Kitabı oku: «Kennen wir uns?», sayfa 3

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Nur schwer kehrte Jenny gedanklich zurück in die Realität im Krankenhausbett. Einerseits war sie erleichtert, ihr Gedächtnis voll erinnerungsfähig zu erleben, doch brachten die Bilder des Unfalls sie andererseits in erneute, tiefe Trauer. Jenny weinte still in sich hinein. Als Schwester Mona nach einiger Zeit das Zimmer betrat und das grelle Neonlicht anschaltete, hielt Jenny die Luft an und stellte sich schlafend.

„Hab hier das Abendessen, Frau Hilgers. Guten Appetit“, flötete die Pflegerin fröhlich. Dann verließ sie umgehend und geräuschvoll das Zimmer. Ohne das servierte Essen auch nur anzuschauen, drehte sich Jenny auf die andere Seite. Der Gips erschwerte die Bewegung und riss an ihrem Bein. Mit dem Gefühl fliehen zu wollen, aber von einer sich am Bein festklammernden Person zurückgehalten zu werden, schlief sie entkräftet ein.

4

Die folgenden Tage ihres Krankenhausaufenthaltes brachten etwas Ruhe. Jenny war oft in sich gekehrt, aber genoss die Zwangspause, die ihr der Unfall gebracht hatte. Insgeheim war sie sogar dankbar, versorgt zu werden und nicht mit der Wohnung und den anstehenden Problemen konfrontiert zu sein. Die Einzelversorgung, die ihr die private Krankenversicherung bescherte, empfand sie als Geschenk. Die meiste Zeit hatte sie ihre Ruhe, musste keine aufgesetzten Gespräche mit irgendwelchen neugierigen Mitpatienten führen und fühlte sich dennoch behütet und nicht allein. Als jedoch die Ärzte über ihre baldige Entlassung diskutierten, konnte Jenny sich der Realität nicht mehr entziehen. Erneut legte sich eine schwere Trauer auf ihren Brustkorb. Diese hielt bis zum Tag ihrer Entlassung und brachte ihr einige unruhige Nächte, in denen immer wieder Bruchstücke des Unfalls oder des skurrilen Hochzeitstraums in ihre Gedanken schossen.

Am Tag der Entlassung übte Jenny wieder einmal mit den Unterarmgehstützen das längere Laufen. Langsam humpelte sie den Gang der neurochirurgischen Station entlang. Der sperrige Gips, der auch die Bewegung im Kniegelenk einschränkte, machte ein unverkrampftes Laufen fast unmöglich. Schon nach einigen Minuten unsicheren Staksens auf drei Beinen schmerzten die bis dahin kerngesunden Arme und Schultern dermaßen, dass Jenny die Unzufriedenheit über ihre Ungeschicklichkeit vergaß und mit zusammengebissenen Zähnen die letzten Meter zurück zum rettenden Bett stolperte. Aufgrund der mittlerweile dreiwöchigen Zwangsruhe waren ihre Muskeln so geschwächt, dass ihre eigentliche Fitness, die sie sich durch wöchentliches Yogatraining erworben hatte, bereits gelitten hatte. Jenny meinte zumindest, eigentlich in körperlich gut trainiertem Zustand zu sein. Die Schuld an den jetzigen Muskelschmerzen und dem unbefriedigenden Muskelzittern bei längerer Nutzung der Krücken lag auf jeden Fall nicht in fehlender Übung begründet. Vielleicht waren die Stützen falsch eingestellt oder die Medikamente, die sie, eigentlich eher vorbeugend, gegen die Kopfschmerzen einnahm, schwächten ihren Körper.

Mit ihren Eltern hatte Jenny in der Zeit ihres Krankenhausaufenthaltes dreimal telefoniert. Erfreulicherweise waren sie zwei Tage nach ihrem Erscheinen auf der Intensivstation in einen zweiwöchigen, lang geplanten Teneriffa-Urlaub aufgebrochen. So fielen die Gespräche recht überschaubar aus und Jenny konnte ihrer besorgten Mutter glaubhaft versichern, wohlauf zu sein. Weitere unangenehme Fragen, zum Beispiel zu ihrer Trennung von Nick, blieben ihr erspart. Bald aber würde die Schonfrist abgelaufen sein, und mit Schrecken erwartete sie die Ankunft ihrer Eltern, die sie nach der Klinikentlassung zu ihrer Wohnung in Dortmund fahren wollten.

