Kitabı oku: «Der Froschkönig», sayfa 2
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1954–1957
In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hatte, hatte Herr Meister einmal mit schmutzigen Fingern und blauem fleckigem Überkleid im Büro gestanden, und das Fräulein am Schreibtisch hatte ihm einen kurzen, überraschten Moment zugelächelt. Dem Herrn Meister hatten die Worte gefehlt. Plötzlich schienen ihm seine Arme zu lang. Sie hingen ungelenk an ihm hinunter wie lange, schwere Ranken, die seine Schultern rund machten und hinunterzogen. Was sollte
er mit seinen Armen tun, mit den Händen. Sie müssten sich bewegen, gestikulieren, sprechen. Verlegen steckte er sie in die Hosentaschen und verlagerte das Gewicht ein wenig. Nun stand er schräg. So war ihm besser.
Da lächelten beide mit ausweichenden Blicken eine Weile still in die Stille hinein. Und erst als Herr Meister seinen Blick aus lauter Verlegenheit aus dem Fenster in die Weite schweifen ließ, weil da eine Bewegung war, der Milchwagen fuhr vorbei, obwohl die Milch doch lange überall geliefert worden hätte sein müssen und man sich fragen konnte, was der Milchmann denn in der Zwischenzeit noch anderes unternommen hatte, als Milch geliefert zu haben, oder aber, ob denn hier plötzlich derart viele Menschen wohnten, dass der Milchmann so lange für die ganzen Auslieferungen brauchte, hob er den Kopf. All diese Gedanken und Ausführungen traute sich Herr Meister dann doch nicht laut zu äußern. Und so stand nun das Fräulein, das sich unterdessen wenige Schritte vorwärts gewagt hatte, schon vor dem jungen Herrn Meister, als wäre sie die schöne Helene, mit einem Zettel in der Hand. Denn auch sie hatte nach Worten und Notizen gesucht, ein Schreiben, eine Nachricht für den Herrn Meister müsste doch zu finden sein. Richtig, da war noch dieser Anruf gewesen. Und da hatte sie ihn auch schon gefunden, den Zettel, die Telefonnotiz in Steno: der Citroën des Herrn Graffenried.
Nun hob sie die Stimme, ihre Wangen verfärbten sich in eine feine Röte, ob er denn schon wieder fahrtüchtig, ob er, Herr Meister, ihn hinkriege, eine größere Fahrt stehe nämlich an, am Freitag wolle er los, der Herr Graffenried, er müsse ins nahe Ausland.
Alles nach Plan, sagte Herr Meister nun zur schönen Helene, und dabei überzog ein kleiner Glanz seine hohe Stirn. Dann aber fehlten wieder die Worte, und auch das Bürofräulein schwieg erneut. Draußen traten die Angestellten auf die Straße und machten sich auf den Heimweg. Gleich war Mittagspause.
Wie aber war das anzustellen, wie waren weitere Worte und Gesten zu finden? Wie konnte man eine Liebe, und das war es doch, eine Liebe, ein Blick, ein Lichtblick, wie konnte man einsteigen in die Liebe? Die Liebe. Wie konnte man es sonst nennen, so hieß doch dieser Moment, durch den er nun gehen musste. Wie konnte Herr Meister also eine Liebe beginnen?
Eine zögerliche Geste war da. Ja, schon. Aber das Zögern dauerte nur einen kurzen Moment, eine Unsicherheit, unwegsames Gelände. Wie sollte er da langgehen, wenn er sich nicht auskannte, wie sollte er das bewerkstelligen, wenn er doch nicht wusste, wie es ging? Welche Stimme anschlagen, welche Tonlage? Wie sollte er weitere Worte finden, ganze Sätze, eine Sprache, mit der von Liebe zu sprechen war? Von weiteren Treffen, von Verabredungen, außerhalb der Arbeitszeit.
