Kitabı oku: «Mord bei den Festspielen», sayfa 5

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Kapitel 4: Stumme Anklage

Am Bodensee,

immer noch Juli 2018

»Lucas! Wo warst du? Ich warte hier schon eine halbe Ewigkeit!« Der rundliche Mann in einem verschwitzten Leinenanzug, einem dazu passenden Hut in der Hand und mit einer überquellenden Aktenmappe unter dem Arm stürmte durch die Hotelhalle auf Lucas zu. Mich beachtete er nicht, obwohl Lucas mich an der Hand hatte. »Ich muss unbedingt mit dir reden!«

»Das dachte ich mir schon«, sagte Lucas trocken. »Aber darf ich dich davor meiner Frau vorstellen? Victoria, das ist Antonio Merlato, Signore Miercoledis langjähriger Manager …«

»Und Freund!«, unterbrach ihn der kleine Mann.

Lucas ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen. »Und das ist meine Frau, Professor Victoria Rühle-Benning.«

Ich reichte dem Herrn die Hand und verkniff mir dabei ein Grinsen. Wenn Lucas es für nötig hält, mich mit dem akademischen Titel vorzustellen, möchte er Abstand schaffen.

Im Fall Merlato gelang ihm das nur bedingt. Der schmatzte einen Kuss auf meine Hand, schaute mich dabei an, als ob er überlegte, wie viel ich auf der lokalen Viehauktion einbringen würde, und legte Lucas eine fette Hand auf den Arm. »Mario hat mir gar nicht erzählt, dass du geheiratet hast. Schön, schön – und man weiß ja: Aller guten Dinge sind drei und darum wird’s im dritten Anlauf bei dir schon klappen.«

Mein Ehemann sah aus, als ob er in eine Zitrone gebissen hätte. Er hatte mir mehr als einmal gesagt, dass er es nicht als rühmlich empfinde, zwei Ehen in den Sand gesetzt zu haben.

Nun aber ging er über Merlatos Taktlosigkeit hinweg. »Lass uns nach oben gehen, ja?«

»Bene, bene!«, fand Merlato und watschelte hinter uns her zum Aufzug.

Oben in unserer Suite bot Lucas Kaffee an, kam damit aber nicht gut an.

»Hast du nichts Stärkeres?«, fragte der Manager, nachdem er sich in einen Sessel gezwängt und seine Krawatte gelockert hatte. »Es war ganz schön anstrengend bei Marios Weibern!«

Lucas hatte schon das Telefon in der Hand. »Und du, Liebes?«

»Eine große Apfelsaftschorle bitte!«, bat ich.

Lucas bestellte, legte auf, setzte sich auf meine Armlehne und fragte Merlato: »Wie geht es den Damen?«

»Nicht gut«, antwortete Merlato prompt. »Giulia hat die ganze Zeit nur geheult, weil sie ihn nicht gehört hat. Sie hätte ihm doch helfen können!«

»Ob das was gebracht hätte?«, überlegte Lucas. »Mein Vater ist damals im Wartezimmer seines Kardiologen zusammengebrochen. Obwohl er sofort Hilfe bekam, hat er seinen Hinterwandinfarkt – also die Form von Infarkt, die Mario wohl auch erwischt hat – nicht überlebt.«

»Tut mir leid«, grinste Merlato. »Na ja, Giulia bekam dann von Marietta ein Beruhigungsmittel und legte sich hin. Marietta hat mit dem Bestatter gesprochen.«

»Und?«, fragte Lucas.

Ich spitzte die Ohren – ich war neugierig und wollte wissen, was die Familie beschlossen hatte.

»Der Bestatter hat Mario mitgenommen. Er wird so schnell wie möglich verbrannt, dann begleiten Giulia und die Töchter die Urne nach Spoleto zur Trauerfeier.«

»Das wird sicher ein größerer Auftrieb«, sagte Lucas nachdenklich.

»Natürlich! Er war ja eine bedeutende Persönlichkeit, Spoletos größter Sohn, Ehrenbürger, Ordensträger …«

»Ich glaube nicht, dass das da, wo er jetzt ist, noch eine Rolle spielt!«, rutschte mir heraus.