In den vergangenen drei Wochen hatte sie nur wenig Besuch bekommen. Thea, die quasi auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle am Klinikum vorbeikam, schaute noch einmal mit ihrer Tochter Klara vorbei, die sich als Erste und Einzige auf dem Gipsbein verewigen wollte. Da es eine willkommene Ablenkung darstellte, während Thea mit Jenny plauderte, bemalte Klara das gesamte Gipsbein mit einer bunten Blumenwiese. Natürlich nur von vorne, was bei aufrechtem Gang einen lustigen Anblick schuf. Markus, Jennys älterer Bruder, der eigentlich immer zeitlich ausgebucht war, erkundigte sich immerhin zweimal telefonisch nach Jennys Zustand. Jens, das Nesthäkchen der Familie, schickte eine SMS mit angehängtem Genesungsgruß. Von den Kollegen erreichte sie eine nette Karte, auf der fast alle unterschrieben hatten. Ihr Chef Marius hatte die Karte selbst gestaltet und eines seiner schönen Blumenfotos als Motiv gewählt. Vielleicht war das der Grund, warum Jenny sich so gut mit ihm verstand und somit oft dem Neid der anderen Kolleginnen ausgesetzt war. Beide schossen leidenschaftlich gerne Naturfotos. Jenny liebte es, mit ihrer guten Spiegelreflexkamera ausgestattet, Ausflüge in die Natur und gepflegte Parks zu machen. Ihre Leidenschaft hatte im Garten ihres Vaters begonnen, als sie zu ihrem vierzehnten Geburtstag eine Kamera, damals noch mit Filmrolle, geschenkt bekam. Minutenlang hatte sie, still im Sommerblumenbeet ihres Elternhauses stehend, auf Insekten gewartet, die auf einer Dahlie Essenspause einlegen wollten.

In diesem Moment hörte sie die Stimme ihrer Mutter durch die geöffnete Tür ihres Krankenzimmers, wo sie eine ganze Weile in Gedanken auf ihrem Bett gesessen hatte. Ihre Schultern und Arme schienen wieder entspannt. So schlimm stand es also doch nicht um ihre allgemeine muskuläre Verfassung. Frau Hilgers Stimme, die ihren Mann aufforderte, nicht so zu trödeln, folgte nun der Körper. In zaghafter Haltung blieb Frau Hilgers in der Tür stehen.

Besorgt blickte sie auf ihre veränderte Tochter. Mit einem grauen Schlabberpuli und einer aufgeschnittenen Jogginghose bekleidet, saß Jenny zusammengesunken, ohne zuvor ihre Haare mit einer Bürste konfrontiert zu haben, auf dem ungemachten Bett.

„Kind!“, klagte Frau Hilgers. „So kannst du doch unmöglich auf die Straße.“

Mit nun energischeren Schritten bewegte sie sich auf Jenny zu, die wie zur feindlichen Abwehr die Stützen vor sich aufstellte.

„Guten Morgen, Mama“, brachte sie nach einem tiefen Atemzug hervor. „Vielen Dank, dass ihr mich abholt.“

Herr Hilgers, der langsam seiner Frau nachgefolgt war, trat an seine Tochter heran und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Jenny lächelte dankbar und nickte ihrem Vater zu. Etwas schwerfällig erhob sie sich und deutete mit der rechten Stütze auf den Kleiderschrank. „Papa, könntest du bitte meine Tasche aus dem Schrank holen?“, bat sie. Ihre Mutter reagierte sofort und öffnete den Schrank, griff sich, gequält atmend, die Tasche und wetterte: „Puh, sind da Steine drin?“ Mit einem gut vernehmlichen Plumpsen ließ sie die Tasche wieder aus ihren Händen gleiten und wies ihren Mann stimmlich entkräftet an: „Harald, die ist einfach zu schwer. Jenny, was hast du da alles drin?“

Jenny ersparte sich die Antwort, obwohl sie innerlich kochte. Jetzt konnte sie nichts mehr ändern. Auch wenn sie sich schämte, als 37-Jährige wie ein Kindergartenkind von den besorgten Eltern abgeholt zu werden, war sie froh, dass überhaupt eine ihr nahestehende Person zu ihrem Transport nach Dortmund bereit war. Ihr Auto befand sich in Einzelteilen auf irgendeinem Schrottplatz Münsters und mit dem Gipsbein, das beim Laufen an Krücken knapp über den Boden schrammte, war an eine Überführung mit öffentlichen Verkehrsmitteln auch nicht zu denken. Ohne weitere Anweisungen verließ Jenny, ihre Muskelschwäche in den Oberarmen verfluchend, das Zimmer. Kurz besann sie sich, dass diese geschützte Zeit der vergangenen drei Wochen ein Geschenk gewesen war. Wehleidig verließ sie den Hochsicherheitstrakt, den sie nach dem begangenen Gewaltverbrechen an ihr bezogen hatte. Gefolgt vom Packesel und königlicher Schuldzuweisung. Insgeheim verachtete sie ihre Situation und die Rolle, die ihre Eltern spielten. Ihr Vater: herzlich, aber nichtssagend. Ihre Mutter: herrschend, aber voller Unsicherheiten. Nachdem sich der Tross im Schwesternzimmer den Entlassungsbrief abgeholt hatte, verließ Familie Hilgers schweigend die Station.