In seinem Buch stand eine andere Sprache. Da standen allerlei Berechnungen, im Speziellen und im Allgemeinen. Hochrechnungen, was die Mobilität anging. Da kannte er sich aus. Diese würde wachsen, das wusste Herr Meister, das Bedürfnis nach Fortbewegung. Eines Tages würden alle ein Auto wollen, nicht nur Direktoren und Vertreter. Die Straßen müssten verbreitert werden, das Verkehrsnetz vergrößert. Der Stadtboden wird knapp werden. Zunächst würden mehr Motorräder gefahren werden. Doch dann werden sich auch die Motorradfahrer einen Wagen zulegen, für den Sonntag, für eine Ausfahrt, die Ausfahrt mit der Familie. Die Gattin vorne neben dem Gatten und die Kinder hinten auf dem Rücksitz, in gemütlichem Tempo über Land. Die Gattin neben dem Gatten, die Kinder auf dem Rücksitz. Herr Meister musste sich räuspern bei dieser Vorstellung. Und sofort und umgehend setzte er sich gerade hin. Da musste aufrecht und ordentlich gesessen werden, wenn die Gattin nebenan und auch die Kinder.
Doch Herr Meister wusste, dass das noch nicht alles war, dass sich hier noch viel mehr abzeichnete. Und da war etwas in seinem Bauch. Zuerst dachte er, es sind die Bauchschmerzen wegen der Ernährung, zu viele Kartoffeln und sonst nichts. Doch diesmal war es etwas anderes. Es war ein Brummen in ihm, ein Grollen, als würde etwas angeworfen, ein Motor oder nein, etwas viel Größeres, ein Kraftwerk, ein ganzes Kraftwerk dröhnte in ihm.
Die Technik entwickelt sich mächtig, sagte er laut und hob das Kinn. Zunächst wird es eine Erleichterung geben. Er wollte es hinschreiben, irgendwo hinschreiben, denn dieses Dröhnen in ihm machte ihn ganz schwindlig. Er wollte doch nach der Liebe sehen, und jetzt war er wieder bei der Technik. Seine Hände zitterten, und er wollte dieses Zittern aus seinem Körper lassen. Von seiner gewölbten Stirn leuchteten die Gedanken.
Der Strombedarf wächst, dachte er, das war unübersehbar, und die neue Energie wird die altbewährten Ressourcen entlasten. Die Atomspaltung. Nun schrieb er doch, in zittriger Schrift, vor lauter Aufregung. Die Wildwasserreserven werden nicht ewig halten. Und wieder schwindelte ihm ein wenig. Er würde seiner zukünftigen Gattin eine Waschmaschine und einen Kühlschrank kaufen. Die Technik muss der Frau dienen. Das Mittagsmahl. Im Wohnzimmer würde man danach den Kaffee trinken. Am Sonntag richtigen Kaffee. Man würde sich auf das Sofa setzen. Die Gattin würde Fröhlichkeit verströmen, eine Oase des Glücks. Sie würde ihr Haar gekämmt haben und ein strahlendes Lächeln aufsetzen. Später würden die Kinder dazukommen. Zur Gattin. Die Gattin. Herr Meister sprach das Wort nun laut vor sich hin.
Leben besteht prinzipiell aus einer Spannungsdifferenz, niemals auf neutralisierter Spannung, schrieb er.
