Kitabı oku: «Syltleuchten», sayfa 4
Kapitel 6
Nachdem ich ebenfalls das ›Café Wien‹ verlassen hatte, machte ich einen kleinen Abstecher zum Strand. Plötzlich verspürte ich den unwiderstehlichen Drang, ans Meer zu gehen, um den Kopf frei zu bekommen. Das tat ich immer, wenn meine Seele Freiraum brauchte. Und das war jetzt dringend der Fall. Die Vorstellung, dass Jan Britta mit einer anderen Frau betrog, verursachte mir ein beklemmendes Gefühl. Fast so, als wäre ich selbst betroffen. Ich konnte nur zu gut nachvollziehen, wie Britta sich fühlen musste. Nachdenklich ging ich die Strandstraße weiter in Richtung Meer. Überall in den Auslagen der Geschäfte wurde man an das nahende Osterfest erinnert. Bunte Eier, Hühner und Hasenfiguren in den unterschiedlichsten Größen, Farben und Ausführungen zogen die Aufmerksamkeit auf sich. Ich ging hinter dem Freizeitbad, der ›Sylter Welle‹, rechts die Strandpromenade ein Stück entlang, nachdem ich das Kontrollhäuschen für die Gästekarten passiert hatte. Der nette Mann darin kannte mich mittlerweile schon, begrüßte mich und winkte mich freundlich durch, ohne dass ich meinen Ausweis zeigen musste. Viele Spaziergänger waren unterwegs, sowohl auf der Seepromenade als auch unten am Strand. Die blau-weiß gestreiften Strandkörbe warteten zu Hunderten darauf, von den Urlaubern in Beschlag genommen zu werden. Sobald sie den Strand zierten, war dies ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Saison eingeläutet war. Eine große Silbermöwe thronte majestätisch auf einem der Körbe, als würde sie sich einen Überblick über ihr Reich verschaffen wollen. Der Himmel war mittlerweile ganz aufgerissen, und nur wenige weiße Wolkenfetzen wurden vom Wind über den Himmel getrieben. Das Wasser leuchtete in einem Farbspektrum von Dunkelgrün über Türkis bis hin zu Blau. Einige Surfer glitten elegant auf ihren Brettern durch das Wasser, um die perfekte Welle zu erwischen. Ihre schwarzen Neoprenanzüge glänzten in der Sonne. Ich lief die Promenade entlang, bis der asphaltierte Weg zu Ende war. Der Wind spielte in meinen Haaren und riss einzelne Strähnen aus meinem Pferdeschwanz. Pepper musste überall eifrig schnuppern. Nach einer Weile drehte ich um und trat den Rückweg unten an der Wasserkante an. Die Wellen krachten auf den Strand, die schäumende Gischt versprühte einen feinen Wassernebel, den ich auf meinem Gesicht spürte. Ich atmete tief ein, und meine Lippen schmeckten salzig. Pepper, der ohne Leine lief, wagte sich immer wieder ein Stückchen weiter ins Wasser und freute sich seines Lebens. Es war die reinste Freude, ihm zuzusehen. Sein schwarzes Fell war ganz nass und voll von Sand. Er hatte eine Braunalge gefunden, biss hinein und schlug sie sich begeistert um die Ohren. Dann weckte ein angespülter Holzstock sein Interesse, und die Braunalge geriet schnell in Vergessenheit. Auf der Höhe der Musikmuschel leinte ich Pepper an, und wir verließen den Strand über eine der kleinen Holztreppen, die es an jedem Strandabschnitt gab. Die Übergänge waren jeweils mit einem anderen Tiersymbol gekennzeichnet, beispielsweise einem Frosch. So konnten sich auch kleine Kinder gut merken, wohin sie mussten, wenn sie den Strand einmal verlassen sollten. Ich klopfte den Sand von meinen Schuhen und lief über die gut besuchte Friedrichsstraße zurück zu meinem Wagen, den ich in der Nähe in einer Seitenstraße geparkt hatte. Auf dem Heimweg machte ich schnell einen Abstecher zum Supermarkt, um etwas Essbares einzukaufen, da wir kaum frisches Obst und Gemüse zu Hause hatten.
