Kitabı oku: «Die baltische Tragödie», sayfa 12

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Irgendwo in den nackten Büschen wisperten Meisen.

Das Geheimnis

Es taute, die Wege wurden immer schlechter. Der See war noch zugefroren, aber durch Spalten und Löcher drang gelbes Schmelzwasser an die Oberfläche und überschwemmte das Eis.

Die vielen Gäste waren fortgefahren, auch Laura und Nena, die lustigen italienischen Cousinen; es war ein wenig still geworden im großen Haus. Und wenn auch Mädchen eigentlich nichts sind, so vermißte Aurel doch seine schwarze, schmale Nena, die ihm beim Abschied einen Kuß gegeben hatte, einen richtigen Kuß auf die Wange. Nein, er hatte sie nicht geküßt, es war zu schnell, zu überraschend gekommen. Aber noch lange spürte er den festen Druck ihres Mundes, den guten Geruch ihrer kühlen Haut. Und noch lange hörte er ihr übermütiges Lachen, sah er ihre braunen, länglichen Hände, die ganz so schnell durch die Luft hüpften wie die von Tante Madeleine.

Es war still, aber doch nicht ganz still geworden. Da waren Isa, Maurissa und Warinka – die allein füllten eigentlich schon das ganze Haus mit ihren hellen Stimmen, ihrem sorglosen Summen, ihrem vergnügten, nach innen gekehrten Lachen, das selten laut, aber doch immer irgendwo in der Luft war.

Da war Mademoiselle, bei der Aurel aus einem französischen Buch „Petit à petit“ komische Worte lesen und immer anders aussprechen mußte, als sie geschrieben waren. Da war Miß Mabel, mit der er sich auf englisch unterhalten sollte, und das war noch schwieriger; aber er saß doch ganz gern neben ihr auf dem Sofa, sagte „please“ und knabberte englische Biskuits. Da war Fräulein Kleeberg, mit der braunen Warze auf dem Kinn, bei der er Luthers Kleinen Katechismus auswendig lernen sollte – aber immer vergaß er irgendeine Eigenschaft von Gott, und was der Heilige Geist war, konnte er gar nicht begreifen.

„Ist das die Frau vom lieben Gott?“ fragte er ratlos.

„Nein, Gott hat keine Frau“, erklärte Fräulein Kleeberg streng.

„Aber wie kann er dann einen Sohn haben?“

„Christi Mutter war doch Maria!“ meinte Fräulein Kleeberg vorwurfsvoll.

„Aber Marias Mann war doch Joseph und nicht der liebe Gott!“ Aurel zerbrach sich den Kopf.

„Ja, aber da kam der Heilige Geist zu Maria …“

Immer dieser Heilige Geist! Und was das schlimmste war: man mußte auch an ihn glauben; da stand es fettgedruckt: „Ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen …“

„Nein, an den Heiligen Geist glaube ich nicht!“ erklärte Aurel bestimmt.

„Dann bist Du ein Heide“, seufzte Fräulein Kleeberg bekümmert.

„Aber ich glaube doch an Gott!“

„Das ist zu wenig. Du mußt an alle drei glauben: Vater, Sohn und Heiligen Geist!“

Aurel mußte immer wieder die braune Warze auf ihrem Kinn betrachten: ein paar Härchen wuchsen darauf. Diese Warze quälte ihn ebenso wie der Heilige Geist; und ebenso wie der Heilige Geist war sie dunkel, unbegreiflich und völlig überflüssig.

Wieviel schöner waren die Stunden bei Herrn Bjelinski. Auch Herr Bjelinski sprach von Gott, aber dieser Gott war viel einfacher und leichter zu begreifen, da waren keine Geheimnisse und Rätsel. Gott war Mensch geworden, und jeder Mensch trägt ein kleines Stück von Gott in sich, das wachsen oder verderben kann, genau so, wie eine Blume wächst, wenn man sie begießt, oder verwelkt, wenn man sie vertrocknen läßt. Wir sollen das Göttliche in uns pflegen und zum Blühen bringen, das kann man aber nur, wenn man es von allem Staub und Schmutz rein hält, von allem Bösen, allen Sünden bewahrt. Wir sollen Gott, das Gute lieben und alles Schlechte in uns bekämpfen, damit wir immer mehr wie Gott werden. Und wie Christus für alle Menschen am Kreuz gestorben ist, so sollen die Menschen für Gott sterben, ihm alles opfern und ihm nachfolgen.