Es schien ihm, als würden ihre beiden Körper wie lange Sumpfpflanzen im Wind wiegen. Oben waren es weite, wiegende Bewegungen, und unten stolperten die Füße. Sie trippelten, mal da mal dort. Seine Schuhe waren spitz. Er konnte diese Spitze nicht füllen, ein paar Zentimeter hohl, die Spitze war zu lang. Er versuchte, die Lücke zu finden. Er musste doch auftreten können. Mit seinen Beinen stieß er an ihre Beine. Diese Beine aber waren klein und warm. Auch sie zappelten ungelenk, doch es waren die Beine einer Frau, das war eindeutig. Im ganzen Gewimmel zappelten diese Beine doch weicher, geschmeidiger. Herr Meister versuchte, sich auf die Musik zu konzentrieren, doch es gelang ihm nicht. Er konnte keine Musik erkennen. Da war Wärme zwischen ihnen. Thermische Energie. Genau genommen handelte es sich hier um die Energie der ungeordneten Bewegung der atomaren und molekularen Bestandteile der Materie. Herr Meister wollte ruhig stehen, aber das ging jetzt nicht. Sein Körper bewegte sich ganz von allein. Auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißtropfen. Wärmeabfuhr. Hitze stieg auf, die beiden Körper bewegten sich hin und her, die Wärme flatterte zwischen ihnen wie ein wilder Vogel, der mit seinen Flügeln schlug. Er sah das Lachen der Frau, und auch sein Mund ging in die Breite, die Augen falteten sich in tausend Strahlen, das Gesicht der Frau leuchtete wie die Sonne. Lachend drückte sie ihr Gesicht an den schaukelnden Oberkörper des Herrn Meister, und endlich, endlich hörte er die Musik, endlich konnte er sich nun an eine Melodie halten, einen Rhythmus, und, auch wenn die Füße noch immer stotternd auf den hölzernen Tanzboden klopften, so gab es nun doch eine Form, einen Schottisch, das war wohl ein Schottisch, und Herr Meister wusste nun, er tanzte hier mit der schönen Helene.
Da saß er, Herr Meister, am großen Pult, den Bleistift hinters Ohr geklemmt, aufrecht, so aufrecht wie möglich, vor sich Papiere, Dokumente, Ordner. In den rissigen Händen saß noch der Dreck. Er ging die Liste durch. Der Citroën am Freitag, der Volkswagen, Ölwechsel noch heute, den Ford Taunus des Herrn Fellenberg kontrollieren.
Herr Meister schaute auf seine Unterarme. Behaart und braun gebrannt. Er rollte die Ärmel des zerknitterten Hemdes vor. Er wollte die Termine nachtragen. Und was war mit dem Renault Dauphine? Er hätte jetzt gerne eine Brille getragen, die er hätte hochschieben können. Herr Meister rutschte hin und her. Er rutschte auf diesem Sessel hin und her, der ihm viel zu klein schien. Wohin sollte er mit den Beinen, und wenn er so aufrecht saß, den Bleistift hinterm Ohr fasste und auf der Liste Termine und Haken eintrug, schien ihm dieses Pult so tief. Kaum zu lesen, viel zu klein waren diese Autonamen, Vermerke und Daten. Und was sollte er als Nächstes tun? Wenn der Herr Direktor zurück war, musste er à jour sein, die persönlichen Kundentelefonate erledigt, den Lehrbub unterwiesen, die Mechaniker instruiert haben, der Borgward musste überholt worden sein, der Borgward des Herrn von Büren. Er musste das persönlich, er musste den Leuten auf die Finger schauen. Aber die Telefonate, die Kunden, wenn der Herr Direktor auf Reisen, und die Briefe. Der Überblick, er musste den Überblick behalten. Und ordentlich sein. Eins nach dem andern, das musste in eine Ordnung kommen, eins nach dem andern und sauber. Er zog die Unterschriftenmappe zu sich. Er war es, der unterschreiben durfte, jetzt, wo der Direktor auf Reisen, und die Aufträge mussten heute noch raus, die Rechnungen. Er zog den Deckel vom Füller, hielt ihn in der Luft, er zögerte, er legte den Füller nochmals hin. Er betrachtete seine Hände, da war Dreck, zu viel Dreck an seinen Fingern. Er zog ein weißes Taschentuch aus der Hose und wischte sich die Finger ab. Das Taschentuch war nun fleckig. Er betrachtete seine Hände, noch immer schmutzig. Herr Meister erhob sich. Im Flur war das Waschbecken. Er wusch sich die Hände, seifte sie ein. Brauner Schaum rann den Abfluss hinunter. Erneut nahm er Seife, ließ das kalte Wasser über die Hände laufen, rieb die Hände, bis das Wasser klar blieb. Dann trocknete er die Hände mit dem Stofftuch, das an der Wand hing. Er warf einen Blick in den kleinen, trüben Spiegel über dem Waschbecken. Sein Gesicht war etwas gerötet, die Haare zerzaust, der Blick stechend. Herr Meister versuchte zu lächeln. Mit der Hand strich er das Haar glatt. Dann ging er mit schwingenden Schritten zurück ins Büro, setzte sich erneut an das Pult, nahm den Füller, zog den Deckel ab, legte ihn neben den Brief. Er zog ein Fließpapier aus der Schublade rechts und legte es unter das Papier, sodass er seine Hand darauf ablegen konnte. Er nahm den Füller. Die Unterschrift musste präzise sein, ordentlich, aber doch mit Schwung, selbstverständlich, elegant, der Name lesbar. Man sollte sehen, es war der Herr Meister, der hier unterschrieben hatte. Vorsichtig setzte er die Spitze des Füllers auf das Papier. Er schrieb in fließender Bewegung seinen Namen: Reinhold Meister. Dann stand er auf, er wollte nach dem Lehrbub schauen.