Als ich gerade in unsere Einfahrt einbog, sah ich Ava aus unserer Gartenpforte kommen. Ava Carstensen lebte mit ihrem Mann Carsten ebenfalls in Morsum, keine fünf Minuten von uns entfernt. Ich hatte sie beide im Zuge meiner Erbschaft kennen und schätzen gelernt. Als der alte Besitzer noch lebte, hatten sie sich um das Haus und den Garten gekümmert. Sie waren beide herzensgute Menschen und lebten ihr gesamtes Leben hier auf der Insel. Sie hatten sie niemals verlassen, was in der heutigen Zeit kaum vorstellbar war. Nick und ich mochten das alte Ehepaar sehr gerne und liebten ihre Geschichten rund um die Insel Sylt und Morsum im Besonderen. Gelegentlich halfen sie uns, indem sie auf Pepper aufpassten, wenn wir verhindert waren, oder halfen bei kleineren Reparaturen im Haus. Im Gegenzug unterstützten wir sie, wenn sie Hilfe benötigten, oder nahmen sie mit dem Auto mit in die Stadt, da sie kein eigenes besaßen. Es war ein Geben und Nehmen.
Ava winkte mir zu, als sie meinen Wagen erkannte, und ich hielt auf dem Parkplatz vor dem Haus. Ich stellte den Motor ab und stieg aus, um sie zu begrüßen.
»Moin, Ava, schön dich zu sehen! Ich hoffe, es geht euch gut. Was macht Carsten?«
»Moin, Anna! Danke, wir können nicht klagen. Carsten hat es mit dem Rücken zu tun, aber wir sind halt alte Leute. Da kommt das häufiger vor«, antwortete sie und winkte in ihrer stets bescheidenen Art ab.
»Ich glaube, Rückenschmerzen sind heutzutage keine Frage des Alters mehr«, erwiderte ich. »Was führt dich zu uns? Kann ich dir behilflich sein?«
»Nein, ich bin nur kurz vorbeigekommen, um euch einen Kuchen zu bringen, den ich frisch gebacken habe. Er steht vor der Haustür. Ich dachte mir, dass ihr nicht zu Hause seid, weil keines der Autos auf dem Parkplatz stand. Außerdem hat Pepper nicht angeschlagen, als ich geklingelt habe. Carsten hatte mir geraten, ich solle lieber vorher anrufen, aber ein kleiner Spaziergang bei dem schönen Wetter schadet in keinem Fall, und den Kuchen klaut ja niemand hier draußen.«
Sie lächelte mich freundlich an, und ihre hellwachen Augen blitzten in ihrem faltigen Gesicht.
»Stimmt. Ich war in Kampen auf einer Baustelle und habe Pepper mitgenommen. Aber herzlichen Dank! Ein Kuchen von dir ist immer eine leckere Angelegenheit. Da freue ich mich jetzt schon drauf. Möchtest du nicht mit ins Haus kommen? Ich mache uns schnell einen Tee.«
»Nein, danke, das ist sehr lieb von dir, Anna, aber ich muss los. Ich möchte Carsten nicht so lange alleine lassen. Du weißt ja, wenn Männer krank sind!« Sie lachte schelmisch. »Lasst euch den Kuchen schmecken.«
»Ganz bestimmt. Danke noch mal, Ava! Viele Grüße und gute Besserung an Carsten!«, erwiderte ich zum Abschied.
»Das werde ich ausrichten und Grüße auch an Nick«, sagte sie und machte sich auf den Weg nach Hause.
Jetzt befreite ich Pepper aus dem Auto, der uns die ganze Zeit über durch die Heckscheibe beobachtet hatte, und schloss zunächst die Haustür auf. Dann hob ich den Kuchen vorsichtig von den Steinplatten vor der Tür auf, bevor Pepper seine Nase neugierig unter die Alufolie stecken konnte, und trug ihn in die Küche, wo ich ihn auf dem großen Esstisch abstellte. Ich schielte kurz unter die Folie. Der Kuchen sah nicht nur sehr lecker aus, er roch auch äußerst verführerisch. Anschließend entlud ich mein Auto und verstaute die gekauften Lebensmittel in der Küche und dem angrenzenden Vorratsraum. Während ich damit beschäftigt war, musste ich an Britta denken. Vielleicht sah die Welt morgen schon ganz anders aus und Brittas Befürchtungen hatten sich in Luft aufgelöst. Sicherlich war alles nur ein großes Missverständnis, und es gab eine ganz einfache Erklärung für Jans Verhalten. Ich wünschte es ihr.
Am späten Nachmittag kam Nick nach Hause. In der Zwischenzeit hatte ich erste Ideen zu meinem Gartenprojekt aufgeschrieben und mit den Skizzen begonnen. Ich saß gerade oben in meinem Arbeitszimmer, als ich die Haustür hörte. Pepper, der unter meinem Schreibtisch auf einer Decke lag und geschlafen hatte, hob den Kopf und stürmte augenblicklich die Treppe nach unten. Seine Krallen gaben auf den Holzstufen ein klackendes Geräusch von sich. Unten in der Diele hörte ich Nicks Stimme, als er den Hund begrüßte. Scheinbar hatte Pepper so fest geschlafen, dass er das Auto nicht hatte kommen hören.
