Kitabı oku: «Die Erinnerung an unbekannte Städte»
Zum Buch
2045. Eine Katastrophe hat die Menschen auf eine karge bäuerliche Existenz zurückgeworfen, viele finden Trost im Glauben. Nathanael und Vanessa sind jung, wollen sich nicht abfinden und laufen fort. Ihr Lehrer, der noch weiß, wie es früher war, wird geschickt, um sie zu suchen. Doch der Weg führt für alle drei durch gefährliches Terrain.
Nathanael ist fünfzehn, als seine Eltern ihn aus der Schule nehmen, obwohl er ein so begabter wie wissbegieriger Schüler ist und unbedingt Arzt werden möchte. Aber seine Mutter hat eine Laufbahn als Prediger für ihn vorgesehen, und Universitäten gibt es nicht mehr. Oder doch? Nathanael hat von einem Polytechnikum in Italien gehört und beschließt, dorthin aufzubrechen. Auch Vanessa, eine Mitschülerin, will weg aus der Enge des Dorfs. Bei Nacht und Nebel brechen sie gemeinsam auf. Als man ihre Abwesenheit entdeckt, wird ihnen Lehrer Ludwig nachgeschickt. Anders als die Jugendlichen erinnert er sich noch an die Zeit vor der Katastrophe und hofft auf keine Besserung mehr. Seine Schüler aber kann er nicht im Stich lassen, und der Weg durchs gesetzlose Gebiet ist gefährlich.
In ihrem spannenden dystopischen Roman erzählt Simone Weinmann von einer Welt, die nur noch entfernt der unseren ähnelt: Worauf werden die Menschen bauen, wenn sie den technischen Fortschritt verlieren, wenn es keinen Strom mehr gibt? Werden sie sich an den Glauben klammern oder von Wissensdurst getrieben ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen? Leise und tastend, aber umso eindringlicher schildert Simone Weinmann ein archaisches Leben, in dem der Verlust gesellschaftlichen und technischen Fortschritts erschreckend deutlich wird.
Über die Autorin
Simone Weinmann hat in Zürich bei Prof. Ben Moore in Astrophysik promoviert und einige Jahre am Max-Planck-Institut München und an der Sterrewacht in Leiden gearbeitet. Heute unterrichtet sie Physik und lebt mit Mann und Kind in Zürich. 2017/2018 war sie Stipendiatin des Roman-Seminars am Literaturhaus München bei Günther Eisenhuber und Annette Pehnt. Die Erinnerung an unbekannte Städte ist ihr erster Roman.
Simone Weinmann
DIE ERINNERUNG AN UNBEKANNTE STÄDTE
Roman
Verlag Antje Kunstmann
Für Christian
Irgendwann wird der letzte Herbst anbrechen, in dem Flugzeuge schwer auf der regennassen Rollbahn landen. Der letzte Herbst, in dem die Drähte summen von Dingen, die wir uns dringend erzählen müssen, während draußen der Wind gegen die Mauern drückt.
Der letzte Herbst, in dem unsere Kontostände steigen und sinken, in dem die Börsenkurse zittern. In diesem Herbst werden noch einmal Durchsagen gemacht in den Bahnhöfen, den Bussen, den Konzertstadien.
Autos werden auf den schnurgeraden Straßen rauschen, auf ein Ziel zu, einen Parkplatz oder eine Tiefgarage, wo sie leise klickend, ausatmend zur Ruhe kommen. Orchester werden Symphonien spielen, während zwei Häuser weiter Patienten in ihre Vollnarkose sinken. Menschen werden im Supermarkt nachdenklich in die Tiefkühltruhen starren. Unsere Gesichter werden blau schimmern von den tanzenden Bildern auf den Geräten. Aus den Apotheken werden wir in kleinen raschelnden Plastiksäcken Grippemittel, Hustensaft und Eukalyptusbonbons tragen, wir werden vergessen, unsere Eltern anzurufen.
Wahlkampagnen werden anlaufen, Menschenmengen werden jubeln. Die Filmstarts für den Herbst werden besprochen, die neuen Studenten werden sich ein letztes Mal in den Gängen vor den Hörsälen stauen und nicht wissen, dass ihre Gesichter leuchten.
Die Wetterkarten werden noch einmal Herbststürme voraussagen. Umgestürzte Bäume werden von den Straßen entfernt, Unfallopfer dick eingepackt zum Krankenwagen getragen.