Ein kleines Grinsen von Lucas, dann sagte er: »Spoleto ist für uns natürlich problematisch. Wir können nicht mitten in unserer Probenperiode für zwei Tage nach Italien verschwinden – schon gar nicht, wenn du die Tatsache berücksichtigst, dass wir nur vier Wochen haben, um einen neuen Posa einzustudieren.«

»Deswegen wollte ich ja mit dir reden!«, kündigte Merlato an, nahm aber vorher dem Zimmerkellner seinen Cognac ab und goss ihn auf einen Schluck hinunter. Lucas signierte die Rechnung, stellte mir die Apfelsaftschorle hin und sagte süffisant: »Sag nur, du hast noch einen zum Bariton mutierten Tenor im Portfolio!«

»Nein! Aber ich habe einen hochbegabten jungen Bariton! Der ist mit 29 schon so gut wie du als Junger! Gib dem noch zwei, drei Jahre, dann werden sich die Leute die Finger nach ihm schlecken. Willst du den nicht als Ersatz?«

Lucas zog eine Augenbraue hoch. »Wie heißt denn deine unbekannte Größe?«

»So unbekannt ist er gar nicht – vor allem nicht bei dir! Du hattest ihn im letzten Jahr in einer Meisterklasse. Er heißt Renato Buscopi.«

Lucas massierte seine Stirn. Sein Personengedächtnis ist nicht schlecht, aber er hat es nicht so sehr mit Namen. »Buscopi«, wiederholte er schließlich. »Hmm – umgehauen hat er mich wohl nicht, sonst hätte ich mir den Namen gemerkt.«

»Er ist aber ein sehr hübscher Junge!«, warf der Agent ein. »Blond, blauäugig – er ist Norditaliener mit einer Mutter aus Südtirol, spricht also auch gut deutsch. Und blond – du hast Gutiérrez-Martin als Carlos, nicht? Zu seinen schwarzen Locken würde so ein Blonder doch gut aussehen!«

»Wenn ich zu besetzen hätte, würden mich Stimmen immer noch mehr interessieren als Aussehen …«

»Ach, Lucas, nun tu doch nicht so! Wenn du einen bestimmten Sänger willst, wird Haller-Rojas den engagieren!«

Lucas schüttelte nur den Kopf und kraulte mit zwei Fingern meinen Nacken.

Merlato zappelte vor Ungeduld. »Schön, schön, aber du könntest ihn doch anhören! Renato ist hier! Du kannst ihn jederzeit vorsingen lassen.«

»Hat er den Posa drauf?«

»Nein«, gab der Manager zu. »Aber er ist jung! In seinem Alter lernt man schnell. Gib ihm drei, vier Tage und dann kann er Posa.«

Lucas schüttelte den Kopf. »Verzeih, wenn ich dir widerspreche, aber den Posa lernt man nicht in drei, vier Tagen. Und selbst wenn man das schaffen würde, so hat man ihn bestimmt nicht so verdaut, dass man ihn glaubwürdig interpretieren kann. Bei unserer kurzen Probenzeit brauche ich aber jemanden, der in der Partie sicher ist. Sorry für deinen Youngster! Ein anderes Mal höre ich ihn gerne an, aber momentan sind wir zu sehr unter Druck.

Immerhin verstand Merlato, dass er verloren hatte, und beschloss, das Feld zu räumen. Er nahm kurz und desinteressiert Abschied von mir und ließ sich von Lucas zur Tür geleiten.

Ich unterdessen streifte meine Schuhe ab, zog die Füße aufs Sofa, faltete die Arme um meine Knie und packte das Kinn darauf. Die Kaltschnäuzigkeit des Managers beeindruckte mich fast. Erst betonte er, mit Miercoledi befreundet gewesen zu sein, aber der war noch kaum ganz kalt, als sein Agent schon bemüht war, den Nachfolger an den Start zu bringen. Klar – Einspringer waren eine Chance für junge Sänger, an große Partien zu kommen, aber mir erschien es dennoch unverfroren, am Todestag des einen Sängers schon den nächsten für die Rolle anzubieten.

*

Am Abend hatten wir beide keine Lust, zum Essen auszugehen. Ich hatte mich an den Schreibtisch verzogen, um an meinem neuen Buch, dem Nachfolger meines erfolgreichen »Oper für Dummies«, zu basteln. »Konzerte für Anfänger« war der Arbeitstitel und ich versuchte, die Must-haves für Konzertgänger vorzustellen.

Lucas unterdessen hatte noch einmal mit dem Intendanten telefoniert, der versprochen hatte, dass sein Büro am nächsten Morgen auf die Suche nach einem neuen Posa gehen würde. Er hoffe aber auch, dass Lucas was einfalle.