»Ich bin hier oben, Nick!«, rief ich laut.
Gleich darauf hörte ich Nicks Schritte auf der Treppe. Er kam ins Zimmer, umarmte mich von hinten und küsste mich zärtlich auf die Wange.
»Hallo, Sweety, bist du fleißig?«, fragte er und blickte über meine Schulter hinweg auf meinen Skizzenblock.
»Ja, ich war heute Vormittag in Kampen und habe mir alles vor Ort angesehen. Hier, das sind die ersten Ideen! So in etwa stelle ich mir das vor, wenn es fertig ist. Hier eine Sitzecke, eingerahmt von einer Hecke aus Hortensien. Da drüben könnte man einen Kugelamber pflanzen, der hat im Herbst so wunderschön gefärbtes Laub. Erinnert an Indian Summer. Wie gefällt es dir?«
Ich deutete stolz auf den Entwurf, den ich gezeichnet hatte.
»Ja, das wird bestimmt schön, bei den vielen Ideen, die du hast. Du wirst dich vor Aufträgen wahrscheinlich gar nicht mehr retten können, wenn sich erst mal herumgesprochen hat, wie talentiert du bist«, flüsterte Nick mir ins Ohr, schob mit der Hand mein langes Haar zur Seite und begann, meinen Hals zu küssen.
»Nick, ich muss doch arbeiten«, wehrte ich mich halbherzig, denn ein wohliger Schauer durchlief meinen Körper.
»Schade«, seufzte er daraufhin und richtete sich auf. »Dann gehe ich mich umziehen.«
»Mach das. Anschließend können wir eine Kleinigkeit essen. Ava war vorhin da und hat einen frisch gebackenen Kuchen vorbeigebracht.«
»Klingt verlockend«, bemerkte Nick auf dem Weg ins Schlafzimmer.
»Ich soll dir schöne Grüße bestellen!«, rief ich ihm hinterher.
Er antwortete etwas, aber ich verstand es nicht. Ich legte Stift und Lineal beiseite und ging die Treppe nach unten. In der Küche stellte ich erst den Wasserkocher an und schaltete dann die Kaffeemaschine ein. Mit einem großen Messer schnitt ich den Kuchen an, nachdem ich die Alufolie entfernt und ihn auf eine runde Kuchenplatte gestellt hatte. Beim Schneiden bröselten kleine Stückchen der Schokoglasur ab. Ich tupfte sie behutsam mit dem Zeigefinger auf und steckte sie in den Mund. Einfach köstlich. Für Schokolade tat ich fast alles.
Nachdem Nick und ich von dem leckeren Kuchen gegessen hatten und eine Runde mit dem Hund gegangen waren, machten wir es uns anschließend auf dem Sofa gemütlich. Draußen war es bereits dunkel, es hatte sich bezogen und Nieselregen eingesetzt. Nick zappte durch das Fernsehprogramm und blieb schließlich bei einer Dokumentation über Windkraftanlagen vor der Nordseeküste hängen. Unter anderem wurde dort über den Windpark vor Sylt berichtet. Bei klarer Sicht konnte man die Windräder vom Westerländer Strand aus sehen. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu und blätterte nebenbei in einer Zeitschrift.
»Spuck’s schon aus. Was ist los? Irgendetwas beschäftigt dich doch«, sagte Nick plötzlich, stellte den Ton des Fernsehers auf lautlos und betrachtete mich aufmerksam.
»Wie kommst du darauf?«, fragte ich überrascht und sah von meiner Zeitschrift auf.
»Mittlerweile kenne ich dich ganz gut und habe das Gefühl, dass irgendetwas in deinem hübschen Kopf herumschwirrt. Du machst einen nachdenklichen Eindruck – oder sollte ich mich etwa täuschen?«
Ich zögerte kurz und überlegte, ob ich Nick von Brittas Verdacht erzählen sollte und entschied mich schließlich dafür.
»Du hast recht. Da gibt es wirklich etwas, was mich momentan beschäftigt.«
»Und das wäre? Hast du Bedenken, dass du das mit dem Grundstück nicht schaffst?«
»Nein, das ist es nicht. Es geht um Britta und Jan. Ich habe mich heute Vormittag mit Britta in Westerland getroffen, nachdem ich auf der Baustelle war«, berichtete ich. »Sie gefällt mir gar nicht im Moment.«
Nick legte die Stirn in Falten.