Er stützte sich an eine Hausmauer und schnappte nach Luft. Eine Zukunft wählen. Den Eltern die Verheiratung eröffnen. Das Abendtechnikum. Er spürte ein Ziehen bis in die Fingerspitzen. Das Leben angehen. Doch hier stand keiner still, hier bewegte man sich. Herr Meister schielte auf die Seite.
Da gingen sie, die Herren, auf der Straße, auf dem Trottoir. Es ging vorwärts. Man bewegte sich im Leben, da war kein Halten und Einkehren. Was sollte hier einer stehen bleiben? Stehen und schauen tat man in der Natur. Am Sonntag. Dann schaute man ins Grün und gönnte dem Auge Erholung. Doch am Werktag, hier in der Stadt, hier ging man. Herr Meister scharrte mit dem Schuh. Wo wollten denn alle hin? Mit diesem aufrechten Gang, diesen festen Schritten, mit diesen blank geputzten Schuhen. In den Anzügen. Das stumme Nicken, das Ziehen des Herrenhuts. Und die Damen, sie waren hergerichtet, die Röcke standen ab, auch sie grüßten, als gäbe es was zu feiern.
Herr Meister löste sich von der Mauer. Auch er wollte gehen. Auch er wollte grüßen und den Hut ziehen, wenigstens nicken, denn einen Hut trug er nicht. Er versuchte, das Tempo aufzunehmen, mitzugehen, in diesem Aufwind, einen sicheren Gang anzuschlagen. Seine Beine schienen ihm wie die Beine eines Storchs. Ungelenk knickten sie ein. Er stakste und rang mit dem Gleichgewicht. Schlenkernd warf er die langen Beine vor sich her. Ein wackliger Gang. Die Arme schlingerten wie schief gewachsene Flügel. Es war ihm unmöglich, sich regelmäßig zu bewegen, seinen großen, schlaksigen Körper in einen geordneten Bewegungsablauf zu führen. Der Schwerpunkt in seinem Körper sprang wie ein Gummiball hin und her. Noch musste er den Blick abwenden, wenn eine Dame passierte, wenn einer den Hut lüftete. Er achtete auf die Geräusche der Straße. Ab und zu ein Auto, das vorbeirauschte, vorbeipreschte, rollend, das Knirschen der Reifen, der Abrieb auf dem unebenen Belag. Kiesel, die wegspritzten, brüchiges Gestein. Heulende Motoren, schwungvoll gefahrene quietschende Kurven und immer wieder knatternde Motorräder. Manchmal die holpernde Straßenbahn. Ein kurzes Bimmeln, auf- und abspringende Menschen, surrende Gleise. Das Klingeln der Fahrradfahrer.