„Und warum mußte Christus für die Menschen sterben?“ fragte Aurel.

„Damit wir vom Bösen erlöst werden“, sagte Herr Bjelinski, und seine schwarzen Augen bekamen ein Leuchten.

„Ist Christus auch für mich gestorben?“ forschte Aurel.

„Ja, auch für dich“, sagte Herr Bjelinski eindringlich, „damit du von allem Schlechten erlöst wirst!“

Aurel überlegte: wenn er mit Boris heimlich in der alten Kleescheune die Pfeife rauchte – war das schlecht, war das Sünde? Ein wenig übel wurde ihm allerdings dabei, aber Boris meinte, daran müßte man sich gewöhnen. Auch er wurde grün im Gesicht, rauchte aber tapfer die Pfeife zu Ende. Und da konnte Aurel ihn doch nicht im Stich lassen. Außerdem war dieses Pfeiferauchen jetzt ihr einziges Geheimnis, seitdem sie auf dem überschwemmten Eis nicht mehr zur Höhle auf die Insel konnten. Und irgendein Geheimnis mußten sie doch haben.

Außer dem Heiligen Geist und Gottes Tod am Kreuz gab es noch viele Rätsel und unbegreifliche Dinge. Zum Beispiel: wie war man auf die Welt gekommen? „Der Storch ist natürlich ein albernes Märchen“, meinte Boris, und auch Aurel hatte nie richtig an ihn geglaubt. Aber irgendwie und irgendwoher muß man doch kommen – man kann doch nicht einfach plötzlich da sein!

„Bei den Kühen kommt das Kalb hinten am Schwanz heraus“, erklärte Boris, „ich habe es einmal ganz deutlich gesehen, allerdings nur den Kopf – dann wurde ich fortgeschickt. Und vorher war die Kuh sehr dick.“

„Aber bei den Menschen –“, warf Aurel mit leisem Zweifel ein, „die haben doch keinen Schwanz, und wie soll man da hinten …“

„Vielleicht ist es bei den Menschen anders“, meinte Boris nachdenklich, „hast du etwas bei der Jewa bemerkt?“

„Bei Jewa?“

„Ja, bei Jewa, die den Karel heiraten wird!“

Aurel grübelte. Dann sagte er:

„Aber die ist doch noch gar nicht verheiratet!“

Boris sog an der Pfeife und fuhr dann fort:

„Sicher wird sie aber ein Kind bekommen. Sie ist schon ganz so dick wie die Kuh. Besieh dir doch ihre Brust: immer mehr schwillt sie da oben auf. Und weißt du, was ich glaube: die Kinder kommen aus der Brust!“

Aurel nahm die Pfeife aus dem Munde. Ihm war sehr übel geworden, aber er wollte es nicht zeigen:

„Aus der Brust?“

„Ja, aus der Brust! Ein dicker Bauch ist nichts Besonderes – den haben die Männer auch und bekommen keine Kinder. Der dicke Igelströhm wird nie ein Kind bekommen. Aber eine dicke Brust haben nur Frauen!“

Aurel wurde es immer schlechter. Er führte die Pfeife nur noch an den Mund, ohne zu rauchen. Angestrengt dachte er nach. Dann sagte er:

„Und wenn die Kinder aus der Brust kommen – wie kommen sie dann vorher dort hinein?“

Auf diese Frage konnte auch Boris keinen Antwort geben. Als aber die Jungen ein paar Tage später beim Stall vorbeikamen, sahen sie etwas sehr Merkwürdiges, was zuerst komisch und dann furchtbar und beängstigend aussah: Juckum, der schwarze Hengst, stieg auf die braune Stute Maiga, und beide Pferdeleiber zitterten und bebten. Die Jungen standen erschrocken da und sprachen kein Wort. Dann gingen sie stumm ins Haus.