»Ist sie krank? Oder Jan? Gibt es Probleme mit den Kindern?«
»Nein, nichts von alledem.« Ich schüttelte verneinend den Kopf. »Sie hegt den Verdacht, dass Jan ein Verhältnis mit einer anderen Frau hat.«
Nick stutzte. »Eine Affäre? Jan?« Er sah mich skeptisch an. »Hat Britta denn konkrete Hinweise? Gibt es Beweise für ihre Vermutung?«
»Jetzt klingst du aber sehr nach einem Polizeibeamten.«
Ich konnte mir trotz des Ernstes der Lage für einen kurzen Augenblick ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Nein, sie findet in letzter Zeit Jans Verhalten äußerst merkwürdig. Wenn sie ihn darauf anspricht, spielt er die ganze Sache herunter. Sie würde sich das alles nur einbilden. Es sei alles in bester Ordnung.«
»Das ist es wahrscheinlich auch. Ehrlich, Anna, bei Jan kann ich mir das wirklich nicht vorstellen, dass er seine Frau betrügen sollte. Nein, niemals.«
Nick lehnte sich zurück, streckte seine langen Beine aus und legte einen Arm um mich. Ich kuschelte mich an ihn. Dann begann er, meinen Nacken zu kraulen. Ich seufzte.
»Na, ich wünsche mir, dass du recht behältst. Ich kann es mir auch nicht vorstellen. Das habe ich Britta gesagt. Dafür ist er viel zu bodenständig und konservativ. Eher sogar ein bisschen träge. Und schon gar kein Womanizer!«
»Aha. Ist das so?«, fragte Nick mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ja, findest du nicht? Also, für mich wäre er sowieso kein Mann.«
»Soso. Na, da kann ich ja beruhigt sein«, verkündete Nick mit einem amüsierten Grinsen im Gesicht.
Ich zwickte ihn spielerisch in die Seite. Dann lehnte ich meinen Kopf fest gegen seine Brust und konnte seinen gleichmäßigen Herzschlag hören.
»Das klärt sich alles. Ganz bestimmt«, fügte Nick hinzu, schloss seine Arme um mich und küsste mich aufs Haar.
Kapitel 7
Ich saß am Küchentisch und schrieb unsere endgültige Gästeliste. Nick und ich wollten Ende Juli dieses Jahres heiraten, und langsam wurde es höchste Zeit, die Einladungen zu verschicken. Unsere Familien und Freunde kannten den Termin zwar bereits, aber wir wollten noch offizielle Einladungen versenden. Alles sollte seine Ordnung haben, denn ich war die geborene Perfektionistin. Wir planten eine kirchliche Trauung in der Morsumer Kirche St. Martin, da sie in meinem Leben eine ganz bedeutende Rolle spielte. Anschließend wollten wir bei uns im Garten mit allen Gästen feiern. Zu unserem Haus gehörte ein riesiges Grundstück mit einem angrenzenden See. Es musste nur noch das Wetter mitspielen, dann war es perfekt. Mittlerweile hatte ich fast alle 75 Namen notiert. Plötzlich spitzte Pepper die Ohren, bellte und stürmte aufgeregt zur Haustür. Zur gleichen Zeit hörte ich es klingeln. Ich stand auf, ging den Verbindungsgang von der Küche in die Diele und öffnete die Haustür. Ich fragte mich gerade, wer uns um diese Zeit besuchen könnte und erstarrte für einen kurzen Augenblick, als ich sah, wem ich eben die Tür geöffnet hatte.
»Hallo, Anna! Ich weiß, das kommt ziemlich überraschend für dich.«
»Marcus!«
Meine Stimme blieb mir fast im Halse stecken. Er sah mich freundlich an, doch sein Gesichtsausdruck wurde schlagartig angespannt, als er bemerkte, dass Pepper ihn misstrauisch umkreiste.
»Könntest du bitte den Hund zurückrufen? Du weißt, dass mir die Viecher nicht geheuer sind und schon gar nicht solche in dieser Größe«, erklärte Marcus und zeigte auf Pepper.
»Pepper, hier!«, befahl ich dem Hund. Er gehorchte sofort und kam zu mir. »Brav. Was machst du hier, Marcus?«, fragte ich völlig verwirrt über diesen unerwarteten Besuch. Ich fühlte mich, als wenn mir jemand unvermittelt einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen hätte.