Da plötzlich spürte Herr Meister, wie das Gewicht in ihm sich senkte, wie die Beine sich aufrichteten, sich stark machten und seine Füße sich am Boden verankerten. Sein Rücken wuchs, er streckte sich. Die Schultern gingen in die Breite und die Schulterblätter rutschten auf den Rücken, als wären es die Flügel eines Falken, der gleich abheben wollte. Der Nacken wuchs ihm aus der Wirbelsäule, und sein Kopf reckte sich vor. Mit diesem Kopf nickte er. Er nickte den andern zu, den anderen Herren. Die Damen ließ er noch aus.
Er setzte das Lächeln eines Gehenden auf, eines Fortschreitenden, und auch wenn seine Schuhe noch Löcher in den Sohlen hatten, auch wenn er noch die alten, gestopften Socken trug, Hosen, die seine Mutter mehrmals geflickt hatte, so ging er nun doch allmählich den Gang eines Passanten, eines passierenden Herrn. Er konnte es spüren, er merkte es am Geräusch. Auch seine Schritte machten nun ein regelmäßiges Geräusch, ein gleichmäßiges leichtes Klopfen, wenn die Sohle auf den Asphalt traf.
Es war eine Musik, in die sein Körper nun einstimmte, eine Melodie des Fortschreitens und des Fortschritts. Herr Meister ging nun mit in diese Richtung, er war Teil dieser Herrenbewegung. Plötzlich fiel es ihm leicht, das Kinn zu heben. Er blinzelte in die Sonne. Die gewölbte Stirn hatte den Ausdruck größter Ernsthaftigkeit.
Herr Meister dachte jetzt an die Sonnenenergie. Die Erde erhält von der Sonne pro Zeiteinheit 50000 Mal mehr Energie, als wir im gleichen Zeitraum verbrauchen. Diese Energie müsste sich nutzen lassen. Jetzt blitzte etwas auf in seinem Blick. Einen kurzen Moment lang war er ein Fuchs. Er blinzelte, er lächelte. Nun fiel sein Blick auf die hoch gehängten Schilder neu eröffneter Unternehmen und Firmen. Ingenieurbüros. Elektrohandel. Garagen. Dann schritt Herr Meister mit, und der Wind blies in sein Haar. Herr Meister schritt in der Zeit.
Herr Meister schaute zu Boden. Seine Schuhe waren frisch poliert. Jetzt glänzten sie im Sonnenlicht.
Als er bei der schönen Helene Hof gehalten hatte, hatte sie den Blick gesenkt und still gelächelt. Dann hatte sie genickt. Noch roch die Jacke des Herrn Meister nach Benzin, auch wenn er kaum noch selber Hand anlegte, der Geruch lag in der Luft. Auch das Kleid des Fräuleins musste über Nacht gelüftet werden.
Herr Meister war keine schlechte Partie. Aus einer Beamtenfamilie stammend, in geordneten Verhältnissen aufgewachsen, feste Anstellung in einer aufstrebenden Branche. Die Verheiratung würde eine Veränderung bringen. Umsiedlung in eine andere Stadt. Die kaufmännische Angestellte würde Hausfrau werden, der Angestellte würde abends zur Schule gehen. Er würde dranbleiben, mit dem Fortschritt gehen. Er würde auf der Höhe der Zeit bleiben. Er würde die Entwicklung verfolgen. Er würde sich in den neusten Technologien auskennen.
Herr Meister fuhr sich durchs dunkle Haar, das schräg vom Kopf abstand, und schaute in die Landschaft, in der das Glockenläuten von den grünen Hügeln zurückschallte. Frau, Kind, Familie. Vielleicht ein Auto. Vielleicht ein eigenes Heim.
Er fasste seine Verlobte bei der Hand, schritt die Treppenstufe zur Kirche hoch und machte sie zur Gattin.
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Dienstag, 22. April 2014, vormittags
Leo hatte die Turnschuhe angezogen. Die hochhackigen Schuhe steckte sie in den Rucksack, dann rief sie kurz die Projektleiterin an und bestätigte den Termin.