Am 21. Dezember wird die längste Nacht über der Nordhalbkugel anbrechen, und diese tiefste Dunkelheit auf Erden wird noch einmal hell erleuchtet sein von Straßenlampen und Lichterketten, von Neonröhren, Kerzen, Scheinwerfern, Bildschirmen, Flutlichtern, den Lampen an den Autobahnraststätten, den Lichtern der Züge, den Leuchtfingern der Flugzeuge, die die Wolken ertasten, sie wird fast festlich sein, diese Nacht, strahlend und kalt.
Und dann wird der letzte Herbst vorbei sein.
I
WINTER
Anatomie
Augenlieder mit ie. Schon wieder ein Rechtschreibfehler im heiligen Text. Nathanael blickte zwischen der Vorlage und seiner Abschrift hin und her. Er hatte das Wort unwillkürlich richtig geschrieben. Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Jetzt würde er die letzten Buchstaben mit dem kleinen brüchigen Gummi ausradieren müssen, was schwierig war, weil das Papier leicht zerriss. Erst ein paar Zeilen weiter oben hatte er eine der Markierungen korrigieren müssen und beinahe ein Loch ins Papier gemacht. Eine fehlplatzierte Unterstreichung, und der Text war entweiht, weil der Vorleser dann an der falschen Stelle die Hände zum Himmel hob. Aber warum man auch die Schreibfehler beibehalten musste, hatte er nie verstanden.
Nathanael legte den Stift und den Radiergummi hin, stand auf und streckte sich. Durch das kleine Fenster des Dachzimmers sah er auf die verschneite Straße. Sie war voller Fußspuren, aber menschenleer. Schnee lag auf den Dächern und zwischen den Mauern der verfallenen Häuser. Im ersten Stock des Hauses gegenüber bewegte sich hinter den Fenstern ein schwaches Licht. Jemand war mit einer Kerze unterwegs, obwohl es bald Mittag sein musste, so trübe war der Tag. Vielleicht Sarah. Ob sie die Öllampe auf seinem Pult auch flackern sah?
Nathanael hörte die schnellen Schritte der Mutter auf der Treppe, dann klopfte es. Bevor er antworten konnte, öffnete sich die Tür. Die Mutter trug eine weiße Schürze über ihrem langen dunklen Kleid. Vom Kochen hatte sie Flecken auf den Wangen.
»Bist du fertig? Das Essen ist gleich so weit.«
»Noch nicht.«
»Erst auf Seite 38? Was stehst du da am Fenster und trödelst?«
Nathanael schwieg.
»Ich werde dir das Mittagessen beiseitestellen.«
»Kann ich nicht nachher weiter abschreiben?«
Zwischen den Brauen der Mutter erschien eine steile Falte. »Nein. Die Prophetin zählt auf uns.«
Die Prophetin kümmerte es bestimmt nicht, ob Nathanael die Abschrift heute oder morgen fertigstellte. Sie hatte sich in den Wald zurückgezogen, und wer wusste schon, was sie dort tat. Aber er hatte sich vorgenommen, der Mutter zu gehorchen oder zumindest so zu tun.
Die Mutter schloss die Tür wortlos. Nathanael setzte sich ans Pult und nahm den Stift in die Hand, legte ihn dann aber doch wieder weg. Er streifte seinen rechten Schuh ab, krallte seine Zehen in den Griff der untersten Schublade und zog sie auf. Hier hatte er das Buch aufbewahrt.
Auf dem Titelbild war ein Mensch ohne Haut abgebildet gewesen, mit braunen Muskeln und blauen Adern. Aber am besten hatte ihm die Doppelseite über das menschliche Herz gefallen. In der Mitte prangte ein schön gezeichnetes rosafarbenes Herz, das vom Seitenfalz durchteilt wurde. Eine kleine Fotografie unten links zeigte eine Operation am offenen Herzen. Die Chirurgen trugen Kittel und Kappen in blassem Grün und enge Handschuhe. Durch Brillen mit kleinen aufgesteckten Zylindern blickten sie in die klaffende Wunde, die mit einem Metallgestell offen gehalten wurde. Ein Chirurg tippte mit einem Stift in die Mitte der Wunde, als setzte er dazu an, ein Wort ins Herz zu schreiben.
