Kitabı oku: «"Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England"»

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Über dieses Buch

In der Zwischenkriegszeit gingen sie zu Hunderten, in den späten Vierziger- und Fünfzigerjahren zu Tausenden. Sie hiessen Emma, Bertha oder Marie und kamen aus Wilderswil, Urnäsch oder Bellinzona. Sie arbeiteten als Hausangestellte, Kindermädchen oder Gesellschafterinnen in Liverpool oder London und auf Landgütern von Adligen.

Sie gingen, obwohl die Medien warnten: vor dem britischen Wetter, vor dem englischen Klassendünkel, vor unerwünschten Schwangerschaften. Ein Massenexodus von Frauen, wie er in der Schweizergeschichte wohl kein zweites Mal vorkam. Und wenn sie in England geblieben sind, dann fast immer deshalb, weil genau das passierte, wovor sie so eindringlich gewarnt worden sind: Sie verliebten sich, wurden schwanger, haben geheiratet.

Simone Müller erzählt elf beispielhafte Lebensgeschichten dieser Frauen, die heute fast ganz aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden sind. Und sie erzählt auch von einer der grössten Repatriierungsaktionen der Schweiz, als fast tausend Frauen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zurückgeholt wurden.


Foto Mara Truog

Simone Müller, geboren 1967 in Boston (usa), aufge­wachsen in Bern. Studium der Germanistik und Ethnologie in Bern und Wien, 2003–2005 lebte sie in London. 2015 veröffent­lichte sie die Biografie «Über London und Neu­seeland nach Eggiwil. Die Geschichte der Claire Parkes-­Bärfuss». Simone Müller lebt als freie Jour­nalistin und Autorin in Bern.


Mara Truog, geboren 1977 in Bern, studierte in London und Zürich Fotografie. Mehrere Ausstellungen und Publikatio­nen zum Thema Alter/Frauen im Alter, 2016 wurde sie dafür mit dem 1. Preis des Swiss Press Award in der Kategorie Porträts ausgezeichnet. Sie lebt als frei­schaffende Fotografin in Zürich.

Simone Müller

«Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach ­England»

Die vergessenen Schweizer Emigrantinnen 11 Porträts

Fotografien von Mara Truog

Limmat Verlag

Zürich

Die vergessenen Emigrantinnen

«Man sollte – wenn immer ­möglich – nie im Herbst nach London reisen. Der englische ­November und auch der ­Dezember sind mit ihren düsteren, ­nass­kalten Nebeltagen für ­viele Jungen ­unerträglich. Zum ­natürlichen Heimweh kommt das trostlose Wetter, und dann entwickelt sich jene Panik, die oft ­ins ­Verderben führt.»

«Das Englandjahr», Merkblatt Verein «Freundinnen junger Mädchen», 1959

In ihren Wohnungen hängt das Bild der Queen neben einem geschnitzten Holzlöffel aus der Käserei Trubschachen, und auf dem Kaminsims steht ein kleiner Bergkristall aus Davos neben einer bunten Postkarte der Kathedrale von Canterbury.

Sie leben seit mehr als sechzig Jahren in England. In ihren Biografien treffen zwei Kulturen und zwei Sprachen aufeinander, was sich auch in ihren Doppelnamen spiegelt: Bruce-Weber; Gibbs-Schwaninger; Webb-Eggen.

Wie Tausende von jungen Schweizerinnen gingen sie in den Dreissiger-, Vierziger- und Fünfzigerjahren als Hausangestellte oder Au-pairs nach England, weil sie Englisch lernen wollten. Anders als viele, die nach ein oder zwei Jahren in die Schweiz zurückkehrten, sind die in diesem Buch porträtierten Frauen jedoch in England geblieben. Einige zögern am Telefon und sagen, sie wüssten nicht, ob sie das noch könnten: Schweizerdeutsch. Wie Myrtha Parsons-Biedermann zum Beispiel – sie versteht dann doch jedes Wort. Über dem Kamin in ihrem Wohnzimmer in Shepperton hängt eine Kopie des Bundesbriefes.