»Darf ich reinkommen?«
»Ja, sicher. Bitte, komm rein«, stotterte ich.
Völlig überrumpelt und sprachlos zugleich, machte ich einen Schritt zur Seite und ließ ihn eintreten, obwohl mir meine innere Stimme dringend davon abriet. Doch dafür war es zu spät. Marcus machte ein paar Schritte an mir vorbei in die Diele, und ich schloss die Haustür hinter uns. Dann blieb er stehen und ließ mir den Vortritt. Ich ging vor ihm in den Wohnbereich. Dort stellte ich mich demonstrativ mit dem Rücken vor den Flügel, der vor einem der großen Fenster stand, und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich weiß nicht weshalb, aber ich bot meinem ungebetenen Gast keinen Platz an. Ein ungutes Gefühl beschlich mich, als ich ihn betrachtete. Marcus wollte irgendetwas von mir, das spürte ich instinktiv. Er stand nicht plötzlich grundlos vor unserer Tür, schon gar nicht um nur eine Unterschrift von mir einzuholen, wie er meiner Mutter am Telefon weismachen wollte. Die Unterlagen hätte er mir ebenso schnell und bequem mit der Post schicken können. Das Ganze war mit Sicherheit eine billige Ausrede, um an meine Adresse zu gelangen. Eigentlich hätte ich mir das denken können. Aber warum?
»Also?«, fragte ich und steckte meine Hände in die Hosentaschen meiner Jeans, während er sich interessiert im Raum umsah. »Was führt dich hierher?«
»Du siehst übrigens toll aus, Anna. Du trägst dein Haar wieder lang, das steht dir ausgesprochen gut. Dein neuer Freund hat Glück. Und es ist wirklich beeindruckend hier, das muss ich sagen. Aber du hattest ja immer schon ein besonderes Gespür fürs Schöne. Das habe ich sehr an dir geschätzt. Wie bist du an dieses fantastische Haus gekommen? War bestimmt nicht gerade ein Schnäppchen, nehme ich an. Bleibt also nur Lottogewinn oder reicher Kerl? Hast dir einen alten Millionär geangelt, was?«
Er lachte. Es sollte vermutlich als Scherz gemeint sein. Ich fand die Situation überhaupt nicht lustig, und mir war alles andere als zum Lachen zumute.
»Marcus! Ich frage dich nochmal: Was willst du von mir? Du bist doch nicht rein zufällig hier, um Hallo zu sagen.«
»Darf ich mich setzen?«, fragte er, ohne auf meine Frage einzugehen, und deutete auf das cremeweiß gestreifte Sofa.
Noch immer machte ich keine Anstalten, ihm etwas anzubieten. Ich konnte es kaum abwarten, dass er wieder ging. Schlagartig lebten die alten Erinnerungen auf und das ungute Gefühl, dass sein Auftauchen mit Schwierigkeiten verbunden war.
»Ja, aber bitte mach es kurz. Ich habe zu tun«, entgegnete ich frostig. »Was ist denn mit deiner Hand passiert?« Ich deutete auf seine rechte Hand, auf der ein dickes Pflaster klebte.
»Habe mich geschnitten. War ein bisschen ungeschickt beim Kochen. Nichts Außergewöhnliches, das kommt vor.« Er verzog den Mund.
»Du kochst?«, fragte ich verwundert nach. »Seit wann das denn?«
»Die Zeiten ändern sich. Mensch, Anna! Wir haben uns echt lange nicht gesehen. Ich habe dich wirklich vermisst und tue es noch immer, ob du es mir glaubst oder nicht. Das war ein riesiger Fehler, den ich damals gemacht habe. Ein dummer Ausrutscher. Wie gerne würde ich es ungeschehen machen. Aber manchmal kann man nicht anders.«
In mir brodelte es: Manchmal kann man nicht anders. Welche Unverschämtheit würde wohl als Nächstes kommen? Ich war kurz davor, ihn hochkant rauszuschmeißen und konnte mich gerade noch beherrschen. Ohne etwas zu erwidern, sah ich ihn an und wartete gespannt auf das, was er von sich geben würde.
»Ich bin hier, Anna, weil ich deine Hilfe brauche«, gestand er schließlich, als er spürte, dass ich innerlich kochte und sein Süßholzgeraspel nicht die gewünschte Wirkung auf mich hatte.
»Meine Hilfe?«, wiederholte ich betont ungläubig. »Da bin ich aber gespannt. Ich wüsste nicht, warum ich ausgerechnet dir helfen sollte?«
»Bitte, Anna! Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll. Außerdem waren wir uns doch einmal sehr nah.«
Marcus war vom Sofa aufgesprungen und machte einige Schritte auf mich zu. Sofort drängte sich Pepper zwischen uns und brummte leise. Marcus wurde augenblicklich blass um die Nase und wich ein Stück von mir zurück.