Wenn er nur das Bild noch einmal anschauen könnte. Aber er würde das Buch nie wieder in die Hände bekommen. Als die Mutter damit zur Schule geeilt war, war Nathanael ihr gefolgt. Sie war wie von unsichtbaren Fäden gezogen die Treppe hinaufgestiegen, Nathanael hatte kaum mit ihr Schritt halten können. Dann hatte sie die Tür zum Lehrerzimmer aufgerissen und Gruber das Buch vor die Füße geworfen wie etwas Verseuchtes, das sie in ihrem Haus gefunden hatte. Nathanael schob die Schublade mit dem Fuß wieder zu. Er hatte sich für die Mutter geschämt, wie sie Gruber angeschrien hatte. Der Lehrer hatte ihr ruhig zugehört, ohne das Gesicht zu verziehen. Schließlich hatte die Mutter tief durchgeatmet und gesagt, dass ihr Sohn keinen Tag länger in die Schule gehen würde.
Nathanael legte das Handgelenk an sein rechtes Ohr, die Ohrmuschel war kalt. Er trug einen Schal und zwei Pullover. Trotz der niedrigen Temperaturen, die im Dachzimmer herrschten, war er immer gerne in diesem wenig benutzten Raum gewesen, um Hausaufgaben zu machen, hier hatte er seine Ruhe vor Samuel und Elias. Aber heute wollte er nur nach draußen, auf die Straße, eisige Winterluft einatmen, die im Hals schmerzte.
Am Abend, nachdem die Eltern ihn aus der Schule genommen hatten, war Nathanael übel geworden. Es hatte sich angefühlt, als hätte er sich zwischen Bauch und Rippen etwas eingeklemmt. Zwei Tage lang hatte er im Bett gelegen und keinen Bissen heruntergebracht. Es hatte ihm Angst gemacht, aber er hatte kein Fieber und die Mutter machte sich keine Sorgen. »Gott wirkt in dir«, sagte sie. Nathanael ärgerte sich so sehr darüber, dass er sich vornahm, nicht mehr mit ihr zu sprechen. Schließlich hatte er doch wieder damit angefangen, und auch das schrieb sie natürlich Gottes Einfluss zu.
Gott, dachte Nathanael. Er macht, dass mir übel ist und dass ich wieder mit der Mutter spreche. Aber Rahel wollte er nicht retten.
»Als ich jung war, hat kaum jemand an Gott geglaubt«, hatte Gruber einmal gesagt. Nathanael konnte sich das nicht vorstellen. Er nahm den Stift wieder in die Hand und las die nächsten Zeilen im Evangelium.
Schulzimmer
»Die Oortsche Wolke«, sagte Ludwig Gruber. »Da kommen die Kometen her. Das haben wir doch gestern alles besprochen.«
Seine Klasse schlief so früh am Morgen noch, sie war ganz still, auch wenn die meisten Augen täuschend weit geöffnet waren. Draußen dämmerte es.
Aus dem Dorfbrunnen war heute kein Wasser gekommen. Ludwig hasste das Gefühl von ungewaschenen Händen, er wischte sie zum wiederholten Mal an den Seiten seiner Hosen ab. Er schwieg, die Klasse schwieg. Niemand schien sich an dem Schweigen zu stören. Ludwig blickte auf seine Schuhe. Das Leder war von der Kälte rissig geworden, und an einer Stelle begann sich die Sohle zu lösen.
»Nehmt das Buch heraus«, sagte er.
Sekunden verstrichen, bevor der erste Schüler sich rührte, die anderen folgten ihm traumwandlerisch. Wenn sie eine Bewegung nachahmen konnten, mussten sie keine Worte verstehen. Die Bücher waren alt, eines fiel beim Öffnen auseinander. Der Schüler, dem es gehörte, bückte sich ächzend nach den losen Seiten und begann zu husten. Schon den ganzen Winter lang hustete er so.
Während die Schüler das Kapitel lasen oder die aufgeschlagene Seite anstarrten, schaute Ludwig aus dem Fenster. Der Himmel begann von unten hell anzulaufen, es sah aus, als stiege ein Licht hinter einer milchigen Scheibe auf. Ludwig wandte sich zurück zur Klasse, sein Blick fiel auf den leeren Platz am verkratzten Pult vorn links, wo Nathanael gesessen hatte.
»Es ist so langweilig«, flüsterte Sarah ihrer Banknachbarin zu und schaute Ludwig aus trüben Augen an. »Beim Dorffest werden wir …«, und dann wurde ihre Stimme so leise, dass er sie nicht mehr verstand. Immer dieses Dorffest. Es war das Einzige, was die Schüler in der Winterzeit aus ihrer Lethargie zu reißen vermochte. Sie waren schon vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und würden die Schule bald für immer hinter sich lassen.