Der hatte aber erst einmal sein weiteres Abendprogramm abgearbeitet, indem er den Rest des Ensembles – Tenor Cayetano Gutiérrez-Martin, der den Carlos sang; Bass Rocco Banhardt, unser von Weib und Kind ungeliebter König; die falsch liebende Königin Ileana Leodorescu – über Miercoledis Ableben informiert hatte. Anschließend war Mischa dran, den er im Auto erwischte – er war nach Stuttgart gefahren, um dort »eine Bekannte« zu besuchen, und kam jetzt nach Lindau zurück.

Nach dem Gespräch mit ihm legte Lucas auf, lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. »Junge, Junge – ich hoffe bloß, dass die Nachrufe, die ich mal kriege, freundlicher ausfallen! Der Einzige, den zumindest leichtes Bedauern überkam, war Cayo.«

Ich drehte mich zu Lucas um. »Na ja, den hat Miercoledi ja in den ersten Jahren seiner Karriere durchaus gefördert.«

»Ja.« Lucas dehnte das »a« fast endlos.

»War nicht einfach für Cayetano, hmm? Miercoledi hat einiges an Dankbarkeit und Loyalität dafür verlangt, dass er ihm ein paar Engagements vermittelt hat.«

»Eben!«, brummte Lucas. »Mario hat immer so getan, als wenn er der Einzige gewesen sei, der Cayos außergewöhnliches Potenzial entdeckt hätte, und als ob er ihn – gegen den Widerstand der anderen Juroren – bei Operata auf den zweiten Platz gehievt hätte. Aber dem war nicht so. In der Jury saßen außerdem Dame Florence Gardiner, Katharina Orlowski, Marios Lieblingspinsler Adriano Valoso und ich. Und Florence und mir war auch schon nach fünf Takten klar, dass Cayetano etwas Besonderes ist. Und als er weitergemacht hat, wurde klar, dass er nicht nur eine wunderschöne Stimme hat, sondern durchaus musikalisch und ein begabter Schauspieler ist. Für mich wäre er der Sieger gewesen, denn genau solche Leute sucht man doch bei Operata.«

»Er ist eigentlich der Einzige von den Operata-Platzierten, der wirklich ganz groß rausgekommen ist«, sagte ich nachdenklich. »Wobei böse Zungen behaupten, er hätte sich die Startlöcher schon gegraben, bevor er zu Operata kam.«

»Um das festzustellen, braucht man nicht einmal eine böse Zunge«, befand Lucas. »Cayo war bereits in Zürich im Engagement, als er zu Operata kam, und er hatte auch schon die ersten Gastverpflichtungen. Er hätte es auch ohne Operata geschafft.« Er schaute auf sein Handy. »Jetzt müssten wir nur noch einen guten Partner für ihn finden.«

»Wo ist das Problem? Es laufen doch genug gute Baritone rum und ihr habt hier doch einiges zu bieten – du als Regisseur, Cayo als Carlos, das garantiert doch dafür, dass die Kritik allerorten euch wahrnimmt.«

»Das schon. Aber das ändert nichts daran, dass die Guten alle im Engagement sind. Früher gab’s eine Sommerpause, heute haben wir Salzburg und Bayreuth, Konstanz und Glyndebourne, und wem es dann immer noch nicht reicht, kann nach Verbier fahren oder nach Boston fliegen.«

»Wie sieht es mit deinen ehemaligen Schülern aus?«

Lucas grinste. »Die gehören zu den Guten, mein Schatz – und darum sind die, die ich gerne hätte, belegt.« Er stand auf und ging in die kleine Küche neben unserem Vorraum. Ich hörte das Wasser rauschen, dann fragte er: »Soll ich dir auch einen Kaffee durchlassen?«

Ich schaute kurz auf die Uhr. »Danke, aber es ist schon nach zehn. Ich vermute, dass ich heute Nacht eh nicht gut schlafe, da sollte ich nicht auch noch Koffein auf die Schlaflosigkeit schütten.«

Lucas lachte. »Macht mir nichts.«

»Oh ja!« Ich lauschte auf das Sprudeln und Zischen der Kaffeemaschine. »Dein Blutdruck dankt es dir ja immer wieder.« Ich mochte es überhaupt nicht, wenn ich so nach Genörgel klang, aber Lucas’ Blutdruck machte mir tatsächlich Sorgen.

»Hase!« Er kam mit seinem Becher aus der Küche. »Ich nehm ja gleich meine Tabletten.«

»Und dann wachst du wieder gegen drei auf und geisterst durch die Nacht?«, fragte ich.