Ja, das Treffen mit dem Investor morgen Nachmittag sei gut, dann wisse sie mehr über die Altlasten, am Morgen sei der Termin mit den Fachleuten für die Bodensanierung.
Die Projektleiterin lachte am Telefon. Achtung, der Investor sehe gut aus.
Leo lachte zurück und steckte das Telefon ein. Sie atmete hoch in die Schultern und ließ die Luft mit einem Seufzer ausströmen. Dann rannte sie die Treppe hinunter. Sie suchte ihren Briefkasten. Nr. 17. Werbung. Aktionsfleisch. All-inclusive-Urlaub. Regenbekleidung und weitere Outdoor-Specials.
Heute wollte sie sich das Areal vor Ort anschauen. Leo ging ein Stück, dann stieg sie in die Straßenbahn. Der Wagen war halb leer, die Leute schon bei der Arbeit. Sie setzte sich auf einen Einzelplatz und schaute zum Fenster hinaus. Die Bahn ruckelte durch die Taunusstraße, die Berliner Straße, die Mainstraße. Die Körper kippten etwas vor, wenn die Bahn abbremste, und etwas zurück, wenn sie zum Stillstand kam.
Leo stieg aus. Sie musste noch ein kleines Stück gehen bis zur Brücke. Hier lang ging keiner. Der Gehsteig war schmal. Die Autos stoben an ihr vorbei. Bei der Brücke angekommen, machte sie ein paar Fotos. In der Mitte blieb sie stehen und schaute übers Geländer.
Das Flussbecken war breit. Schlick und Geröll. In der Mitte lag ein schmaler Streifen seichtes Wasser. Am Ufer lagerte Unrat. Zerdrückte PET-Flaschen, ein paar Plastiktüten, ein zerschlissenes Fahrrad. Leo ging zum Ende der Brücke und versuchte, zum Flussufer zu gelangen. Sie stieg über Äste, sie rutschte. Sie drückte allerlei Gestrüpp zur Seite, doch es war unmöglich, durchzukommen. Das Gelände war zu steil. Leo ging zurück und schaute zum anderen Ende. Auch dort versperrte dichtes Gebüsch den Zugang. Da entdeckte sie im Schilf einen Fischreiher. Regungslos stand er da. Sein Blick war ihr zugewandt. Leo konnte sein Auge sehen. Er blinzelte.
Fischreiher sind Feinde der Frösche, dachte sie.
Hey, rief sie. Du!
Das Tier reagierte nicht.
Hau ab! Du!, schrie sie und schaute sich nach einem Wurfgegenstand um.
Der Fischreiher stand da wie eine Statue. Hinter ihr schossen die Autos vorbei.
Einen Moment lang wartete sie noch, dann zuckte sie mit den Schultern.
Dann bleib halt, sagte sie und ging weiter.
Nach der Brücke wurde der Gehweg etwas breiter. Der Asphalt war aufgeschlagen. Leo ging über Kiesel und Sand. Am Wegrand ragten braune, dürre Pflanzen auf.
Von weitem schon sah sie das Plakat. Grüner wohnen. Die drei Hochhäuser standen in einer lockeren Gruppe einander zugewandt, etwas abseits der Schnellstraße. Bald wurde es belebter, eine Shoppingmall, ein Parkhaus, eine Autowaschanlage. Leo näherte sich der Siedlung. Sie wurde renoviert. Rasterfassaden. Einfache Balkone. Eher große Fenster. Die Siedlung stammte aus den sechziger Jahren. Einfach verglast, kein Wärmeschutz.
Leo machte ein paar Fotos, ging dann aber an der Baustelle vorbei. Das Industrieareal lag noch ein Stück weiter draußen. An der Bushaltestelle wartete ein alter Mann. Er stand gebückt und rauchte. Leo widerstand dem Reflex, ihn zu fotografieren.