Auch auf der Rückfahrt fehlten zunächst die Worte und man lauschte dem Radiosender mit klassischer Musik. Nach etwa zwanzig Kilometern zurückgelegter Autobahnstrecke fand Frau Hilgers als Erste zurück zur verbalen Kommunikation. Als hätte sie die letzte halbe Stunde an einer perfekten Formulierung gefeilt, sprudelte es aus ihr heraus: „Hast du eigentlich auch mal an uns gedacht?“ Aus dem Augenwinkel konnte Jenny verfolgen, wie Frau Hilgers sich mit einem Taschentuch die Wangen abtrocknete. Jenny blickte stur aus dem Seitenfenster und ließ die Sträucher an der Autobahnböschung im Millimetertakt an sich vorbeihuschen. Weil ihre Tochter ihre Frage unbeantwortet ließ, klagte Frau Hilgers weiter. „Nick war so ein netter Mann und wir haben doch schon so viel für die Hochzeit geplant.“ Nach einer kurzen Pause, in der die beiden anderen Unheil ahnend die Luft anhielten, krönte sie ihre Anklage mit den Worten: „Und dann auch noch ein Totalschaden.“ Triefend vor Selbstmitleid schnäuzte Frau Hilgers geräuschvoll in ihr Taschentuch und setzte damit den Schlusspunkt ihrer emotionalen Rede. Mit dem Totalschaden war das Auto gemeint, doch fraß sich dieser verbale Hieb bis zum nur noch flach schlagenden Herz der eigentlich Geschädigten. Die Tränen, die in den letzten Tagen still in sie hineingeflossen waren, brachen mit einem Mal aus ihr heraus. Jenny verlor jegliche Fassung und schrie, der Ohnmacht nahe: „Meinst du, dass ich mir das alles ausgesucht habe?“

Herrn Hilgers, der bisher bemüht gewesen war, dem Straßenverkehr Aufmerksamkeit zu zollen, entglitt ebenso sämtliche Diplomatie. Mit drohender Stimme donnerte er: „Nicht in diesem Ton! Sonst könnt ihr beide aussteigen, ist das klar?“ Das zustimmende verschüchterte Schweigen der Frauen bestätigte ihm, dass seine Worte Wirkung zeigten. Schnaufend lehnte Herr Hilgers seinen Kopf zurück an die Lehne und drehte demonstrativ die Radiolautstärke hoch. Alle lauschten erstarrt den Ansagen der Moderatorin, die soeben die Zwölf-Uhr- Nachrichten verlas.

Wie froh war Jenny, als sie, nach weiteren gesprächslosen Minuten bis zur Ankunft in Dortmund und nach (wieder freundlicherer) Begleitung bis zu ihrer Wohnung in der ersten Etage, endlich die Tür hinter ihren Eltern schließen konnte. Den Angriff ihrer Mutter auf ihr Gewissen hatte sie mit letzter Kraft abgewehrt. Ihr Körper suchte Halt an der Haustür, die ihr Schutz vor weiteren Attacken ihrer Umwelt gegen sie gab. Doch war es, als lehne sie am Gittertor des Käfigs eines hungrigen Tigers. Und zwar von innen. Sie stand inmitten des Scherbenhaufens ihres einst erfolgreichen Lebens. Und die Gefahr, dass sie von der Ursache der Zerstörung erschlagen würde, war noch nicht gebannt. In jeder Ecke der Wohnung konnte das Übel lauern. Entmutigt stellte sie die Unterarmgehstützen zur Seite und testete, ob das Absetzen des Gipsbeins Schmerzen bereitete. Aber der Bruch verhielt sich ruhig. Sowieso schien dieses Problem eins von wenigen zu sein, das sich von selbst löste. An neue anstehende Herausforderungen wagte sie nicht zu denken. Sicherlich würde zum Beispiel eine fehlende Klopapierrolle, nach erfolgreicher Sitzung auf der Gästetoilette ihrer Altbauwohnung, ihr völlig die Fassung nehmen. Erschlafft sank sie zu Boden und kam mit dem Kopf auf der Tasche mit dem tonnenschweren Inhalt zum Liegen. Nichts mehr tun. Einfach abwarten. Atmen und nichts. Das war das Einzige, was jetzt noch möglich war.