Ein Exodus

In den späten Vierzigerjahren machten sich jährlich ungefähr 4000 bis 5000 junge Schweizerinnen nach England auf, in den Fünfzigerjahren waren es gemäss zeitgenössischer Medien­berichte und Statistiken von Hilfsstellen wie dem «Sozialsekretariat für Schweizerinnen im Ausland» etwa 7000 pro Jahr – genaue Zahlen gibt es nicht. Frauen, die im Ausland lebten, wurde die Anmeldung auf einer schweizerischen Konsularvertretung zwar empfohlen. Im Unterschied zu den Männern, die sich wegen der Wehrpflicht zwingend anmelden mussten, gab es für sie jedoch keine Meldepflicht. Viele Frauen liessen sich nie registrieren. Und weil sie nur für eine befristete Zeit gingen, mussten sie sich in der Schweiz nicht abmelden.

In den Fünfzigerjahren wurde in den Medien ausführlich über diese jungen Frauen berichtet. Von einem «Exodus» war die Rede und von einem «Massenphänomen». Die Thurgauer Zeitung schrieb im Februar 1956: «Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen in Scharen gegen England an eine Haushaltsstelle.» Dennoch sind diese Frauen – und ­damit ein Kapitel Schweizer Emigrationsgeschichte – aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Es gibt keine histo­rische Publikation, die sich mit dem Massenphänomen beschäftigt.

In Erinnerung geblieben sind jedoch persönliche Geschichten: Die Erzählungen von Grossmutter Johanna, die in den Dreissigerjahren an der schottischen Küste eine lange Wanderung unternommen und in einem selbst gebastelten Zelt aus Farn übernachtet hatte; die Geschichte von Grosstante Elsa, die in Nordlondon täglich die gleichen Silberlöffel putzen musste. In Erinnerung geblieben ist auch die Bedeutung, die der zweijährige Englandaufenthalt für die Mutter zeitlebens gehabt hatte – sie, die nachher kaum noch weggekommen war aus dem Dorf im Zürcher Oberland. Bilder und Bruchstücke aus den ­Erzählungen von Urgrosstanten, Cousinen, Schwiegermüttern und Grossmüttern sind in der Schweiz präsent. Weil so viele gegangen sind, gibt es kaum eine Familie, in der nicht irgendjemand von einer nahen oder entfernten Verwandten weiss, die als junge Frau auch einmal in England war – und wieder zurückgekommen oder für immer dort geblieben ist.

Schweizerinnen statt Österreicherinnen

Bereits in den Dreissigerjahren sind Hunderte von jungen Schweizerinnen nach England gegangen, manche auch nach ­Irland oder Schottland. Weil sie Englisch lernen wollten oder aus wirtschaftlichen Gründen. Mina Rui-Oppliger, 1919 geboren, erzählt im Porträt «Wir sahen die Schweizer Mobilmachung in London im Kino», wie schwierig es für Hausangestellte in der Schweiz war, Arbeit zu finden: «Niemand hatte Geld, und es gab fast keine Stellen. Und wenn man Arbeit hatte, verdiente man kaum genug, um davon zu leben.» Die 2016 verstorbene Irene Schenker-Odermatt, die ebenfalls in den Dreissiger­jah­ren in England war, schickte ihrer Familie in Engelberg jeweils fünf Pfund nach Hause – ihr jüngerer Bruder erzählte sein Leben lang, wie froh die Familie über diese Unterstützung gewesen sei.

In England, wo die Klassengesellschaft besonders stark ausgeprägt war, beschäftigten vor dem Zweiten Weltkrieg auch Familien des unteren Mittelstandes ein oder zwei Hausan­gestellte, und nicht einmal während der Weltwirtschaftskrise in den Dreissigerjahren war genug einheimisches Personal da, um den Bedarf zu decken.

Auch viele Österreicherinnen waren in englischen Haushalten angestellt. 1938, nach dem Anschluss von Österreich an Deutschland, konnten sie jedoch nicht mehr ausreisen. Agentu­ren und Privatpersonen suchten in der Schweiz nach Ersatz – eine Entwicklung, die das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit biga kritisch beobachtete. In einem Schreiben vom 10. Juni 1938 an den Verein «Freundinnen junger Mädchen» fjm heisst es: «Der Anschluss Österreichs an Deutschland hat die Tendenz der gewerbsmässigen Agenturen, möglichst viele Schweizerinnen in England zu plazieren, noch stark begünstigt. Der unerfreuliche Zustand hat sich verschärft.»