»Ist gut, Pepper«, beruhigte ich den Hund und schickte ihn auf seinen Platz unter der Treppe, wo er sich brav in sein Körbchen legte.
Trotzdem behielt er uns weiter aufmerksam im Auge. Nick hatte mir diesen Hund geschenkt, damit er mich beschützen sollte und ich mich sicherer fühlen konnte, wenn ich allein im Haus war. Und es klappte hervorragend, wie ich zufrieden feststellen konnte.
»Anna bitte, du musst mir helfen. Ich stecke in großen Schwierigkeiten.«
Marcus sah mich verzweifelt, beinahe flehend an. Er war ein guter Schauspieler, das kannte ich aus früheren Zeiten, denn ich war oft genug auf seine Masche hereingefallen. Meine Gutmütigkeit lud regelrecht dazu ein, und er hatte stets leichtes Spiel gehabt.
»Ach, Marcus, hör auf! Du steckst doch regelmäßig in irgendwelchen Schwierigkeiten. Was ist es also dieses Mal? Bedroht dich ein betrogener Ehemann, weil du mit seiner Frau im Bett warst – oder geht es mal wieder um das liebe Geld?«
»Ja, ich brauche Geld. Du bekommst es zurück, ganz bestimmt«, gab er nach einer kurzen Denkpause zu.
Ich konnte mir ein kurzes Lachen nicht verkneifen und sah dabei aus dem Fenster. Vor dem Haus fuhr gerade langsam ein dunkler Wagen vorbei. Wahrscheinlich wieder Leute, die nach Immobilien Ausschau hielten, die zu verkaufen waren. Das kam häufiger vor. Kürzlich hatte sogar jemand geklingelt und gefragt, ob das Haus zu verkaufen sei. Dann wandte ich meinen Blick meinem Gast zu.
»Marcus, mach dich bitte nicht lächerlich. Du hast mir noch nie etwas von dem wiedergegeben, was ich dir geliehen habe. Ich habe irgendwann aufgehört, alles zusammenzuzählen. Nenn mir nur einen Grund, warum ich dir erneut glauben und dir etwas geben sollte? Nein, es ist Schluss, von mir bekommst du keinen einzigen Cent mehr. Ich habe die Nase voll von deinen Geschichten. Such dir einen anderen Dummen.«
Ich hatte Mühe ruhig zu bleiben. Innerlich zitterte ich, so wühlte mich die Situation auf.
»Anna, ich flehe dich an! Mir steht das Wasser bis zum Hals!«
»Dann geh zur Bank! Da bekommt man Geld, das ist deren Geschäft, die leben davon«, sagte ich und verschränkte erneut die Arme vor der Brust. Ich merkte, wie meine Wangen zu glühen begannen.
»Das ist ja das Problem. Von der Bank bekomme ich nichts mehr. Deswegen habe ich es mir woanders geliehen. Von einem privaten … Institut«, stammelte Marcus kleinlaut und mit gesenktem Blick.
Er sah in diesem Augenblick beinahe aus wie ein kleiner Junge, der seiner Mutter gesteht, dass er die Fensterscheibe des Nachbarn mit dem Fußball kaputtgeschossen hat.
»Einem privaten Institut?«, wiederholte ich. »Ich hoffe nicht, du sprichst von diesen dubiosen Organisationen, die in Tageszeitungen inserieren. Schnelles Geld, unkompliziert, keine Schufa-Anfrage und ohne viel Papierkram, dafür aber zu Wucherzinsen. Vielleicht aus Russland oder etwas in dieser Art? Und dann kommt so ein selbsternanntes Inkassounternehmen und schickt seine Bullterrier, wenn man es nicht pünktlich zurückzahlt.«
Ich musste lachen und schüttelte dabei ungläubig den Kopf. Mein Lachen erstarb jedoch in dem Moment, in dem ich in Marcus’ versteinerte Miene blickte. Da spürte ich, dass ich mit meiner Vermutung nicht ganz falsch lag.
»Doch, Anna«, bestätigte Marcus zu meinem Entsetzen.
Ich bekam augenblicklich eine Gänsehaut und sah ihn fassungslos an.