Mischka war wieder lange nicht gekommen; an einem Nachmittag machte sich Herr Bjelinski mit den Jungen auf den Weg nach Brjeschepur. Grauer Schneebrei lag noch in den Gräben und Furchen, aber die schwarzen Akkerkämme wölbten sich schon nackt in den wehenden Frühlingshimmel. Wir frisch gewaschen standen die Birken blank und weiß in der Sonne. Mischka und Herr Bjelinski setzten sich zum Schachspiel hin, und die Jungen trieben sich draußen herum. Aber das Fenster war offen, und als Aurel mit einem Stock von der Pfütze zum Graben einen Kanal grub – Boris suchte eine Schaufel –, hörte er ihre Stimmen.

„Nein, nein, das kann ich nicht!“ rief Mischka erregt. „Ich kann nicht kommen und dasitzen, als wäre nichts geschehen.“

„Sie müssen das nicht so tragisch nehmen“, versuchte Herr Bjelinski ihn zu beruhigen. „Was ist denn geschehen? Nichts! Diese Dinge sind doch nicht so wichtig!“

„Aber für mich sind sie wichtig!“ Mischka schrie beinah, man hörte ihn auf und ab gehen, und immer, wenn er am offenen Fenster vorbeikam, drangen ein paar Worte bis zu Aurel. „Sie darf nicht mit mir spielen … kein Hund, den man verprügelt und der dann bitte, bitte macht … aber es ist wohl auch besser so … sie hat ganz recht, nur hätte sie es mir früher sagen sollen … bald wird man mich ja doch wieder einsperren …“

Dann wurde das Fenster geschlossen. Als sie wieder nach Hause gingen, begleitete Mischka sie bis zum Birkenwäldchen; am alten, schiefen Werstpfosten blieb er stehen.

„Kommen Sie doch mit!“ bat Herr Bjelinski und hielt seine Hand.

„Nein, es geht wirklich nicht“, sagte Mischka, strich über die Köpfe der Jungen: „Ihr denkt doch manchmal an mich?“

Wie traurig seine Augen waren, und wie traurig er aussah, als er so allein am Grabenrand heimging. Der große Kopf lag ein wenig schief auf den Schultern, als wäre er zu schwer für diesen kleinen Körper.

Aurel grübelte angestrengt: wer hatte mit ihm gespielt? Wer wird ihn bald wieder einsperren? Warum kam er nicht mit? Es gab so viele Rätsel, so viele Geheimnisse: Jewa, die wirklich eine ganz dicke Brust bekam, Juckum und Maiga, der Heilige Geist und jetzt Mischka.

Und dann, einmal am Kapellenberg, als die Jungen dort in den Pfützen herumstocherten und Kanäle gruben, war Mischka plötzlich aus der Kirchhofspforte herausgekommen, ohne Hut, mit einem ganz weißen Gesicht.

„Kannst du mich ein Stück begleiten?“ fragte er Aurel. Und als sie beide um die Tannen gebogen waren, blieb Mischka stehen: „Kann ich mich auf dich verlassen, willst du mein kleiner Freund sein und niemand etwas davon sagen?“

Aurel nickte mit dem Kopf.

„Dann gib Isa diesen Brief, aber so, daß niemand es sieht! Versprichst du es mir?“

Aurel versprach es und steckte den Brief vorn in die blaue Matrosenbluse.

Wieder ein Geheimnis. Was mag in diesem Brief drin stehen? Aurel war stolz auf das Vertrauen, das Mischka ihm schenkte. Aber es war nicht leicht, den Brief Isa abzugeben: immer war jemand bei ihr. Überall lauerte er ihr auf, endlich erwischte er sie auf der Treppe. Sie machte ein sehr verdutztes Gesicht. Dann sprang sie lachend die Stufen hinunter. Aber bei Tisch blickte sie ihn so merkwürdig an, ganz ernst, beinahe traurig. Und zum ersten Mal sah Aurel, wie schön sie war – fast so schön wie Tante Madeleine.