Das Läuten ihres Festnetztelefons weckte sie aus dem Sparmodus. Nach dem dritten Klingeln versuchte Jenny wie ein sieben Monate alter Säugling zu der einen Meter entfernten Aufladestation zu robben, doch erreichte ihr ausgestreckter Arm das Telefon nicht, das hoch oben auf einem antiken Beistelltisch stand. So musste sie mit anhören, wie der Anrufbeantworter ihre Aufgabe übernahm und Nicks fröhliche Stimme ertönte: „Wenn zwei sich streiten, freut sich der Anrufbeantworter. Leider konnten Jenny Hilgers und Nick Töllner sich nicht einigen. Also, sprich doch bitte mit dem AB. Danke!“

Das war eindeutig mehr als fehlendes Toilettenpapier. Jennys Kopf fiel auf den Parkettfußboden des Wohnungsflurs und selbst durch die vor ihre Ohren gepressten Hände vernahm sie die Stimme der anrufenden Person.

„Hi, Jenny, hier ist Marla. Wenn es dir irgendwie möglich ist, lass uns bitte mal sprechen. Es belastet mich alles sehr.“ Dann war es endlich still. Mit rasendem Puls robbte Jenny zur Telefondose und riss mit zerstörerischer Wut den Stecker aus der Wand. Wie von Tollwut befallen, schmiss sie sich auf dem Fußboden wild hin und her und kam mit einem dumpfen Knall am Rahmen der Wohnzimmertür zum Liegen. Von Weinkrämpfen geschüttelt, flehte sie: „Lasst mich doch einfach alle in Ruhe!“

Irgendwie musste Jenny es geschafft haben, sich trotz des sperrigen Gipsbeins in ihr Schlafzimmer zu schleppen, denn gegen Abend wachte sie, noch angezogen, in ihrem Bett auf. Ihre Beine schmerzten und nur langsam kam ihr Kreislauf in Gang. Ein Blick zur Seite zeigte ihr, dass Nick seine Bettdecke nicht mit zu Marla genommen hatte. Auch sonst schien im Schlafzimmer der geräumigen Wohnung nichts verändert. Allerdings waren auch nur noch die Umrisse der Möbel zu erkennen, da es bereits dämmerte. Wie es wohl in den Schränken aussehen mochte? Ob Nick schon all seine Sachen ausgeräumt hatte? Vielleicht herrschte in den von Nick genutzten Schränken gähnende Leere und die ganze schöne Wohneinrichtung war löchrig.

Jenny dachte an die Yogaübungen, die ihr in Stressphasen so oft zu Ausgeglichenheit verholfen hatten. Die Anspannung des Kopfes versuchte sie über den „Saure-Zitrone-Gesichtsausdruck“ zu lösen, doch wurde alles nur noch schlimmer. Nach der Anspannung sämtlicher mimischer Muskeln schmerzten das ganze Gesicht und der Kopf noch dazu. Etwas nützlicher machte sich das nasale Brummen, das selbst die Matratze leicht vibrieren ließ. Gleichmäßig mit der Atembewegung wiederholte Jenny diesen meditativen Ton etliche Male. Bis sie wirklich darüber einschlief.

Mitten in der Nacht schreckte sie plötzlich aus dem Schlaf auf und war sofort in Unruhe. Zunächst benötigte sie eine Weile, um sich zu orientieren, doch dann zog es sie aus dem Bett. Jenny knipste die Nachttischlampe an und blickte sich mit zusammengekniffenen Augen im Zimmer um. Wie ferngesteuert stand sie auf und wankte ohne Stützen, die noch im großen Flur an der Wohnungstür standen, zum Kleiderschrank auf der anderen Bettseite. Mechanisch öffnete sie die erste Schranktür und blickte ausdruckslos auf kleiderlose Bügel. Nicks Schrank war wirklich leer und auch im zweiten Schrank sah es nicht viel anders aus. Auf dem Boden standen noch zwei Kisten, auf denen einige Schuhpaare von Jenny lagerten. Jenny verließ das Schlafzimmer und erreichte über den kleinen Zwischenflur das gegenüberliegende Bad. Die Lampe über dem Waschbecken flackerte auf und Jenny erkannte auch hier den unmissverständlichen Auszug ihres Verlobten. Der Verlust dieser intimen Gegenstände wie Bademantel oder Zahnbürste schmerzte besonders. Machte die Nähe zu Rasierer und Co doch die Vertrautheit einer Beziehung deutlich. Nun standen all diese Dinge in Marlas Bad.