Die fjm wurden im 19. Jahrhundert zur Bekämpfung der Prostitution gegründet und arbeiteten eng mit den Behörden zusammen. Sie betrieben in Bern ein eigenes «Englandplazierungsbüro», das Stellen in englischen Familien vermittelte. Die privaten Agenturen hingegen waren den Behörden ein Dorn im Auge. Sie hatten den Ruf, die Stellen nicht seriös genug zu prüfen. Dem Bund fehlten jedoch die rechtlichen Grundlagen, um gegen sie vorzugehen.

Kein Schweizer Bürgerrecht mehr

Kaum waren nach dem Zweiten Weltkrieg die Grenzen wieder offen, machten sich die jungen Frauen erneut auf den Weg. Nun gingen sie zu Tausenden. Englisch war die Sprache der ­alli­ierten Siegermächte, die Hitler besiegt und Europa vom Na­tionalsozialismus befreit hatten. Amerikanische gis brachten Kau­gummis, Lucky Strike und Nylonstrümpfe nach Europa – Vorboten der angelsächsischen Alltagskultur, die auf dem eu­ropäischen Kontinent bald überall präsent sein sollte. Marilyn Monroe, James Dean und Elvis Presley weckten diffuse Sehnsüchte nach dem American way of life und verstärkten den Wunsch, die fremde Kultur und Sprache kennenzulernen. Englisch spielte auch in der Arbeitswelt eine immer wichtigere Rolle. Anna-Maria Webb-Eggen zum Beispiel arbeitete in einem Hotel in Faulensee bei Spiez, ihr Chef erklärte, wenn sie weitermachen wolle in der Hotelbranche, müsse sie Englisch lernen. Drei Wochen später war Anna-Maria in London.

Wirtschaftliche Gründe fallen nach dem Zweiten Weltkrieg als Motiv für den Aufbruch nach England weitgehend weg. Die Frauen, die nach 1945 gegangen sind, sagen alle, sie hätten Englisch lernen wollen. Sie gingen in einer Zeit des materiellen Aufschwungs, als neue Maschinen und Geräte den Alltag zunehmend veränderten. 1951 lancierte Schulthess den ersten Waschautomaten Europas, Kühlschrank, Mixer und Tetrapak hielten Einzug in die Küche, in der Wohnstube stand ein Fernsehgerät und vor den Haustüren da und dort ein vw Käfer für den Sonntagsausflug.

An der Stellung der Frauen in Gesellschaft, Politik und ­Familie änderte sich in der Schweiz vorerst wenig. In England wurde 1928 das allgemeine Frauenwahlrecht eingeführt, in der Schweiz hatten Frauen noch bis 1971 kein Stimm- und Wahlrecht. Jede Schweizerin, die einen Ausländer heiratete – un­abhängig davon, ob sie das in der Schweiz oder im Ausland tat – verlor bis 1952 ihr Schweizer Bürgerrecht. Mehrere der por­trätierten Frauen haben genau das erlebt. Bea Laskowski-Jäggli, die 1947 in London den Polen Wladislaw Laskowski heiratete, verlor die Schweizer Staatsbürgerschaft, bekam aber keine polnische. Wenn sie ihre Familie in Basel besuchen wollte, musste sie mit einem Ausweis für Staatenlose einreisen.

Viele Frauen, die sich in den Vierziger- und Fünfzigerjahren nach England aufmachten, kamen aus ländlichen Gebieten, oft aus einfachen Verhältnissen. Viele sagen, dass sie gerne länger in die Schule gegangen wären – aber keine Möglichkeit ­gehabt hätten. Ihre Biografien zwischen Schulabschluss und Aufbruch nach England gleichen sich. Sie machten ein Haus­haltungslehr­jahr, gingen ein oder zwei Jahre ins Welschland – oder ein Jahr in die Deutschschweiz wie die Tessinerin Annetta Diviani-­Morosi – und arbeiteten dann im Gastgewerbe, in einer Fabrik oder zu Hause auf dem Hof. Einige machten eine Lehre. Aber ihre Möglichkeiten waren begrenzt – auch geo­grafisch. Wenn sie wegwollten, war England oft die naheliegendste Option, Alternativen gab es kaum. Die usa kamen für viele wegen der hohen Reisekosten nicht infrage. Auch die Reise nach England war teuer. Aber Stellenvermittlungsagenturen wie Thomas Cook übernahmen häufig die Reisekosten. Myrtha Parsons-Bie­dermann sagt: «Ich wollte einfach weg. Es hätte nicht unbedingt England sein müssen.»