„Komm“, sagte Isa kurz und leise, als sie aufstanden. Er folgte ihr mit klopfendem Herzen. Im Treppenflur blieb sie stehen, sah sich hastig um.

„Schnell“, flüsterte sie und öffnete die Tür zum Wintergarten. Wie warm und feucht war es hier. Der kleine Springbrunnen plätscherte. Isa setzte sich in einen Korbstuhl, zog den Jungen auf ihren Schoß – noch nie war sie ihm so nah gewesen –, sprach heftig, stoßweise auf ihn ein: „Lauf gleich zu Mischka, hörst du, gleich, sag ihm, daß er kommen soll, gleich kommen, hörst du, gleich! Daß ich ihn sprechen muß, unbedingt, verstehst du? Daß er sich irrt, daß ich niemals … Nein, sag ihm einfach: ich bitte um Verzeihung, hörst du? Nichts weiter: um Verzeihung; er darf nicht böse sein, er muß kommen, wenn er mich noch ein ganz klein wenig liebhat …“

Aurel hört und hört, aber nicht die abgerissenen Worte, die in so heftigen Stößen auf ihn eindringen, sondern viel tiefer etwas Dunkles, Heißes, Geheimnisvolles, das er nicht begreift.

„Sieh mich nicht so dumm an – hörst du mich überhaupt?“

Isa schüttelte seine Schultern.

Aurel nickte mit dem Kopf. Er konnte nicht sprechen.

„Dann lauf!“

Und er lief und lief. Bäume, Pfützen, der alte Werstpfosten flogen an ihm vorüber, Wind fegte ihm ins Gesicht, warmer, zärtlicher Wind, und im Herzen trug er ein großes Geheimnis: wie einen Brief, den er noch nicht öffnen, wie Worte, die er noch nicht verstehen konnte, die aber doch, verschlossen und dunkel, tief in ihm weiterbrannten.

„Um Verzeihung, und ich soll kommen?“ wiederholte Mischka und sprang vom Schaukelstuhl auf. „Marc Aurel, mein junger Freund, das hast du gut gemacht!“

Und dann kam er mit. Auf dem ganzen Weg sang er ein komisches Lied, fuchtelte mit den Armen und warf den großen Kopf in den Nacken:

Ich schieß’ den Hirsch im wilden Forst,

im tiefen Wald das Reh,

den Adler auf der Klippe Horst

die Enten auf dem See.

Kein Wild, das mir entgehen kann,

wo meine Büchse zielt!

Und dennoch hab’ ich starker Mann

die Liebe auch gefühlt!“

Mischka war wirklich ein wenig verrückt, und als sie später mit den Cousinen im Park herumtollten, schrie er plötzlich:

„Habt ihr eine Wasserleiche gesehen?“

Und er packte Maurissa und Warinka am Arm, rannte mit ihnen zum See, warf sich aufs Ufer und verzog sein Gesicht zu einer grauenhaften Fratze, daß die Mädchen schreiend davonliefen.

Mit Isa ging er ein Stückchen allein. Als sie zurückkamen, versuchte Mischka ein lustiges Gesicht zu machen. Aber seine Augen hinter den Brillengläsern blieben ernst und traurig.

Auch die Cousinen waren etwas verrückt: lachten, tuschelten miteinander, waren voller Geheimnisse. Und auch Boris und Aurel hatten ein neues Geheimnis: in der Kleescheune gruben sie tiefe Löcher und heimliche Gänge in das beste trockene Heu, einen richtigen Fuchsbau, in dem sie sich verkriechen und verstecken konnten. Aber Maurissa und Warinka stöberten sie dort auf, und nun buddelten sie alle vier im dürren, staubigen Klee – Haare, Augen, Ohren und Nase voll winziger, kitzliger Halme, daß man kaum atmen konnte; überall juckte und prickelte die Haut.