Während im Bad Licht brannte und die Kleiderschränke offen standen, betrat Jenny erstaunlich leichtfüßig die große Küche der 85-qm2-Wohnung. Der bei Tag lichtdurchflutete Raum mit rustikalem Holzfußboden war Jennys Lieblingszimmer. Zwei hohe Fenster und eine Tür führten auf den zum Hinterhof gelegenen Balkon, der mit Säulen und zwei Bögen gesäumt war. Jennys kleine Oase, die im Sommer südländisches Flair in die eher triste Großstadtatmosphäre des Häuserblocks brachte. In diesem Moment erschrak sie über die Dunkelheit, die sich hinter den Scheiben ausbreitete. Die Deckenbeleuchtung erzeugte ein grelles Licht und ihre sonst so wohnliche Küche zeigte ihr die kalte Schulter. Alles war anders, ausdruckslos und gespenstisch. Der Kaffeevollautomat, der sonst neben der Spüle an der Balkontür gestanden hatte, war weg. Als ambitionierte Teetrinkerin machte sie sich nicht viel aus dem Kult um den frisch gemahlenen Koffeindrink, doch fehlte ihr schon jetzt der unromantische Lärm, den die Maschine beim Zerkleinern der fettigen Kaffeebohnen produzierte. Auch mochte sie den Duft, der sich oftmals durch Flur und Wohnzimmer bis hin zu ihrem Arbeitsplatz, an dem sie Klassenarbeiten korrigierte oder Schulstunden vorbereitete, ausgebreitet hatte. Alle Sinne waren dann beruhigt, denn sie wusste, sie war nicht allein. Auch wenn natürlich die Möglichkeit bestand, dass Einbrecher in der Zeit ihrer Abwesenheit der Maschine habhaft geworden waren, so vermutete Jenny doch eher, dass Nick sich zwar von ihr, niemals aber von dem Vollautomaten trennen würde.

Im Kühlschrank befanden sich nur noch wenige Lebensmittel. Eine abgelaufene Milchpackung, vier verschrumpelte Möhren, ein angetrocknetes Stück Gouda mittelalt, drei angefangene Marmeladengläser und eine Flasche Weißwein. Dafür lohnte es sich nicht, morgens aufzustehen. Jetzt jedoch stand Jenny der Sinn nach einem kühlen Glas Wein. Genau das Richtige, um sich den Verlust des Kaffeevollautomaten schönzudenken. Mit einem erfrischenden „Plop“ befreite Jenny den Korken aus dem engen Flaschenhals. Das Glucksen der hellgelben Flüssigkeit beim Verlassen des gläsernen Gefäßes zauberte Jenny ein Lächeln auf die zuvor erstarrten Lippen und der erste Schluck des deutschen Rieslings übergoss den Abgang wie Honig. Schon bei der ersten Berührung mit dem alkoholischen Getränk fühlte sich Jenny wie betrunken. Vielleicht war das auch nur einer der pfiffigen Tricks ihres Körpers.

Wie damals, als sie als etwa Neunjährige etwas an den Kopf bekommen hatte. Es hatte sich zunächst wie ein rohes Ei angefühlt, denn eine zähe Flüssigkeit war ihr die Stirn hinuntergeronnen. Als jedoch ihre Freundin, mit der sie auf einer Wiese hinterm Grundstück ihres Elternhauses gespielt hatte, mit weit aufgerissenen Augen vor ihr stand, ahnte sie, dass sie besorgniserregend aussehen musste. Ein frecher Nachbarsjunge hatte aus Witz einen Stein in ihre Richtung geworfen, der ein Loch in Jennys Stirn geschlagen hatte. Aus diesem Loch sprudelte fröhlich hellrotes Blut. Einen Schmerz hatte Jenny erst verspürt, als sie im Krankenhaus mit einem Desinfektionsmittel behandelt worden war.