»Wie bitte? Marcus, bist du wahnsinnig? Das kannst du unmöglich gemacht haben. Du machst dir nur einen Spaß mit mir, oder? Bitte sag, dass das nicht wahr ist.«
»Leider ist es kein Spaß. Ich sage doch, mir steht das Wasser bis zum Hals. Bitte, Anna, hilf mir! Die machen mich sonst kalt! Ich habe nicht mehr viel Zeit, alles zurückzuzahlen.«
Jetzt musste ich mich hinsetzen. Bei dieser Offenbarung bekam ich weiche Knie. Wie konnte sich Marcus nur mit solchen Leuten einlassen? Er war intelligent und gebildet. Seine Praxis lief seit Jahren sehr gut. Aber scheinbar lebte er weit über seine Verhältnisse. Das war schon damals ein gravierendes Problem, als ich mit ihm zusammen war.
»Wie viel ist es dieses Mal?«, wollte ich wissen und sah ihm dabei direkt in die Augen.
Mir fiel erst jetzt auf, wie schlecht er aussah. Um seine Augen herum lagen dunkle Schatten. Und auf der Stirn zeichneten sich tiefe Falten ab. Ihm schien es wirklich nicht besonders gut zu gehen. Aber war das mein Problem? Hatte er sich um mich gekümmert, als es mir seinetwegen schlecht ging? Sollte ich ihm erneut helfen, obwohl er mich auf die übelste Weise betrogen und hintergangen hatte? Das konnte ich nicht vergessen. Sicher, er war alt genug, für seine Fehler geradezustehen. Andererseits wollte ich mich nicht mein Leben lang mit Schuldgefühlen herumschlagen, wenn ihm wohlmöglich etwas zustoßen sollte, nur weil ich zu gekränkt gewesen war, um über meinen Schatten zu springen. Zweifel stiegen in mir auf, und ich begann mit meinem Gewissen zu ringen. Oder vielleicht war die ganze Geschichte am Ende frei erfunden, um mich weichzukochen? Ich befand mich in einem Wechselbad der Gefühle und schwankte zwischen Trotz und Mitleid.
»100.000 Euro«, flüsterte Marcus und sah mich abwartend aus seinen blauen Augen an.
»Was?« Ich fasste mir unwillkürlich mit einer Hand an den Hals. »Marcus, das ist ein Haufen Geld. Wie kommst du darauf, dass ich so viel Geld habe?«
Ich konnte kaum glauben, was er da sagte und fühlte mich einen Moment lang einer Ohnmacht nah. Das konnte er unmöglich ernst meinen, dass ich ihm diese riesige Summe mal eben so zur Verfügung stellen sollte. Doch Marcus breitete nur die Arme aus, sah sich um und blickte mir direkt ins Gesicht. Er brauchte gar nichts weiter erklären, ich verstand genau, was er meinte. Sein selbstgefälliger Gesichtsausdruck sagte alles. Plötzlich war er wieder ganz der alte Marcus, wie ich ihn kannte.
»Naja«, sagte er schließlich. »Allein dein Wagen da draußen würde schon reichen. Ich nehme doch an, dass der schwarze Geländewagen auf dem Parkplatz vor dem Haus dir gehört?«
Noch ehe ich mich aus meinem Schockzustand gelöst hatte, hörte ich einen Schlüssel im Schloss der Haustür. Pepper sprang von seinem Platz auf und rannte schwanzwedelnd zur Tür. Nick kam in diesem Augenblick nach Hause.
»Ich bin wieder zu Hause! Sweety, bist du da?«, rief er, als er das Haus betrat und die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel.
»Ich bin hier im Wohnzimmer, Nick«, antwortete ich. »Wir …«
»Da steht ein fremder Wagen vor dem Haus. Weißt du, wem …«, unterbrach er mich und verstummte augenblicklich, als er in den Wohnbereich kam und Marcus dort sitzen sah.
Unser Haus war offen gestaltet, sodass es im Erdgeschoss keine Türen gab. Alles war zu einem einzigen großen Raum zusammengewachsen. Lediglich die Gästetoilette direkt neben der Haustür war durch eine Tür getrennt.
»Nick, das ist Marcus. Marcus, das ist Nick, mein Verlobter«, stellte ich die beiden Männer einander vor.
Marcus war aufgestanden und einen Schritt auf Nick zugegangen, um ihm die Hand zur Begrüßung zu reichen. Doch Nick machte seinerseits keine Anstalten, den Händegruß zu erwidern. Sein Gesicht sprach Bände.