Nach England zu gehen konnte auch bedeuten, ein Stück Freiheit zu ergattern und zumindest für eine gewisse Zeit aus einem Alltag auszubrechen, in dem es nur wenig Spielraum gab für die jungen Frauen.

Italienerinnen statt Schweizerinnen

Den Bundesbehörden bereitete der Exodus der jungen Bürgerinnen Kopfzerbrechen. In der Schweiz hatte sich die Beschäftigungslage in Vergleich zu den Dreissigerjahren deutlich verbessert. Bereits 1946 ist in einem Bericht der fjm von einem «Mangel an Arbeitskräften in allen wichtigen Frauenberufen» die Rede. Der «Anzeiger von Saanen» kommentierte im Mai 1946: «Es ist uns wohlbekannt, dass die jungen Mädchen sehnsüchtig auf den Augenblick warten, da sie nach England oder andern Ländern reisen können. Es dürfte (…) sowohl im Interesse unseres Landes wie unserer jungen Mädchen selber liegen, wenn sie ihre Kräfte noch einige Zeit freudig in den Dienst der Heimat stellen würden, die ihrer dringend bedarf und ihnen Arbeitsmöglichkeiten in viel günstigeren und moralisch gesünderen Verhältnissen zusichert.»

Gegangen sind sie trotzdem. Und die Behörden verlegten sich darauf, Ausländerinnen die Einreise in die Schweiz zu erleichtern – zwecks «Stellenantritt im Hausdienst», wie das biga schon im Dezember 1945 festhält. In die Bresche sprangen zum Beispiel die Italienerinnen. Im Juni 1946 erteilte das biga den fjm den Auftrag, sich um die Platzierung der italienischen weiblichen Arbeitskräfte in Schweizer Haushalten zu kümmern.

«England ist sehr arm geworden»

Auf den Britischen Inseln war die Nachfrage nach billigen ausländischen Hausangestellten gross. Millionen von Engländerinnen hatten während des Kriegs die Arbeit der dienstpflichti­gen Männer übernommen und dafür gesorgt, dass Wirtschaft und Zivilleben auch im Ausnahmezustand nicht stillstanden. Ein beispielsloser Kraftakt, der unter dem Begriff Home Front in die Geschichte eingegangen ist. Als die Soldaten von der Front zurückkamen und an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten, verloren viele Frauen ihre Jobs. Einrichtungen für die Kinderbetreuung, die während des Kriegs geschaffen worden waren, wurden aufgelöst.

Aber viele Engländerinnen wollten die Autonomie, die sie durch die ausserfamiliäre Lohnarbeit gewonnen hatten, nicht wieder aufgeben und suchten sich neue Stellen – Kindermädchen und Haushaltshilfen waren deshalb gefragt. Dem englischen Mittelstand ging es finanziell jedoch nicht mehr so gut wie vor dem Krieg, die Budgetposten für Hausangestellte waren geschrumpft. In der Zwischenkriegszeit waren junge Schweize­rinnen manchmal auch als Gesellschafterinnen angestellt worden – damit war es nach dem Krieg vorbei: «England ist nicht mehr das Land der unzähligen reichen Familien, wo Schweizer Kindermädchen auf Schlössern junge Lords betreuen, in Rolls-Royces herumgefahren werden und jeden Morgen durch endlose Parkwege reiten können. England ist arm, sehr arm geworden», schrieb die «Schweizer Illustrierte Zeitung» im März 1950.

Es fehlte an allem: Lebensmittel und Kleider blieben bis 1954 rationiert, Brennstoff für die Heizungen war knapp, die Häuser schlecht isoliert und kalt, und es gab nicht genug Wohnungen. Die Angriffe der deutschen Luftwaffe hatten zudem viel Infrastruktur zerstört.

Das biga äusserte sich besorgt. In einem Sitzungsprotokoll vom 17. Dezember 1945 heisst es: «Was England anbelangt, ist zu sagen, dass die Situation augenblicklich keineswegs günstig ist. Das Land ist, im Gegensatz zu Amerika, unsäglich verarmt. Die Verhältnisse im Ausland sind sehr viel schlimmer als nach dem Ersten Weltkrieg, die Gefährdung unserer jungen Mädchen daher viel grösser. Beängstigende Zunahme der Geschlechtskrankheiten. Der Mädchenhandel steht wieder in Blüte.»