Genauso war es vielleicht mit ihrem Herzschmerz. Der dachte gar nicht daran wehzutun, sondern tat so, als befände er sich mitten im karnevalistischen Köln. „Ein Prost auf schmerzlose Herzbeschwerden!“, rief Jenny in die Stille der steril ausgeleuchteten Küche und leerte das Glas ohne abzusetzen. So erging es auch den folgenden Glasfüllungen, bis selbst nach kräftigem Schütteln kein Tropfen mehr aus der Weinflasche zu holen war. Kurz kam ihr die Idee, ein Selfie mit ihrem Handy zu schießen, um Nick, Marla und ihren Eltern (und wer sonst noch so auf ihre Verfassung pfiff) eine eindrückliche Nachricht zu schicken, doch der Aufwand, sich auf die Suche nach ihrem Telefon zu machen, erschien ihr zu groß. Mit stark beeinträchtigtem Gleichgewichtssinn verließ sie entspannt grinsend die Küche und torkelte bis zum Bett, in das sie sich mit weit geöffneten Armen bäuchlings fallen ließ. „Wie gefallen so die Qualen“, waren ihre letzten Gedanken, als sie in einen unruhigen Schlaf fiel. In ihren Träumen der nur noch kurzen Nacht stürzte sie ohne Unterlass: in einen Haufen Kleiderbügel; in das Mahlwerk eines Kaffeevollautomaten; in den engen Flaschenhals einer mit Blut gefüllten Weinflasche.

5

Es war bereits elf Uhr am Samstagmorgen, als sie aufwachte. Alle Glieder schmerzten und nach dem Toilettengang nahm Jenny zunächst eine Kopfschmerztablette ein. Um den Anweisungen der Ärzte Folge zu leisten, holte sie sich die Krücken aus dem Flur. Zwar verspürte sie keine Schmerzen, wenn sie das Bein ohne Stützen belastete, aber bis zum ersten Besuch bei einem niedergelassenen Arzt hatte man ihr in Münster absolute Schonung verordnet. Im Flur fiel ihr Blick durch die geöffnete Wohnzimmertür. Alles wirkte normal und zarte Freude meldete sich, als sie die schöne schwarze Ledergarnitur vor den hohen Erkerfenstern sah. Die Fenster zeigten in Richtung Straße. Die Platanen, deren Blätterpracht im Sommer den Blick auf die gegenüberliegenden Häuser verdeckte, wirkten am Ende des Herbstes krank. Die Rinde löste sich großflächig ab und die Stämme sahen aus, als wären sie von einem großen Pilz befallen. Jenny liebte ihre Wohnung und es überfiel sie eine Angst, dass sie ohne Nicks weitere Unterstützung vielleicht gezwungen war, umzuziehen. Mit Tränen in den Augen betrat sie das Wohnzimmer und musste feststellen, dass Nick das großformatige Bild, das Marla ihm zum letzten Geburtstag gemalt hatte, mitgenommen hatte. Das gegenstandslose Ölgemälde hatte auch Jennys Geschmack entsprochen und so bekam es einen exponierten Platz neben dem Großbildschirm auf sonst leerer weißer Wand. Nun guckte Jenny förmlich in die Röhre und die Wand wirkte leblos und kalt. Sie fühlte sich plötzlich wie ein Fremdkörper, vor dem man schnell alles retten und unbemerkt fliehen musste. Nicht ein Wort hatte Jenny seit ihrem Unfall von Nick gehört. Ihr ganzes Leben war von einer auf die andere Minute ruiniert worden. Und der Verursacher machte sich aus dem Staub. Wie ein Dieb, der zu feige war, dem Geschädigten in die Augen zu schauen. Ob Nick wohl an ihr Grab gekommen wäre, wenn der Airbag sich nicht schützend vor Jennys Körper geblasen hätte? Sicherlich wäre er froh gewesen, eine Last weniger zu haben.

Jenny betrat durch die zweitürige Glasverbindung den ans Wohnzimmer grenzenden Raum, in dem vor dem Fenster ihr Schreibtisch stand. Wegen ihrer beruflichen Tätigkeit als Grundschullehrerin mit Schwerpunkt Deutsch, Kunst und Gestalten waren die Regale, die den Raum rundum ausfüllten, mit Büchern, CDs, Kunstobjekten und Bastelmaterial bestückt. Auf ihrem Schreibtisch herrschte immer ein gewisses kreatives Chaos. Auf dem schwarzen Bürostuhl entdeckte sie einen DIN-A4-Zettel, der Nicks Handschrift trug. Hektisch, beinahe über die Gehstützen stolpernd, bewegte sie sich zum Stuhl und nahm den Zettel mit zittrigen Händen auf. Tagelang hatte sie sich so sehr nach einem kleinen Zeichen von Nick gesehnt, insgeheim gehofft, er könne seine Entscheidung doch noch rückgängig machen und voller Reue zu ihr zurückkehren.