Eine leise Unruhe erfasste die Klasse und ging zwischen den Pulten umher wie eine Person. Ludwig räusperte sich. »Wer fertig ist, beginnt mit den Hausaufgaben. Schreibt eine Seite über Kometen.« Jemand seufzte laut.
Es knallte. Vanessa hatte Peter mit einem zusammengerollten Heft auf den Kopf geschlagen und huschte zurück an ihren Platz. Einige schrieben jetzt mit kratzenden Geräuschen. Peter lächelte, als wäre er glücklich über Vanessas Angriff. Dabei hielt er den Mund geschlossen, sodass seine schiefen Zähne nicht zu sehen waren. Ludwig machte ein paar Schritte auf Vanessas Pult zu und blickte auf ihr Papier. Sie hatte einen Satz geschrieben, ließ aber jetzt ihren Bleistift zwischen zwei Fingern hin- und herwippen und gab vor, Ludwig nicht zu bemerken. Ihre weißblonden gelockten Haare fielen ihr über die Schultern wie ein Umhang, sie sahen ungekämmt aus.
Sarah hatte noch gar nichts geschrieben, sie hatte den Kopf auf die Bank gelegt und die Augen geschlossen. Er ging zu ihr hin und berührte mit der Hand ihre Schulter. Sie zuckte zusammen und sah ihn fragend an. »Du musst mitarbeiten«, sagte er leise.
Als er sich wieder ans Lehrerpult setzte, sah er, dass Sarah sich aufgerichtet hatte und ihn immer noch fixierte, als versuche sie sich zu erinnern, was der Auftrag war. Dann schaute sie aufs Blatt und begann etwas zu kritzeln, das sie mit ihrer Hand vor seinem Blick schützte, wahrscheinlich zeichnete sie etwas.
Ludwig schaute wieder aus dem Fenster. Mittlerweile hatte der Himmel die Farbe angenommen, die er an wolkenlosen Tagen hatte, das gebrochene Weiß eines Mehlteigs. Der Schulhof darunter sah aus wie neu, die Risse im Asphalt waren unter dem Schnee verschwunden.
Es dauerte nur eine kurze Weile, bis die Klasse merkte, dass seine Aufmerksamkeit nicht mehr bei ihnen war. Die Schreibgeräusche erstarben. Jemand kicherte. Ludwig dachte an die Kometen, die weit weg ihre stillen Bahnen durch das Weltall zogen. Dann wandte er sich der Klasse zu.
Betgruppe
Nathanael blieb in der Tür des Saals stehen und suchte mit den Augen die Sitzreihen ab. Sarah war noch nicht hier. Vorn begrüßte Hendrik die Neuankömmlinge und schüttelte ihnen lächelnd die Hand. Auch ihm winkte er zu, aber Nathanael hob nur kurz die Augenbrauen. Dann setzte er sich in die hinterste Reihe. Im Rücken spürte er die kalte Wand. Er hätte Hendrik wenigstens zunicken können, er hatte sich doch vorgenommen, freundlich zu sein, bis er zurück in die Schule durfte. Bestimmt würde sich der Prediger später wieder bei den Eltern beklagen. Hendrik fasste einen Mann leicht am Oberarm, woraufhin dessen Gesicht aufleuchtete.
Dutzende von Kerzen brannten auf Tischen und am Boden. Nathanael beobachtete die Erwachsenen, die den Raum langsam füllten. Die Frauen in ihren langen dunklen Röcken, mit ihren Zöpfen, die Männer mit ihren Bärten und den abgeschabten Hosen und Jacken. Sie setzten sich mit umständlichen Bewegungen in die vorderen Reihen und unterhielten sich. In den Händen hielten sie alle eine Bibel, in vielen verschiedenen Ausgaben, dunkelrote und grüne, kleine und große, und das, was Hendrik ihre Vollendung nannte: einen handbeschriebenen, zusammengehefteten Stapel Papier. Das Evangelium des Staubes. Einiges davon hatte Nathanael selbst abgeschrieben.