Er beugte sich über mich und strubbelte mit der Nase in meinem Haar. »Heute Nacht war ich übrigens nicht der einzige nächtliche Wanderer. Als ich gegen drei in die Küche gegangen bin, um mir ein Mineralwasser zu holen, fiel mir auf, dass draußen auf dem Flur das Licht brannte – und du weißt, dass das nur angeht, wenn jemand durch die Lichtschranke des Bewegungsmelders läuft.«

»Das kann aber auch ein Zimmerkellner gewesen sein«, fiel mir ein. Ich streckte die Hand aus und mein Liebster nahm sie. »Was hältst du davon, ins Bett zu gehen?«

»Mit dir?« In seinen braunen Augen tanzten goldene Funken und er strich mit einem Finger sanft über meine Unterlippe.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste sein Kinn. »Na ja, du könntest natürlich auch Frau Leodorescu oder die Sekretärin deines Intendanten fragen. Die scheint sehr an dir interessiert zu sein.«

Er schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Brrr – ich glaube, vorher gewöhne ich es mir ab.« Er ging zum Barschrank und nahm eine Flasche Cognac heraus.

»Hallo, du hast ja Cognac hier! Warum hast du dem Herrn Manager vorher einen vom Zimmerservice bestellt?«, wunderte ich mich.

»Na ja«, Lucas hob die Flasche, »das hier ist ein alter Napoleon – sehr gut, sehr teuer. Ich dachte, für Merlato, der ihn eh bloß runtergießt, wäre auch ein Remy gut genug – wenn nicht gar ein Asbach Uralt. Aber so was Profanes haben sie in diesem vornehmen Haus gar nicht.« Er goss sich ein Glas ein.

»Musst du dir Mut antrinken, bevor du mir nähertrittst?«, feixte ich.

Er trank einen Schluck und ließ den Cognac über seine Zunge rollen. »Klar brauche ich einen Schluck, bevor ich mich mit dir einlasse. Ich kann nämlich immer noch nicht glauben, dass sich eine so hübsche, junge Frau auf meine Wampe, die Falten und die Geheimratsecken eingelassen hat.«

Ich kämmte mit gespreizten Fingern durch sein grau meliertes Haar. »Falsch, mein Schnurzel. Als ich mich für dich entschieden habe, warst du noch ein Jüngling mit lockigem Haar. Aber ich ahnte damals schon, dass aus dir ein sehr imposanter älterer Herr werden wird und dass ich dich dann immer noch lieben werde. Außerdem«, ich prüfte seinen Haaransatz, »sind die Geheimratsecken noch nicht so schlimm.«

Lucas trank sein Glas aus, stellte es auf dem Tisch ab, streckte mir die Hand hin und zog mich in seine Arme. »Ab ins Bett, mein Hase. Und …« Er wurde ernst und senkte die Stimme. »Danke.«

»Wofür?« Ich schaute zu ihm hinauf und in seine schönen Bernsteinaugen.

»Dafür, dass du mich liebst.« Sein Mund landete auf meinem und meine Knie wurden so weich, dass ich mich an ihm festhalten musste.

*

Mit dem Tod eines Menschen konfrontiert zu werden, erinnert einen unweigerlich daran, wie zerbrechlich und kostbar das Leben ist. Und dann feiert man es, dann will man es intensiv spüren und will sich mit einem anderen verbinden. Und so saß ich in unserem Bett, die Arme um meine Knie geschlungen, den Rücken am Kopfende und schaute auf meinen Liebsten, der neben mir schlief, sein Gesicht mit der Patriziernase entspannt, ein kleines Lächeln um seinen hübschen Mund.

Das Letzte, was er vor dem Einschlafen, schon gähnend, gesagt hatte, war: »Ach, geht’s mir gut mit dir!« Und damit hatte er mich daran erinnert, wie müde und ausgelaugt er gewesen war, als wir uns nach unserer jahrelangen Trennung und unseren zwischenzeitlich »abgelebten« Ehen wiedergefunden hatten. Wir hatten in der Zeit beide Federn gelassen, aber während ich mich nett in meinem Single-Dasein eingerichtet hatte, war Lucas beim Versuch, seine zweite Ehe zu retten, in eine Depression hineingerutscht. Es hatte einige Monate gebraucht, bis er sich berappelt hatte, aber nun war er wieder der Lucas, den ich einst kennen und lieben gelernt hatte: energiegeladen, kreativ, an allem interessiert, lebhaft und meist gut gelaunt.