Aus der Küche hörte sie ihr Handy klingeln. Kurz überlegte sie, ob sie dem Ruf folgen sollte, aber sie entschied sich dagegen. Mit den Krücken wäre sie sowieso zu schwerfällig gewesen und bis zu ihrem Eintreffen in der Küche hätte der Anrufer schon die Geduld verloren. So richtete Jenny ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Brief, den Nick am 26. November 2012, also vor fünf Tagen, an sie geschrieben hatte.

Liebe Jenny, schrieb er. Jenny machte ein Saure-Zitronen-Gesicht und murmelte: „Darauf hättest du auch gerne verzichten können.“

Nick schrieb weiter:

In dieser Situation die richtigen Worte zu finden, fällt mir schwer. Ich habe meine Sachen gepackt und wohne nun bei Marla. Das weißt du. Du weißt auch, dass Marla und ich ein Kind erwarten. Ich glaube zu ahnen, wie schrecklich das für dich sein muss. Wo du unsere anstehende Hochzeit schon ins kleinste Detail durchgeplant hast. Hier liegt ein Grund für meine klare und sichere Entscheidung. In der Zeit der Hochzeitsplanung wurde mir immer mehr bewusst, wie sehr wir uns auseinanderentwickelt haben. Mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen und Selbstverständlichkeiten. Ich habe mich zu wenig mit meinen Ideen eingebracht und dich machen lassen. In gewisser Weise habe ich aber auch resigniert, da in deiner Argumentation deine Beweggründe immer die richtigen waren. Natürlich kann ich kein Kind von dir erzwingen, aber es war mir immer ein großes Bedürfnis. Ich möchte die Trennung auf keinen Fall allein an dem Unterschied im Kinderwunsch festmachen. Ich möchte mich nicht mehr rechtfertigen für meine Interessen, möchte einfach mal Spaß haben am Leben. Ich möchte nicht immer deinem Ideal nachhinken. In dir sehe ich eine große Unzufriedenheit. Daran kann ich nichts ändern. Ich bin wie ich bin. Vielleicht macht dich jemand anderes zufrieden. Es ist wirklich scheiße (dafür gibt es kein treffenderes Wort), dass ich mich gerade in deine beste Freundin verliebt habe und auch Marla fällt das alles nicht leicht.

Jenny konnte die Buchstaben kaum noch erkennen, so viele Tränen sammelten sich vor ihren Augen. Sie wischte sich einmal kräftig mit dem Handrücken durch das Gesicht und las weiter.

Aber so wenig wie sich Liebe kaufen lässt, lässt sie sich leiten oder einsperren. Lange habe ich meine Gefühle für Marla unterdrückt. Bereits zu dieser Zeit habe ich dir damit keinen Gefallen getan. Ich wollte mit dir alt werden, ja. Aber auch glücklich. Ich bin mir sicher, dass wir beides nicht geschafft hätten. So hoffe ich nun, dass wir irgendwie zu einer Aussprache kommen und unsere Beziehung nicht ganz zerbricht. Ich lasse dich und verstehe, wenn du mich verachtest. Aber ich wünsche mir, du könntest mir verzeihen. Die Wohnung werde ich zunächst weiter mitfinanzieren. Bis du für dich weißt, wie es für dich weitergeht. Ich werde mich bei dir melden, zur Klärung weiterer Fragen und weil du mir nicht egal bist.

Nick

Jenny spürte, wie jegliche Energie aus ihrem Körper wich. Der ganze Hass, den sie in den vergangenen Wochen gegen Nick und Marla aufgebaut hatte, schien in sich zusammenzubrechen. Jenny ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen und krümmte sich. Ungehemmt weinte sie alle Scherben ihrer zerbrochenen Welt aus sich heraus. In einem Moment überkam sie unendliche Scham; im nächsten tiefes Selbstmitleid; einen Augenblick später schäumte sie vor Wut. Wann würde dieser Horrortrip endlich aufhören? Tiefer konnte sie nun doch wirklich nicht mehr fallen.