Endlich tauchten auch Sarah und ihr Vater auf. Nathanael sah ihnen dabei zu, wie sie sich zwei Reihen vor ihn setzten. Sarah drehte den Kopf zur Seite, als ob sie sich nach ihm umschauen wollte, doch sie wandte den Blick gleich wieder nach vorn. Nathanaels Eltern betraten den Raum als Letzte, man hatte ihnen zwei Plätze in der ersten Reihe freigehalten. Die Mutter ging voraus, auch sie in einem langen schwarzen Kleid, mit aufrechtem Gang, die schwarzen Haare in einem Knoten hochgesteckt. Der Vater folgte, seine Haltung wie immer etwas schief, und statt einem Vollbart wie die meisten anderen Männer hatte er kreuz und quer abstehende graue Stoppeln am Kinn.
Samuel, der dicht hinter den Eltern gegangen war, bog ab und drängte sich an den anderen Jugendlichen in der letzten Reihe vorbei. Dann ließ er sich schwer auf das Evangelium fallen, das Nathanael neben sich abgelegt hatte.
»Hau ab«, zischte Nathanael ihm ins Ohr, »hier ist reserviert.« Vielleicht würde Sarah ja nach der Pause den Platz wechseln.
Samuel schnitt ein Gesicht. »Wieso?«
Nathanael stieß ihm seinen Ellbogen in den Oberarm.
»Aua«, rief Samuel leise.
»Steh jetzt auf. Oder ich verrate den Eltern, wo du gestern warst«, sagte Nathanael.
Samuel schaute ihn ungerührt an, aber dann verzog er sich. Am Tag zuvor war er mit seinen Klassenkameraden weit auf den gefrorenen Dorfweiher hinausgeschlittert, bis das Eis angefangen hatte zu knacken. Nathanael hatte ihnen vom Ufer aus zugesehen.
Samuel setzte sich vorn neben Elias, mit dem er sofort zu tuscheln begann. Nathanael betrachtete ihre Hinterköpfe. Samuel hatte helle Haare, Elias dunkle, aber die Ähnlichkeit in ihren etwas eckigen Bewegungen verriet, dass sie Brüder waren. Hoffentlich bewegte er sich nicht auch so.
»Sei doch froh, dass du nicht mehr in die Schule musst«, hatte Samuel am Morgen gesagt. Nathanael hätte ihm für die dumme Bemerkung gerne unter dem Tisch einen Tritt versetzt. Aber er konnte keinen zusätzlichen Ärger gebrauchen.
Hendrik erhob seine Stimme. »Beginnen wir.«
Nathanael versuchte sich vorzustellen, was er von Hendrik halten würde, wenn er ihm heute zum ersten Mal begegnen würde. Hendrik war groß und dünn. Er hatte schütteres Haar und ein Gesicht, das stets leicht beleidigt wirkte. Die Eltern sagten, er habe es schwer gehabt, bevor er zum Evangelium gefunden habe. Jetzt war sein schmaler Körper erfüllt von etwas, das nicht von dieser Welt war, etwas Starkem, das ihn hin- und herwarf und durch den Raum trieb. Hendriks Hände bewegten sich beim Reden wie von selbst, schlanke, elegante Hände. Nicht wie bei Gruber, dessen Hände beim Sprechen immer wieder kraftlos nach unten sanken oder in den Hosentaschen verschwanden. Hendriks Stimme war scharf und klar, man hörte jede Silbe überdeutlich. Gruber klang immer etwas verhangen, als strenge ihn das Sprechen an, während für Hendrik das Sprechen scheinbar eine Erleichterung darstellte.
Der Saal war ganz still. Nathanael wäre gerne mit den Gedanken abgeschweift, aber Hendriks Worte bohrten sich hartnäckig in seine Ohren. Dabei hatte er fast die gleiche Predigt schon einmal gehalten. Sie handelte von dem gesegneten Dorf in Russland, über dem der Himmel noch offen war und wo die Menschen nichts mehr zu essen brauchten, weil sie so heilig und rein waren. Nathanael konnte sich nicht vorstellen, wie es war, nie mehr etwas essen zu wollen. Hellblau sei der offene Himmel, sagte Hendrik, und am Abend rosa, so wie Gott ihn geschaffen habe.
Die Gemeinde hörte andächtig zu. Vielleicht wussten sie nicht mehr, dass sie das alles schon einmal gehört hatten, oder sie mochten gerade die Wiederholung. Dann begann das Beten. Alle senkten die Köpfe. Auch Nathanael legte seine Hände so in den Schoß, wie es richtig war, mit dem rechten Daumen in der linken Handfläche. Er versuchte weiter, Hendriks Worte auszublenden, und konzentrierte sich auf den hellen Halbmond am Daumennagel.