Ich aber war jetzt vor allem verschwitzt. Die Sommernacht war immer noch schwül und wir hatten die Klimaanlage nicht eingeschaltet, weil die trockene Luft bei mir Erkältungen und bei Lucas Heiserkeit verursachte. Das Dumme ist nur: Wenn ich mir erst einmal bewusst geworden bin, dass mir zu heiß ist, habe ich keine Chance mehr, ohne Abkühlung einzuschlafen. Aber noch mal duschen würde meiner Haut bestimmt nicht bekommen. Also begnügte ich mich damit, die »kritischen« Stellen zu waschen, schlüpfte in saubere Wäsche, Jeans und ein T-Shirt und ging ins Wohnzimmer. Auf meinem Schreibtisch fand ich Block und Stift, also bekam Lucas einen Zettel: »Brauche frische Luft, bin in den Garten gegangen. XOX – Vic«. Ich ging nicht davon aus, dass Lucas aufwachen würde, bevor ich wieder zurück war, aber ich wollte sicherstellen, dass er sich in dem Fall keine Sorgen um mich machte.

Im Flur sprang automatisch die Beleuchtung an, als ich aus der Tür trat, doch den Aufzug holte die Anlage noch nicht. Ich musste einen Augenblick warten, fuhr nach unten und ging durch die jetzt leere Halle, wo der Nachtportier Zeitungen in die Ständer sortierte. Er grüßte freundlich, ich winkte zurück, verließ das Hotel und genoss die kühle Nachtluft.

Ich ging um das Gebäude herum und durch eine kleine Pforte von oben in den Park. Meine Schritte knirschten auf dem Kiesweg, als ich an der übermannshohen Hecke entlang strich. Im Mondlicht konnte ich erkennen, dass rote Beeren am Busch neben mir hingen. Aber warum piksten die Ästchen hier so? Weiter vorne waren sie weich und elastisch gewesen.

Ich schaute den Busch genauer an, tastete die Zweige entlang und entdeckte, dass auf einer Fläche von ungefähr einem Meterquadrat alle Zweige an der Spitze gekappt worden waren.

Mein Großvater und meine Mutter haben begeistert in ihren Gärtchen gearbeitet und gegraben und am liebsten hätten sie sämtliche Familienmitglieder zum Unkrautrupfen angestellt. Bei mir hat das zu einer Abneigung gegen Gartenarbeit geführt. Dementsprechend habe ich wenig Ahnung davon. Dennoch war ich mir fast sicher, dass Hecken nicht im Hochsommer geschnitten werden, und vor allem – wer schneidet nur ein kleines Stück aus einer großen Fläche?

Aber vielleicht hatte jemand Füllmaterial für einen Blumenstrauß gebraucht? Die Zweige mit den saftig grünen Nadeln und den becherförmigen roten Beeren waren hübsch und ich konnte sie mir gut in einem Blumenstrauß vorstellen. Vielleicht kombiniert mit weißen und gelben Dahlien oder Chrysanthemen? Oder mit einer Rose wie die, die Lucas mir am Samstag bei einem Straßenhändler gekauft hatte? So ein Zweig würde sie aufwerten und die Hecke war dicht genug, dass sie es verkraften konnte, wenn ich auch noch einen Zweig abbrach.

Mit dem Ästchen bummelte ich zum See hinunter, der friedlich im Mondlicht lag. Ein Segelboot dümpelte vor dem Strand des Hotels. Es hatte an einer Boje festgemacht und schwoite im leichten Wind. Am Segelboot hing, wie ein Entenküken an der Mutter, ein Schnellboot.

Ich kann nicht segeln, aber ich weiß, dass Lucas es als Bub gelernt hat. Wir hatten immer mal wieder davon gesprochen, dass wir mal einen Segelurlaub machen würden, wobei mir da allerdings eher nach Meer als nach Bodensee gewesen wäre. Meer, mit gutem Wetter und dann irgendwo, wo keine anderen Schiffe vorbeikommen, Lucas an Deck lieben und den Wind und die Sonne auf der Haut spüren, beschattet von den weißen Segeln.

Am Bodensee frischte der Wind gerade auf. Mir wurde kalt – ich hatte keine Jacke mitgenommen, außerdem wurde ich zunehmend müde und musste morgen um zehn pünktlich zur Probe antreten.

Immer noch mit meinem Zweig ging ich zurück ins Hotel. Der Nachtportier war mit seinen Zeitungen fertig, nun polierte er seinen Tresen und lächelte mich an. »Hatten Sie einen schönen Spaziergang?«

Ich blieb vor ihm stehen und gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Ja – und jetzt habe ich die nötige Bettschwere.«

Er deutete auf den Zweig. »Die Eibe ist hübsch mit ihren roten Beerchen, nicht?«

»Ich habe am Samstag eine rote Rose bekommen, da wollte ich sie dazu stellen«, erzählte ich.

