mehr in der Tasche. Viele sind am Ende ihrer Kräfte, haben wunde Füße – und wollen doch, ihr Ziel Deutschland so knapp vor Augen, weiter.

In unserer Freiberufler-Bürogemeinschaft entsteht in dieser Zeit ein improvisiertes Übergangsquartier: Kleingruppen in unterschiedlichsten Konstellationen kommen für eine Nacht, ehe sie am nächsten Tag frühmorgens weiterziehen. Ein, zwei Dutzend Familien lernen wir auf diese Weise kennen – flüchtig, aber intensiv, so als richte ein Scheinwerfer sein Licht ein paar Stunden lang auf zufällig ausgewählte Biografien aus der ganzen Welt.

Da war die afghanische Familie, die mit ihren zwei Kindern auf dem Weg nach Schweden zu ihrem dritten, herzkranken Kind war, das dort in einem Spital im Sterben lag. Da war das syrische Pärchen, sie im neunten Monat schwanger, das sich an unserem Küchentisch darüber stritt, in welches Land sie weiterfahren sollten – er wollte nach Deutschland, sie zu ihrem Bruder nach Frankreich –, und in der Früh getrennte Wege ging. Da waren die drei somalischen Frauen, die, einen kleinen Buben bei sich, mit stoischer, beharrlicher Ruhe den größten Teil des Weges aus Afrika zu Fuß zurückgelegt hatten – in Plastikschlapfen, ein halbes Jahr lang, Schritt für Schritt.

Jedes Mal gab es: ein warmes Abendessen (ohne Schweinefleisch), eine Dusche, eine Nacht in einem richtigen Bett, ein Frühstück. Man schrieb ihre Vornamen auf, machte mit dem Handy Fotos, wünschte alles Gute. Man gab ihnen einen Rucksack mit, eine Jause, frische Socken, ein Lego-Auto für die Kinder, ein Überraschungsei. Zurück ließen sie kaputte Sandalen, Facebook-Adressen mit blumigen Profilen und das vage Versprechen, sich zu melden, wenn sie irgendwo in Deutschland angekommen seien. Bloß nicht innehalten, so knapp vor dem Ziel, sagten diese Rastlosen; immer weiter, immer weiter, morgen sind wir endlich dort.

Ich war viele Jahre lang Auslandsreporterin, gewöhnt, immer parat zu stehen, wenn irgendwo auf der Welt etwas passierte, und hinzufahren. Diesmal bleibe ich zu Hause. Die Welt kommt jetzt zu mir.

VIER JAHRE MIT FATIMA

Mein Name ist Fatima. Ich bin 37 Jahre alt. Auf dem Foto könnt ihr mein Gesicht nicht erkennen, so habe ich es mit Linda, der Fotografin, vereinbart. Sie war nicht glücklich darüber, denn es ist schwierig, gute Fotos von einem Menschen zu machen, wenn man das Gesicht nicht erkennen kann. Aber Linda hat mich verstanden. Denn Linda ist Syrerin, genauso wie ich.

Letztes Jahr ist mein Schwager in Syrien getötet worden. Er wurde gefoltert und hingerichtet, weil er Journalist war. Auch mein Bruder wurde verschleppt und gefoltert, bis er am ganzen Körper blau war. Ich habe noch immer Angst um meine Angehörigen, auch hier.

Ich stamme aus ar-Raqqa, das ist eine Stadt mit 200.000 Einwohnern im Norden von Syrien. Ar-Raqqa ist bekannt, weil der Daesch die Stadt okkupiert hat und dort das sogenannte Kalifat ausgerufen hat. Daesch kennt man hier als IS oder „Islamischer Staat“.

Wir haben Syrien verlassen, nachdem wenige Tage zuvor die Daesch-Leute einem Soldaten der syrischen Armee in einer öffentlichen Hinrichtung den Kopf abgehackt hatten. Es war in unserem Viertel, ich war beim Einkaufen, als plötzlich Jeeps mit schwerem Geschütz durch die Straßen fuhren und in die Menge brüllten: „Alle zum Platz kommen, jetzt könnt ihr was sehen, kommt alle her!“ Männer, Frauen und Kinder wurden mit Waffengewalt zum Platz getrieben, ich rannte zu unserem Haus und beschwor die Kinder drinzubleiben.

Es war schlimm genug, die Schreie zu hören, das Dröhnen der Flugzeuge, das Krachen. Der Krieg hatte uns schon viel abverlangt. Wir hatten keinen Strom mehr, nichts mehr zu essen und zuletzt kein Trinkwasser. Aber der Daesch war das Schlimmste. Wir können nicht bleiben, sagte ich an diesem Abend zu meinem Mann. Wegen der Kinder. Wir müssen fort.

Es war keine leichte Entscheidung. Wir wollten überhaupt nicht weg aus Syrien, denn wir haben ein gutes Leben gehabt, ein sehr gutes Leben sogar. Zu unserem Haus sagte man Villa; 15 Zimmer, drei Stockwerke, zwei Autos. Im Erdgeschoß haben meine Schwiegereltern gewohnt, das ist bei uns so üblich, im zweiten und dritten Stock mein Mann und ich mit unseren drei Kindern.

Das Auto haben wir verkauft, um die Schlepper zu bezahlen. Jetzt wird der Daesch das Haus nützen oder ein General der Armee wohnt darin. Ich weiß es nicht genau. So ist das, wenn jemand sein Haus verlässt und flieht.

Wir haben beide gute Jobs gehabt und gut verdient. Ich bin Ingenieurin, Telekommunikationstechnikerin. Mein Mann und ich haben für dieselbe Firma gearbeitet, von acht bis um drei Uhr nachmittags, das ist bei uns ein normaler Arbeitstag. Die Kinder waren tagsüber bei meinen Eltern, nachmittags habe ich sie nach der Arbeit mit dem Auto wieder abgeholt, Leyla war schon in der Schule.

Erinnerst du dich, Leyla? Wir sind immer gemeinsam Auto gefahren. Ich habe dich auf den Schoß genommen und du hast gelenkt. Und kannst du dich nicht an alles andere erinnern? Dass wir im Dunkeln gesessen sind, weil der Strom abgeschaltet war? An die Flugzeuge? Die Bomben?

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