Im Fuchsbau drinnen war es ganz dunkel. Jeder bohrte und rupfte an einem anderen Loch. Plötzlich berührten sich zwei Hände: Warinka und Aurel waren von verschiedenen Seiten aufeinandergestoßen. Mit glühenden Wangen lag er da. Und Warinka lag dicht vor ihm. Heiß und keuchend wehte ihr Atem in sein Gesicht.

„Wir wollen ganz still sein“, flüsterte Warinka, „ob uns die andern finden?“

„Ja, ganz still“, flüsterte Aurel und rührte sich nicht. Er lag, das Kinn auf die Fäuste gepreßt, und starrte in die Finsternis. Aber er konnte Warinkas Gesicht nicht sehen. Das Heu knisterte, die dürren, harten Halme stichelten und stachen, der Kleestaub kratzte im Halse. Er mußte husten.

„Pst“, sagte Warinka; er fühlte ihre Finger auf den trockenen Lippen. Das Herz hämmerte. Er drückte das Gesicht in das Heu und glaubte zu erstikken. Wie süß und betäubend roch der getrocknete Klee.

Dann drangen die Stimmen der anderen zu ihnen, jemand zog Aurel an den Beinen, sie krochen hinaus ins Helle, hart wie eine Faust schlug das grelle Licht in die geblendeten Augen. Aber das quälende und lockende Geheimnis der Dunkelheit ließ ihn nicht mehr in Ruhe.

Überall geschahen rätselhafte Dinge: ein wütender Hahn raste hinter einer Henne her, riß sie zu Boden und trampelte mit gesträubten Federn auf ihren Rücken herum. Zwei Jagdhunde hingen wie angewachsen zusammen und konnten nicht auseinander. Krischjan, der Sohn des Viehpflegers, stand daneben. „Hundehochzeit!“ sagte er und grinste.

Die Luft war warm und prickelnd, an den Grabenrändern kamen schon winzige grüne Gräser heraus, der Bach im Park rauschte.

Aber dann, in einer Nacht schlug der Wind um. Eisiger, trockener Oststurm kam aus der sibirischen Tundra, fegte über die endlosen Krüppelkiefer-Moore und ließ noch einmal Erde und Wasser erstarren. Der See fror zu, und die schon aufgeweichten Wege wurden steinhart.

„Steifdreck“, lachte Onkel Arnold, der auf seiner Bretterdroschke angerattert kam, um Birkhähne zu schießen. „Dagegen gibt’s nur ein Mittel: drei Schnäpse vor der Fahrt, bei jedem Werstpfosten wieder einen Schnaps, und drei Schnäpse, wenn man angekommen ist! Sonst wird man zu Tode gerüttelt! Aber bei dieser Kälte werden die Biester ja gar nicht balzen!“

„Was ist balzen?“ fragte Aurel.

„Balzen?“ Onkel Arnold lachte über das ganze Gesicht. „Das habt ihr wohl noch nicht bei Herrn Bjelinski gelernt! Balzen – das ist so eine Frühlingskrankheit, ein Liebesrappel, wenn die Hähne miteinander kämpfen!“

„Und warum kämpfen sie?“

„Weil jeder eine Henne haben will! Bei den Menschen ist es nicht viel anders! Nun, Karel –“, wandte er sich an den Diener, der den Koffer hereintrug, „wann geht denn bei dir die Balz los?“

„Zu Ostern, Großherr, zu Ostern – das ist für alte Hähne immer die beste Zeit!“ schmunzelte Karel.

„Na, na, Karel“ – Onkel Arnold klopfte ihm auf die Schulter, „manche Hähne balzen auch schon im Herbst!“ Dann lachte er schallend.