»Das sieht bestimmt nett aus. Und sie haben ja keine Kinder oder Haustiere, also müssen Sie da auch nicht aufpassen.«

Ich klopfte mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Klar, das ist Eibe – und Eibe ist giftig.« Ich wandte mich dem Portier zu. »Ich pass auf! Gute Nacht!« Ich eilte zum Aufzug, dabei dachte ich an meinen heißgeliebten Großvater, mit dem ich so gerne spazieren gegangen war. Einmal war er vor einer Eibenhecke stehen geblieben, hatte einen Zweig zu sich gezogen und ihn mir gezeigt: »Schau dir das genau an: die Nadeln, die sich gegenüberstehen, die aber weicher als zum Beispiel Fichtennadeln sind. Aber mit Eiben musst du aufpassen. Die Nadeln, die Rinde und die Samen sind so giftig, dass eine Handvoll ein Pferd – und natürlich auch einen Menschen – umbringen kann.«

Der Aufzug war oben angekommen und ich rannte über den Flur zu unserer Suite. Eine Idee geisterte durch meinen Kopf und ich wollte sie so schnell wie möglich überprüfen.

Angekommen, an den Schreibtisch. Ich zappelte vor Ungeduld, während der Computer bootete und sich im WLAN des Hotels anmeldete. Erst einmal Wikipedia zum Thema Eibe – Inhaltsstoffe: »Die meisten Eibenarten, wie die Europäische Eibe (Taxus baccata), enthalten sehr giftige Inhaltsstoffe wie Taxin B … Giftig sind Rinde, Nadeln und Samen. Der rote Samenmantel enthält jedoch keine Giftstoffe. Fälle von tödlichen Vergiftungen durch Eiben sind von Menschen, Rindern und Pferden bekannt.«

Tja – genau wie’s der Opa erklärt hatte. Und damit waren meine Befürchtungen nicht erledigt. Ganz im Gegenteil. Also weiter mit »Vergiftung durch Eibe«. Welche Symptome werden dadurch ausgelöst?

Während die Seite lud, hatte ich immer noch die Hoffnung, dass sich meine Idee als eine Ausgeburt überhitzter Fantasie nach einem langen, aufregenden Tag erweisen würde. Doch dann war die Liste der Symptome auf meinem Monitor: »Mundtrockenheit, Rotfärbung der Lippen, Pupillenerweiterung, Blässe, Übelkeit, Leibschmerzen, Schwindel, Diarrhö, Herz- und Kreislaufstörungen, Leber- und Nierenschäden, Krampfanfälle, Tod.«

Meine erste Reaktion war ein herzhaftes: »Verdammte, elende Sche…!«

Ich war Journalistin gewesen und hatte ein Volontariat absolviert. In dem hatte man mir beigebracht, nicht einfach loszuschießen, sondern erst einmal so viele Fakten wie möglich zu sammeln.

Meine nächste Frage war: Wie viel Eibe brauchte man, um jemanden umzubringen? Und wie brachte man jemanden dazu, so viel Eibe zu sich zu nehmen?

Ich las mich durch verschiedene Seiten und lernte dabei, dass das Eibengift Taxin B sehr wirksam ist. Bei Kühen reichen zehn Gramm Eibe, um sie innerhalb von 48 Stunden umzubringen. Werden sie in diesen 48 Stunden gemolken, ist das Taxin B auch in der Milch und wer genug davon trinkt, ist dann auch erledigt.

Pferde reagieren auch sehr empfindlich auf Eibe. 100 Gramm reichen und sie legen sich innerhalb von fünf Minuten hin, strecken alle viere von sich und sind tot.

Menschen sind anscheinend härter im Nehmen. Während bei Pferden 0,2 bis 0,4 Gramm Eibe pro Kilogramm Körpergewicht ausreichen, braucht es bei Menschen zwischen 0,6 und 1,3 Gramm.

Miercoledi war herzkrank gewesen. Bei ihm hatte es sicher nicht die Höchstmenge gebraucht. Also eher ein Gramm pro Kilogramm Körpergewicht – und gewogen hatte er wohl um die 95 Kilogramm. Machte also rund 100 Gramm Eibe – eine Handvoll Eibennadeln oder Samen.