Unerwünschte Freundschaften

Die jungen Frauen wurden unablässig gewarnt, in Zeitungen und Zeitschriften, auf Flugblättern und Beratungsstellen. Zum Beispiel vor dem britischen Wetter. In einem «Wegweiser für die Eltern unserer Englandgängerinnen» aus den Fünfzigerjahren heisst es: «Für seelisch Gefährdete, Enttäuschte, depressiv Veranlagte ist das feucht-neblige Wetter Englands und die der unseren recht verschiedene Denkart seiner Bewohner unge­eignet.» Oder vor dem «Charakter der englischen Hausfrau», die ihre Hausangestellten wegen des britischen Klassensystems nicht in die Familie integriere. Mit schlimmen Folgen, wie das Flugblatt «Schweizerinnen in Grossbritannien» ausführt: «Man­gel an Familienanschluss, Abgeschiedenheit oder unge­nü­gende Sprachkenntnisse führen oft zu Depressionen, übertriebener Vergnügungslust oder zu ungeeigneten Freund­schaften, was alles gleich verhängnisvoll sein kann.» In den Vierziger­jahren wurde noch oft vor den Kriegsfolgen gewarnt, vor Lebensmittelknappheit und «grauen, düsteren englischen Städten», in den Fünfzigerjahren rückten zunehmend sogenannte «un­erwünschte Freundschaften» und vor allem unerwünschte Schwangerschaften in den Fokus.

In London kümmerten sich Hilfsstellen um diejenigen, die tatsächlich in Schwierigkeiten geraten waren. Die schweize­rische Wohltätigkeitsorganisation Swiss Benevolent Society, die bereits im frühen 18. Jahrhundert gegründet worden war, konnte den grossen Ansturm bald nicht mehr bewältigen. 1949 wurde deshalb das Sozialsekretariat für Schweizerinnen in Grossbritannien eröffnet, eine vom Bund und den Kantonen mitfinanzierte Institution. Die Jahresberichte des Sekretariates zeigen, mit welchen Anliegen sich die jungen Frauen an die Stelle wandten. Die Spannbreite ist gross, sie reicht von Schwierigkeiten am Arbeitsplatz über körperliche und psychische Krankheiten bis hin zu den ungewollten Schwangerschaften – über Jahre einer der Hauptgründe, weshalb Frauen das So­zial­sekretariat aufsuchten.

Unverheiratete schwangere Frauen standen unter grossem Druck. Gemäss britischem Gesetz mussten ledige Ausländerinnen mit befristeter Aufenthaltsbewilligung das Land vor der Geburt des Kindes verlassen. Auch in der Schweiz hatten le­dige Mütter einen sehr schweren Stand. In einem Bericht des ­Sozialsekretariats von Ende 1958 heisst es: «Das Problem der unverheirateten Mutter ist konstant (…). 1958 schickten wir 27 Mütter, die uneheliche Kinder erwarteten, in die Schweiz zurück. Mit Hilfe von Wohlfahrtsorganisationen (…) war es möglich, für diese Mädchen passende Orte, wo sie vor und nach der Geburt wohnen konnten, zu finden. Es ist eine traurige Tatsache, dass die Mädchen nur in wenigen Fällen wieder in ihrem Elternhaus aufgenommen werden. Normalerweise wissen die Eltern gar nichts vom Unglück ihrer Tochter, und viele der Kinder werden adoptiert.» Im Jahresbericht von 1959 werden die Eltern der jungen Frauen adressiert: «Die Eltern sollten ihre Töchter über die Lebenstatsachen, Gefahr vor unerwünschten Freundschaften (besonders mit farbigen Männern), Geschlechts­krankheiten etc. eingehend aufklären.»

Umgekehrt gab es auch Eltern, die ihre Tochter nach England schickten, um eine «unerwünschte Freundschaft» in der Schweiz zu beenden. Und auch psychisch kranke oder suizidale junge Frauen wurden auf die Britischen Inseln geschickt in der Hoffnung, der Ortswechsel werde zu einer Besserung des Zustandes der Betroffenen führen – was sich zumeist als Illusion entpuppte. Im Tätigkeitsbericht des Sozialsekretariates für das Jahr 1950 heisst es: «Es ist erstaunlich, wie viele Schweizerinnen hier wegen geistigen Störungen in Anstalten verbracht werden müssen.» 72 Mädchen und junge Frauen wandten sich in dem Berichtsjahr krankheitshalber an das Sekretariat, mehr als die Hälfte davon wegen «Geisteskrankheit», «Nervenzusammenbrüchen» oder «Hysterie».