Jewas Brust wurde immer dicker und dicker. Ob wirklich das Kind da herauskam? Aber warum hatte Mademoiselle neulich, als sie mit Tante Madeleine über Jewa sprach, immer „Quelle honte! Quelle honte!“ gesagt? Boris hatte es ganz deutlich gehört. Die Jungen rauchten wieder ihre Pfeifen und zerbrachen sich darüber die Köpfe. Warum ist es eine Schande, wenn man dick wird und ein Kind bekommt?

„Vielleicht weil sie noch nicht verheiratet sind“, meinte Boris.

Aurel zog und zog – es wollte nicht brennen. Dann kratzte der Rauch im Halse, er mußte husten:

„Aber zu Ostern heiraten sie doch!“

Boris spuckte aus:

„Und wenn Jewa vorher das Kind bekommt? Ich glaube, sie muß bald platzen!“

Aurel wurde es übel:

„Aber Mademoiselle wird sicher nie ein Kind kriegen“, erklärte er düster, „die ist viel zu dünn dazu!“

Und dann, an einem Sonntagnachmittag – Aurel grübelte gerade über einem Brief, den er der Mutter schreiben wollte, aber es fiel ihm nichts ein –, kam Boris aufgeregt ins Zimmer gestürzt und rief atemlos:

„Ich weiß es!“

„Was denn“, sagte Aurel und sah vom Briefbogen auf.

„Das Geheimnis! Das mit Jewa!“

In diesem Augenblick trat Fräulein Kleeberg ins Zimmer, um nach den Jungen zu sehen. Herr Bjelinski war zu Mischka gegangen.

„Komm! Wir gehen noch etwas hinaus!“ erklärte Boris.

Aurel stand auf.

„Zieht euch aber warm an“, rief ihnen Fräulein Kleeberg ängstlich nach, „es ist sehr windig!“

„Unsinn!“ sagte Boris. „Komm schnell, wir laufen zur Scheune!“

Aber die Scheune war am Sonntag verschlossen. Ein eisiger Wind rüttelte an der Brettertür, die in den Angeln klapperte.

„Komm!“ rief Boris, und wieder rannte er voran, die braune Samtmütze schief auf dem Kopf, die Jacke flatterte im Winde. Und Aurel lief hinter ihm her. Jetzt endlich sollte er das große Geheimnis erfahren.

Im Park hockte sich Boris an einen Baumstamm, und Aurel kauerte sich neben ihn hin.

„Weißt du“, keuchte Boris atemlos, „Krischjan hat mir alles erzählt. Karel und Jewa …“

Aber dann stockte er, sah sich ängstlich nach allen Seiten um und sprang auf: „Komm!“

Und wieder rannten sie auf dem vereisten Weg über die schmale Bretterbrücke, die über den Bach führte, durch das kahle Ellerngestrüpp zum See. Gelblich-grün, blank und glattgefegt lag die Eisfläche da, das Schmelzwasser war gefroren.

„Zur Höhle!“ rief Boris, und schon schlitterte er über das Eis, und Aurel folgte ihm.

Ja, die Höhle, die war der richtige Ort für das große Geheimnis: dort war man in Sicherheit, dort konnte niemand hinkommen, dort war man auch geschützt vor diesem eisigen Wind. Aurel steckte die Fäuste in die Taschen, es war so kalt und glatt, er konnte nicht so schnell laufen. Boris war schon fast an der Insel.

Da plötzlich knackte etwas, und gleich darauf knackte das Eis: Boris stand bis zu den Schultern im Wasser. Aurel konnte nicht näher kommen – überall fing es an zu knacken. Boris arbeitete sich durch das Schilf bis zur Insel durch und kroch aufs Ufer. Aber er war quatschnaß und konnte nicht zurück.

„Hol Leute!“ schrie er von der Insel herüber.

Aurel rannte, was er konnte, aber es dauerte noch einige Zeit, bis Jekab, der Kutscher und der Gärtner herbeigeeilt kamen, und noch länger, bis sie Boris auf quergelegten Stangen und Brettern aufs feste Eis herüberschafften. Der Junge war schon ganz erfroren und klapperte mit den Zähnen. Die nasse Jacke war zu Eis erstarrt. Nur die braune Samtmütze war trocken geblieben und hing schief ins bläulich bebende Gesicht.