Aber wie hatte ihn jemand dazu gebracht, diese 100 Gramm zu schlucken? Erst eine Kuh damit zu füttern, dann zu melken und ihm die Milch in den Kaffee zu rühren, wäre wohl zu aufwändig gewesen. Aber vielleicht ein Teechen? Ich hatte gelesen, dass Gift auch in getrockneten Eiben enthalten ist und in einem meiner Texte stand: »Schon die Einnahme eines Tees von wenigen zehn Gramm Eibennadeln reicht aus, um die Symptome hervorzurufen. Im Falle einer Heilung bleibt auf jeden Fall ein Leberschaden zurück.«

Einem Sänger einen Tee einzuflößen, ist eine leichte Übung. Die meisten sind ziemlich hysterisch, wenn es um ihre Stimme geht, und sie hoffen immer darauf, das Wundermittel zu finden, das aller Malaisen Herr wird und mit dem sie zwitschern können wie die Vögelein im Frühling.

Unser Bass Rocco war dafür ein Paradebeispiel. Der ging nicht nur mit einer halben Apotheke auf Reisen, sondern kam mit einer Thermoskanne voll Kräutertee zur Probe und pries sein jeweiliges Hexengebräu an, als ob es alle denkbaren Wehwehchen kurieren könnte. Lucas kommentierte das üblicherweise mit: »Jaja, dein Tee gibt dem Gesäß eine gesunde Gesichtsfarbe!«

Mir war inzwischen richtig kalt geworden, aber ich war überhaupt nicht mehr müde, im Gegenteil. Mein Hirn arbeitete auf Hochtouren und die Gedanken purzelten durcheinander wie die Socken in meiner Kommode. Dabei sah ich immer wieder Miercoledis Leiche vor mir, die obszön roten Lippen, das in Panik verzerrte Gesicht. Nein, ich hatte ihn nicht gemocht und ich hatte bestimmt nicht vor, jetzt etwas anderes zu erzählen. Dennoch: Einen so erbärmlichen Tod hätte ich ihm nicht gewünscht. Und ich bin eine Gegnerin der Todesstrafe, also kann mir keiner erzählen, dass ein anderer den Tod »verdient hätte«. Ich denke, dass niemand das Recht hat, über das Leben eines anderen Menschen zu entscheiden. Auch wenn er wie Miercoledi seine Frau belogen, betrogen und gedemütigt hatte – es wäre an ihr gewesen, ihn zu verlassen. Eventuelle Rachegelüste hätte sie mit ihrem Anwalt austoben können. Dann vielleicht noch das eine oder andere Interview darüber, wie sehr sie in ihrer Ehe gelitten hatte – als Schulung dafür hätte sich das berühmte »Wir waren zu dritt in der Ehe«-Interview der Princess of Wales empfohlen – und Giulia hätte darauf hoffen können, dass der Ex-Gatte, der doch so gerne einen auf allgeliebter Patriarch und Musterbürger machte, vor Zorn platzen würde.

Jetzt sah es aus, als ob jemand beim Ableben des Herrn Superstar nachgeholfen hatte – und das wiederum bedeutete, dass jemand den Bestatter aufhalten musste. Miercoledis Leiche durfte nicht einfach verbrannt werden, denn das hieße ja, dass man den Mörder davonkommen lassen würde. Wenn Miercoledi nicht obduziert wurde, fehlte der Nachweis, dass er eben nicht an einem Infarkt gestorben war.

Andererseits: Was, wenn ich mich in meiner Mordtheorie total verstiegen hatte? Der Samstagabend und die dunkle Gestalt im Park fielen mir ein. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie wirklich Eibe geschnitten und in der Hand gehalten hatte. Dafür war ich sicher, dass die Gestalt eine Rose gepflückt hatte.

Die Vorstellung, dass die Gestalt der Mörder gewesen war und dass er erst die tödliche Eibe und dann eine Rose geholt hatte – nein, das war zu morbid! Und überhaupt: Wenn ich jetzt meine Mordtheorie in die Öffentlichkeit tragen würde, würde die Polizei aktiv werden. Dann würde Miercoledi obduziert werden – welch eine schreckliche Vorstellung für seine Familie! Und schlimmer noch: Wenn er obduziert werden würde, würde es mindestens zwei Wochen dauern, bis die Pathologie die Leiche zur Beerdigung freigegeben hätte. Ich aber wusste aus Erfahrung – meine Eltern waren ein paar Jahre zuvor gestorben – wie wichtig die Trauerfeier für die Angehörigen war. Vor allem bei meiner Mutter, an der ich sehr gehangen und mit deren Tod ich nicht gerechnet hatte, war es so gewesen, dass ich erst in der Kapelle beim Anblick der Blumen und ihrem Bild mit dem Trauerflor begriffen hatte, was geschehen war. Damit hatte dann die Trauer angefangen und nur durch sie war ich am Ende dazu gekommen, mein Leben ohne die Mutter leben zu können.