1957 kam mit dem Swiss Hostel for Girls noch eine weitere Institution dazu. Massgeblich vorangetrieben hatte das Projekt die Swiss Benevolent Society. Die «Neue Zürcher Zeitung» berichtete nach der Eröffnung von einem Haus mit «prächtigem Garten in der schönsten Lage der Stadt» – im Nordlondoner Nobelquartier Hampstead. Hier fanden Frauen Unterschlupf, die nur vorübergehend eine Bleibe brauchten, zum Beispiel, weil sie die Arbeitsstelle wechselten. Eine ähnliche Institution hatte es bereits im 19. Jahrhundert gegeben. 1884 war in der Londoner Innenstadt das Swiss House eröffnet worden, das Schweizer Hausangestellten, die nicht bei ihrer Herrschaft wohnen konnten, Unterkunft bot.

Endstation Dover

Manchmal gerieten die jungen Frauen auch bereits an den Häfen von Dover oder Folkestone in Schwierigkeiten. Dort legten die Schiffe aus Frankreich an, und für diejenigen, die sich ohne Ar­beitsbewilligung oder Visum auf den Weg gemacht hatten, endete die Reise mitunter an den Ufern des Ärmelkanals. Erst seit dem Vertrag von Touquet aus dem Jahr 2003 werden die britischen Grenzformalitäten im französischen Calais abgewickelt, zuvor entschied sich im Hafen von Dover, wer in das Vereinigte Königreich einreisen durfte und wer nicht.

1953 verschärfte Grossbritannien die Einreisebestimmungen, die Zahl der Abgewiesenen nahm weiter zu. Die wenigsten der jungen Schweizerinnen rechneten wohl damit, dass ihnen die Einreise verweigert werden könnte – viele Betroffene reagierten wütend oder verzweifelt. Manchen kam dann die 1913 geborene Berner Sozialarbeiterin Helen Ellis-Däpp zu Hilfe, die selber als Neunzehnjährige nach Birmingham gegangen war, um Englisch zu lernen, und sich nach dem Krieg der jungen Schweizerinnen und Österreicherinnen annahm, die an der Grenze in Schwierigkeiten gerieten. Ellis-Däpp verhandelte mit den Beamten, trieb Visa und Arbeitsbewilligungen auf, organisierte Übernachtungen und Rückreisen. Gelegentlich kümmerte sie sich auch um Sechzehnjährige, die zu Hause ausgerissen und ohne Geld und Papiere im Hafen von Dover gelandet waren. Oder um Schwangere, die in Willisau oder Rapperswil ihre Schwangerschaft verheimlicht hatten und in einer Londoner Klinik abtreiben wollten. Als sich die Berichte häuften, dass Abgewiesene in die Bars von Calais gelockt worden und danach spurlos verschwunden seien, nahm Ellis Kontakt auf mit einem französischen Mädchenheim. Sie begleitete diejenigen, die zurückmussten, bis aufs Schiff und meldete ihre Ankunft telefonisch der Heimleiterin in Calais, die sie dort am Hafen abholte. Später kümmerte sich Ellis-Däpp um Reisende aller Nationa­litäten – 1967 erhielt sie für ihr Engagement einen Orden von der Queen.

Mit den Institutionen in Kontakt gekommen sind meist nur diejenigen, die Hilfe brauchten. Die Berichte der Anlaufstellen spiegeln die Schwierigkeiten, in die eine Minderheit der jungen Frauen geriet. Für die Mehrheit gilt, was in den Fünfzigerjahren in einer Broschüre mit dem Titel «Was erwartet mich in England?» folgendermassen beschrieben wird: «Unsere Töchter stehen am englischen Herd, sie kochen und flicken, hüten die Kleinen in der Kinderstube, gärtnern oder wirtschaften ­irgendwo in einem Kleinbetrieb. Die meisten leben beschei­dener als zu Hause, arbeiten wesentlich mehr, verdienen sehr wenig und sind merkwürdigerweise zufrieden und glücklich dabei.»