Tante Madeleine und Onkel Nicolas waren im Pastorat und kamen erst spät nach Hause. Auch Herr Bjelinski kehrte erst nach dem Abendessen von Mischka zurück. Lim und Fräulein Kleeberg hatten Boris ins Bett gesteckt, ihn warm eingepackt und ihm heißen Himbeertee gegeben.

Am nächsten Morgen kam Doktor Spalwing. Boris wurde in Tante Madeleines Schlafzimmer neben den Saal getragen. Aurel hatte allein bei Herrn Bjelinski Stunden. Nach dem Mittag lief er auf dem Hof herum. Wie öde und langweilig war alles geworden. Er sah von weitem Krischjan, der beim Viehstall lungerte, kehrte aber schnell um und lief in den Park. Krischjan wußte es also, Krischjan hatte es Boris gesagt. Aber von Krischjan wollte er es nicht erfahren.

Der Bach gluckerte zwischen Steingeröll und Eisstücken; an einer Stelle lief er unter dem Eis, und weiße Luftblasen schwammen über dem dunklen Wasser. Ganz schnell rannten sie bis zum Strudel, wo der Bach wieder ins Freie trat, und waren verschwunden. Aber immer neue weiße Luftblasen kamen im Zickzack angerannt, manchmal hielt sich eine fest, tanzte ein wenig hin und her, aber dann wurde sie von der Strömung fortgerissen.

Aurel ging ins Haus. Alles war so merkwürdig still. Lim lief aufgeregt durch den Saal. Ihr Pferdegesicht war noch länglicher, noch weißer als sonst. Irgendwo flüsterte Fräulein Kleeberg mit Mademoiselle. Als Aurel vorbeiging, verstummten sie und sahen ihn so sonderbar an. Maurissa und Warinka saßen im Petit-Salon bei Miß Mabel und lasen englisch. Tante Madeleine war unsichtbar. Sie kam auch nicht zum Abendessen. Bei Tisch sprach fast niemand ein Wort. Dann öffnete Karel plötzlich die Tür und sagte: „Der Doktor!“

Onkel Nicolas stand schnell auf. Er warf die Serviette auf den Tisch, aber sie fiel auf den Fußboden. Am nächsten Tag war es noch schlimmer. Die Stunden krochen und nahmen überhaupt kein Ende. Aurel sollte ein Extemporale schreiben, aber ihm fielen auch die einfachsten lateinischen Worte nicht ein. Herr Bjelinski ging im Zimmer auf und ab. Dann und wann blieb er am Fenster stehen und zupfte an seinem schwarzen Fransenbart. Plötzlich klopfte es, Jekab steckte den Kopf zur Tür herein, Herr Bjelinski möchte gleich herunterkommen.

Aurel saß allein da und starrte auf das weiße Papier. Er steckte die Feder ins Tintenfaß, aber die Feder wollte nicht schreiben. Er grübelte und grübelte, die lateinischen Worte tanzten durcheinander – panis, piscis, crinis, finis, ignis, lapis, pulvis, cinis … – – dann sah er wieder die dicke Jewa, hörte Onkel Arnolds schallendes Lachen: „Manche Hähne balzen schon im Herbst!“ Sah, wie Juckum auf Maiga gestiegen war … ante, apud, ad, adversus … Und dann wanderten die Augen wieder zum Fenster zu den Bäumen auf dem Kapellenberg, die so kahl und schwarz gegen den grauen Himmel standen.

Als Herr Bjelinski wiederkam, war sein Gesicht so weiß wie die Kalkwand.