Familie Miercoledi würde mich verfluchen, wenn sie erfahren würde, dass ich die Mordtheorie aufgebracht hatte! Und der Rest der Truppe unter Garantie auch, denn wenn die Polizei meine Idee ernst nahm, würden wohl alle, die mit Miercoledi am letzten Abend Kontakt gehabt hatten – und das war bis auf Ileana und Cayo das ganze Ensemble gewesen –, verhört werden.

Ach, verdammt! Wieso war mir die abgeschnittene Eibe aufgefallen?

Mein Mund war trocken und ich hatte Durst, also trollte ich mich in die Küche und fischte eine Flasche Zitronensprudel aus dem Kühlschrank. Als ich sie ansetzte, hörte ich leise Schritte und dann stand Lucas, nur mit dunkelgrünen Boxershorts bekleidet, in der Tür. Er gähnte hinter vorgehaltener Hand, schob sich wortlos an mir vorbei, schaltete die Kaffeemaschine ein, füllte ihr Wasserreservoir, fütterte sie mit zwei Pads und stellte einen großen Becher unter den Ausguss. Ich wartete, bis die Maschine einen doppelten Espresso in die Tasse gespuckt und Lucas den ersten Schluck getrunken hatte.

Erst dann legte ich die flache Hand auf seine Brust und schaute in seine immer noch sehr müden Augen. »Lucas, ich habe ein Problem.«

Er beugte sich zu mir herunter und küsste meine Stirn. »Morgen, mein Vickelchen. Hast du wegen des Problems nicht geschlafen?«

»Hmm!« Ich nickte, schnappte meine Flasche, ging hinüber in den Wohnraum und nahm den Eibenzweig, den ich neben mein Notebook gelegt hatte. »Weißt du, was das ist?«, fragte ich meinen Mann, der mir mit seinem Becher gefolgt war.

»Taxus«, kam die prompte Antwort. »Mein Großvater hatte eine Taxushecke um seinen ganzen Garten herum und meine Mutter bekam immer Zustände, wenn mein Opa die Enkel frei laufen ließ. Als ob meine Cousinen und ich regelmäßig die Hecke abgeweidet hätten! Ich wusste schon mit drei, dass das Zeug giftig ist und man es auf gar keinen Fall in den Mund stecken darf, weil man davon ein schlimmes Bauchi bekommt.«

»Ja – und außerdem bekommt man bei Vergiftung mit Eibe ganz rote Lippen …«

Trotz der frühen Stunde begriff Lucas sofort. »Oh, oh – mir scheint, du hast tatsächlich ein Problem. Warte«, er schaute bedauernd in seinen leeren Kaffeebecher, »ich mache mir noch einen Kaffee und du erzählst mir, wie du zu diesem Zweig und zu der Idee gekommen bist, dass Marios Tod etwas mit Taxus zu tun haben könnte. Und wie soll das Zeug in ihn reingekommen sein?«

»Meine Eltern wollten mich eigentlich Sibylle nennen, aber dann dachten sie wohl, dass das mit den seherischen Fähigkeiten bei mir nichts wird.« Ich fühlte mich mies. Irgendwie hatte ich darauf gehofft, dass Lucas meine Theorie hirnrissig finden würde. Dann hätte ich sie unter den geistigen Teppich kehren und mit unserem wohl vertrauten Alltag weitermachen können. Ich atmete tief durch, stand auf, ging zu Lucas und ließ mich auf der Armlehne des Sessels nieder, in den er sich mittlerweile mit einem frischen Kaffee gesetzt hatte. Ich spielte in den weichen Locken an seinem Hinterkopf. »Was machen wir jetzt, Liebster?«

Er zog mich mit einer geschmeidigen Bewegung auf den Schoss. »Ich denke, wir haben keine Wahl. Wir müssen zur Polizei.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Halb sieben – ich vermute, das ist ein wenig früh für die Kripo. Also – wir duschen, ziehen uns an, frühstücken und machen dann einen Besuch bei der Polizei. Ich denke, wir brauchen da nicht so lange, bis du die Geschichte erklärt hast, also müssten wir es pünktlich zur Probe schaffen.«

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