Nach etwa fünfhundert Metern überquerte sie die Gleise und betrat endlich das Fabrikengelände. Sie zog das Telefon aus der Jackentasche, um weitere Bilder zu machen. Ein Stück gefaltetes Papier fiel zu Boden. Die Grafik zu den Neuzuzügern. Die Balken wuchsen. Tendenz steigend. Leo las die Signatur in der Ecke des Papiers: April 2014 / Paul Braun.
Sie versuchte, sich an sein Gesicht zu erinnern. Dunkle Haare. Eher dunkel. Eine Brille? Trug er eine Brille? Die Augen? Sie waren grün. Sicher waren sie grün. Vielleicht waren sie braun.
Dann hörte sie das Plitsch und Platsch.
Ach du bists, alter Wasserpatscher, sagte sie.
Sie sah Kies, vereinzelte Grashalme. Sie roch den fauligen Sumpf. Wasser. Irgendwo musste es hier Wasser geben. Leo suchte den Boden ab, die Erde war feucht. Leo ging zum Wegrand, hochgeschossenes Gras, in einer Vertiefung im Boden ein Tümpel. Ja, hier könnte es Frösche geben.
Später saß Leo wieder am Pult im Appartement, vor ihr den Flächennutzungsplan. Man musste früher umzonen. Die Brücke ins Ufergelände integrieren. Verkehrsberuhigt. Am besten verkehrsfrei. Die Straßenbahn über die andere Brücke führen. Die Westtangente auch. Leo notierte: Fluss – Brücke. Verkehrsführung? Langsamverkehr – Magistrale? Die Westtangente war die Hauptader. Der ganze Verkehr ging über diese Brücke. Neben ihr saß der Frosch, er ging in Stellung. Er duckte sich, gleich würde er zum Sprung ansetzen.
Das Tier ist kräftig, muskulöse Hinterbeine, mit gut sichtbaren Schwimmhäuten zwischen den Zehen. Kann weit springen und kräftige Schwimm- und Tauchbewegungen ausführen. Je nach Jahreszeit grün bis dunkelgrüne Färbung, auch Brauntöne möglich. Oft dunkle Flecken und Punkte. Rotbraune seitliche Rückendrüsenleisten. Helle Rückenlinie. Bauchseite meist hell. Lange, spitz zulaufende Schnauze. Nach oben gerichtete, relativ nah zusammenstehende Augen.
Leo schob das Amphibienbuch weg und schloss die Augen. Sie sah sich, die kleine Leo, zu Hause im Garten. Sie konnte das laue Wasser spüren. Sie fühlte die glibberigen Blasen. Sie sah sich, wie sie in eine gallertartige Masse griff, die wie zusammengewachsene Trauben hin und her wogte, in der Mitte jeder Blase ein schwarzer Punkt. Sie sah, wie sie ihre kleine Hand in diesen durchsichtigen Ballen streckte, darin wühlte. Wie sie versuchte, den Laich zu fassen, zu drücken, mit zwei Fingern die Eier zu zerdrücken.
Plötzlich war da eine Stimme gewesen. Sie hatte sich umgesehen, woher die Stimme käme. Da hatte sie einen Frosch erblickt, der seinen dicken, hässlichen Kopf aus dem Wasser gestreckt hatte. Doch sie hatte ihn nicht hören wollen. Sie hatte nicht hinhören wollen. Die Schallblasen hatten sich gefährlich gewölbt.
Du dummes Kind, hatte er gerufen, das sollst du mir büßen. Aber die kleine Leo hatte gewusst, dass nur ein Frosch zu ihr sprach.
Ach, du aufgeblähtes Großmaul, was willst du mir anhaben, hatte sie vorlaut gelacht und noch einmal versucht, den Laich zu fassen, die schwarzen Punkte zu quetschen. Dann war ihr das Spiel verleidet. Das grauslige Zeug ekelte sie plötzlich. Sie hatte ihre Schürze gerafft und sich einen neuen Zeitvertreib gesucht. Die Stimme des Froschs aber hatte sie noch immer im Ohr.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.