„Wir haben heute keine Stunde mehr“, sagte er tonlos. „Aber wir wollen für Boris beten. Es geht ihm schlecht, sehr schlecht. Lungenentzündung mit hohem Fieber. Aber noch können wir hoffen, bei Gott ist nichts unmöglich. Er kann auch ein Wunder vollbringen. Wenn wir nur fest an ihn glauben. Es kommt auf unseren Glauben an, der Glaube kann Berge versetzen: das ist keine Redensart, das ist wirklich und wörtlich so. Wenn wir den Glauben hätten, wie Christus ihn gehabt hat, könnten wir auch Wunder tun. Beten ist nicht betteln: gib uns dies, gib uns das, mach Boris wieder gesund. Beten ist: Dein Wille geschehe, nicht meiner – dein Wille. Wenn wir beten, müssen wir in Gott hineinwachsen, so von Gott und Gottes Willen erfüllt sein, daß wir nur noch wie ein Stück von ihm sind; wir müssen nicht nur uns selbst, sondern auch jeden anderen Gedanken vergessen!“

Dann kniete Herr Bjelinski auf dem Fußboden hin, legte die Arme auf den Stuhl und vergrub sein Gesicht in den Händen. Und Aurel kniete neben ihm, vor dem anderen Stuhl, faltete die Hände und sprach leise die Worte nach, die Herr Bjelinski sagte: „Vater unser, der du bist im Himmel!“ Zum Schluß betete er noch lange wortlos, Aurel hörte nur ein Flüstern und Stöhnen. Eine furchtbare Angst überkam ihn: jetzt durfte er an nichts anderes denken als an Gott und Boris, alles, alles kam darauf an, daß er nicht schwach wurde, nicht abließ, daß er ganz, ganz fest an Gott glaubte.

Aber gerade, wie er das dachte, schoß es plötzlich durch seinen Kopf: wenn Boris stirbt, dann werde ich nie das Geheimnis erfahren … und schon sah er wieder die dicke Jewa, die Pferde, den Hahn – er bohrte die Nägel ins Fleisch, biß sich in den Daumen, aber wie verzweifelt er sich auch wehrte, die quälenden Bilder kamen immer wieder und gaben ihm keine Ruhe. Er konnte nicht richtig beten – sein Glaube war zu schwach.

Als Herr Bjelinski endlich den Kopf hob – wie seine schwarzen Augen im weißen Gesicht leuchteten –, mußte Aurel zu Boden blicken. Den ganzen Tag drückte er sich mit schlechtem Gewissen herum, konnte niemand ansehen, mit niemand sprechen.

Draußen war es nicht besser. Er ging zur Kleescheune, die Tür war offen. Er verkroch sich ins Heu und versuchte zu beten. Aber nichts half: gerade weil er diese furchtbare Angst vor dem anderen hatte, mußte er immer wieder daran denken. Er schloß die Augen, grub den Kopf in den dürren, harten Klee, der ihn ins Gesicht stach – und plötzlich fühlte er ganz nah wie damals Warinkas Atem, ihre Finger an seinem Munde …

Als Aurel nach Hause ging, war es dunkel. In allen Fenstern brannte schon Licht. Er stieg die Steinstufen hinauf. Im Treppenflur blieb er stehen. Durch die offenen Türen tönte Musik. Er schlich durch den Blauen Salon und trat in den Saal.

Tante Madeleine saß am Flügel und spielte. Aurel konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur ihren schmalen Rücken und die Hände, die ruhelos hin und her glitten. Und hinter ihr die Tür zum Schlafzimmer war geschlossen.

Lim, Fräulein Kleeberg, Mademoiselle, Miß Mabel, Herr Bjelinski und die Cousinen saßen hier und dort verstreut im weiten Saal. Aurel setzte sich still in eine Ecke.

Noch nie hatte er solche Musik gehört: es war ein dunkles Strömen und Rauschen ohne Melodie, ein wogendes Meer ohne Ufer. Irgend etwas öffnete sich ihm, und plötzlich fühlte er: jetzt konnte er beten.

Aber gerade, wie er heimlich unter dem Tisch die Hände faltete, ging die Flügeltür auf. Onkel Nicolas stand in der dunklen Öffnung. Sein Gesicht war weiß und zerstört.

Die Töne brachen jäh ab. Tante Madeleine sprang auf.

Dann schloß sich die Flügeltür.

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