Das aufdringliche Plärren der Türschelle ließ Jenny aus ihrer Versunkenheit aufschrecken. Unmöglich konnte sie in ihrem Zustand irgendeinen Besuch empfangen. Jenny hoffte, dass es sich nur um den Briefträger gehandelt haben möge. Doch nach einigen tiefen Atemzügen, in denen Jenny bemüht war, ihr gebeugtes Rückgrat aufzurichten, klingelte es erneut. Trotz ihrer verquollenen Augen setzte sie sich in Bewegung, um dem hartnäckigen, ungebetenen Gast die Wohnungstür zu öffnen. Mochte ihre Lage auch noch so trostlos sein. Die Vorstellung, regungslos in der Wohnung zu sitzen, während vor der Tür eine Person um Einlass bat, machte ihr Angst. An sie gestellte Erwartungen konnte sie ganz schlecht unbearbeitet lassen. Zunächst blickte sie durch den Türspion und erkannte ihren Obermieter im Treppenhaus stehen. Sie schätze Herrn Oberheim auf etwa 80 Jahre. Jenny pflegte wenig Kontakt zu ihm und grüßte ihn stets freundlich, wenn sie ihn im Treppenhaus oder auf der Straße traf. Zu Nick hatte er einen guten Draht, da beide, Nick als Architekt und August Oberheim als ausgedienter Bauingenieur, die gleiche Vorliebe für Brückenbau besaßen. Sie führten dann ausdauernde Diskussionen über die sicherste Statik oder berichteten sich von persönlichen Erfahrungen mit schwierigen Konstruktionen. Jenny verstand nicht viel davon und es interessierte sie auch nicht sonderlich.

Jenny öffnete die Tür einen Spaltbreit und war bemüht, im dunklen Flur der Wohnung zu bleiben. Herr Oberheim begrüßte Jenny höflich und erklärte sein Anliegen: „Ihre Eltern haben mich gebeten, während Ihres Krankenhausaufenthaltes nach der Post und der Zeitung zu schauen.“ Er machte eine kurze Pause, reichte ihr einen üppigen Papierstapel und fügte aufmunternd lächelnd hinzu: „Ich bin eigentlich immer zu Hause. Wenn Sie mich brauchen, scheuen Sie sich nicht zu schellen.“ Jenny hatte bisher kein Wort gesprochen. Um die Zeitungen entgegenzunehmen, musste sie wider Willen in den helleren Hausflur treten. Sie senkte den Blick und hoffte, ihr alter Nachbar sähe nichts von ihrer desolaten Verfassung. Es war ihr sehr unangenehm, in diesem Zustand unter Leute zu treten. Da sie annahm, dass seine Sehkraft ähnlich gemindert war wie seine Hörfähigkeit (wenn Herr Oberheim Fernsehen schaute, konnte Jenny an ihrem Schreibtisch sitzend jedes Wort der Natur- oder Geschichtsdokumentationen verstehen), schenkte sie ihm doch einen kurzen Blick. Herr Oberheim schaute besorgt und bekräftigte sein Hilfsangebot eindringlich mit den Worten: „Es tut mir aufrichtig leid. Wenn ich etwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich bitte wissen.“

Jenny wollte sich schnellstens dem Anflug von Vertrautheit entziehen. Etwas barsch bedankte sie sich, zog sich in die Dunkelheit ihres Wohnungsflures zurück und schloss zügig die Tür. Zwar war ihr die nette Geste von Herrn Oberheim bewusst – er hatte ja nur seinen Auftrag der Postübermittlung erfüllt. Aber warum konnte man sie nicht einfach in Ruhe lassen? Mit dem Zeitungshaufen unterm Arm humpelte sie umständlich in die Küche. Dabei machten sich einige Werbeprospekte selbstständig und verteilten sich auf dem Küchenboden. „Verdammter Mist“, fluchte Jenny und schmiss den übrig gebliebenen Rest auf den Küchentisch. Gerade setzte sie an, die Stützen aus den Händen zu legen, um sich niederzulassen, da schellte es erneut. „Das kann doch jetzt nicht wahr sein“, stöhnte sie.

„Ihr könnt mich alle mal!“

Jenny bewegte sich fluchend zurück zum Wohnungseingang und wutschnaubend, ohne zunächst durch den Türspion zu blicken, öffnete sie die Tür. Ihr erster Impuls war es, die Wohnungstür sofort wieder ins Schloss zu schmeißen, doch hatten ihre Gefühle nicht alle Anstandsnerven außer Gefecht gesetzt. Mit einem aufgesetzt gut gelaunten Gesicht begrüßte sie ihre Eltern, die, nach einem ausgiebigen Einkauf mit Tüten und Taschen bepackt, die Treppenstufen bis zur Wohnung der Tochter erklommen hatten. Jenny wusste, dass eine Katastrophe bevorstand, aber sie konnte sie nicht verhindern. Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Dingen ihren Lauf zu lassen und ihren Eltern Einlass zu gewähren.

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