Er straffte stattdessen die Schultern, wodurch er imposanter wirkte, und fragte nüchtern: »Was verschafft uns die Ehre?«
»Ich war zufällig in der Nähe und wollte bei Anna vorbeischauen. Der alten Zeiten wegen.« Marcus lachte und wirkte nervös. Nicks Anwesenheit erfüllte ihn mit Unbehagen, das konnte ich ihm deutlich ansehen, und bescherte mir dadurch mehr Sicherheit. »Ich habe gehört, dass sie auf Sylt lebt. Und es scheint ihr gut zu gehen, wie man sieht. Das freut mich«, erklärte Marcus wenig überzeugend.
»Aha, ganz zufällig, der alten Zeiten wegen«, wiederholte Nick und kraulte dabei mit einer Hand Pepper am Ohr, der sich fest gegen sein Bein schmiegte.
Einen Augenblick lang herrschte eisiges Schweigen. Niemand sagte ein Wort, und die beiden Männer sahen nur einander an. Die Situation erinnerte mich an Revierkämpfe zwischen zwei Platzhirschen, die sich allein mit ihren Blicken maßen. Ich wusste in diesem Augenblick nicht, wie ich die angespannte Lage entschärfen konnte.
Daher sagte ich lapidar: »So, ich brauche erst mal etwas zu trinken. Möchte jemand von euch einen Kaffee oder etwas anderes?«
Dann ging ich zu Nick, der mitten im Raum stand, legte meine Hände an seine Taille und gab ihm einen Kuss.
»Nein danke, für mich nichts. Ich denke, ich sollte wieder los. War schön, dich wiedergesehen zu haben, Anna. Vielleicht läuft man sich irgendwann über den Weg. Nick«, er nickte ihm zu, »schönen Tag noch.«
Marcus ging in gewissem Abstand an Nick und dem Hund vorbei in Richtung Ausgang. Ich begleitete ihn aus reiner Höflichkeit zur Tür. Er schien es plötzlich sehr eilig zu haben. Nick machte keine Anstalten, unseren Gast zur Tür zu begleiten, und blieb mit Pepper im Wohnzimmer.
»So, du bist mit einem Bullen zusammen? Du musst es ja wissen, wenn dir das reicht. Ich gehe mal davon aus, dass das mit Sicherheit aber nicht sein Haus ist. Von seinem Gehalt wird er sich das wohl kaum leisten können. Naja, wahrscheinlich liegen seine Stärken eher woanders«, bemerkte Marcus mit unverschämter Arroganz und machte eine obszöne Handbewegung.
Ich ging nicht auf diese weitere bodenlose Frechheit ein, obwohl es mir sehr schwerfiel. Aber ich wollte mich unter keinen Umständen auf sein Niveau herablassen, sondern sagte lediglich, so ruhig ich konnte: »Mach’s gut, Marcus.«
»Du auch. Schade, ich hatte gehofft, ich könnte mich auf dich verlassen. Aber da habe ich mich wohl gründlich getäuscht. Du warst immer für andere da, wenn sie sich in einer Notlage befanden. Schließlich hatten wir sehr schöne Zeiten zusammen, auch wenn das ein paar Tage zurück liegt. Du hast dich sehr verändert, Anna. Aber wahrscheinlich ist er der Grund.«
Marcus sah an mir vorbei ins Wohnzimmer.
»Hör auf, es reicht. Schon lange. Geh jetzt bitte.«
Mit diesen Worten schloss ich die Haustür hinter ihm. Meine Hände zitterten vor Anspannung. Ich lehnte mich für einen kurzen Augenblick mit dem Rücken gegen die geschlossene Haustür, schloss die Augen und atmete zweimal tief durch, bevor ich ins Wohnzimmer zurückging. Dort stand Nick an der großen Scheibe des angrenzenden Wintergartens und sah in den Garten. Ich ging zu ihm, umfasste seinen Oberkörper von hinten mit beiden Armen und lehnte mich fest gegen seinen breiten Rücken. So verharrten wir einen Moment lang schweigend, bis Nick sich schließlich zu mir umdrehte und mir tief in die Augen sah.
»Was wollte er wirklich, Anna? Sein Besuch war kein Zufall, habe ich recht?«
Ich seufzte. Wenn ich Nick den wahren Grund für Marcus’ Besuch nennen würde, würde er sich vermutlich ziemlich aufregen. Ich wusste, dass er mich beschützen wollte. Andererseits wollte ich ihm nichts verschweigen, denn ich liebte ihn über alles und würde ihn bald heiraten. Daher wollte ich keine Geheimnisse vor ihm haben. Vertrauen und Ehrlichkeit waren für mich die wichtigsten Attribute in einer Beziehung, die Grundpfeiler sozusagen.
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