Auch im Pausenraum brannten Kerzen. Die Leute scharten sich im Halbdunkel um die großen Metalltöpfe, der Geruch von Kräutertee und süßem Gebäck lag in der Luft. Nathanael wartete neben der Tür, bis Sarah erschien. Sie roch gut, nach Seife und Wolle.
»Komm«, sagte sie und zog ihn in den dunkelsten Teil des Raums, weit weg von den Kerzen und den redenden Erwachsenen. »Hier.« Sie blätterte in ihrem Evangelium und nahm einige lose Blätter heraus. Nathanael faltete sie und steckte sie in seine Bibel. Er blickte sich um. Niemand schien sie gesehen zu haben, seine Eltern standen mit Hendrik in einer Ecke und tranken Tee.
»Was habt ihr in der Schule gemacht?«, fragte er.
»Ich hab nicht zugehört«, antwortete Sarah. »Du kannst es nachlesen. Ich hab die Seiten aus dem Biologiebuch gerissen, pass auf, dass niemand sie sieht.«
Nathanael unterdrückte den Impuls, ihr zu sagen, dass sie die Bücher nicht zerreißen durfte. Es gab nicht viele von ihnen. Aber er brauchte die Seiten ja.
»Haben wir … habt ihr viele Hausaufgaben?«, fragte er.
»Ja«, sagte Sarah. »Viel zu viele. Ich verstehe nicht, was sein Problem ist. Wo wir doch bald Dorffest haben.«
Nathanael wusste nicht, was das mit dem Dorffest zu tun hatte, das erst Ende der Woche stattfinden würde. Aber er fragte nicht nach. »Ich geb sie dir morgen.«
»Kannst du wieder ein paar Fehler einbauen? Und meine Schrift nachmachen?«
Sarah lächelte Nathanael verschmitzt an, ihm wurde ganz flau im Magen. Mussten ihre braunen Haare so schimmern? Sie stand zu nah bei ihm. Seltsam, oft wünschte er sich, in ihrer Nähe zu sein, aber wenn er sie dann traf, wollte er nur, dass es schnell wieder vorbei war und er in Ruhe darüber nachdenken konnte, was sie gesagt und wie sie es wohl gemeint hatte.
»Ich weiß nicht, deine Schrift ist komisch«, sagte Nathanael. Sarahs Buchstaben neigten sich so stark nach rechts, dass man sie kaum lesen konnte.
»Sonst merkt er es«, sagte sie. »Er hat schon letztes Mal so seltsam geschaut.»
»Ich versuche es.«
»Ich wünschte, ich müsste auch nicht mehr in die Schule.«
»Zu Hause ist es langweilig«, antwortete Nathanael.
»Kannst ja deinem Vater helfen.«
»In der Metzgerei?« Nathanael verzog das Gesicht. Er hasste den Blutgeruch.
»Warum nicht? Ich kann Fische sehr schnell ausnehmen. Papa sagt, ich werde mal eine gute Fischerin.«
»Papa sagt was? Hallo Nathanael.«
Nathanael zuckte zusammen, er hatte Sarahs Vater nicht bemerkt. Michael war größer als Nathanaels Vater und hatte ein unförmiges Gesicht. Er reichte Sarah ein Stück Gebäck, das in ein Tuch gewickelt war.
»Gutes Essen«, lobte er. »Dafür lohnt es sich, diesem Schwätzer zuzuhören.« Und zu Nathanael gewandt: »Erzähl das nicht deinen Eltern.«
»Papa, geh doch nach Hause, wenn du nicht zuhören willst«, sagte Sarah. »Mir hat die Predigt gefallen.« Dabei schaute sie Nathanael an.
Nathanael antwortete nicht. Er verstand nicht, warum Sarah hier besser aufpasste als in der Schule. Michael schien es jedenfalls nichts auszumachen, wie Sarah mit ihm sprach, er lächelte nur.
»Du hast recht, Liebes. Es liegt sicher viel Wahres darin.«
»Nenn mich nicht Liebes.«
»Frauen«, sagte Michael zu Nathanael und lachte. Nathanael lachte mit, obwohl er nicht wusste, was Michael meinte.
»Wir machen weiter«, rief Hendrik.
Frauen, dachte Nathanael auf dem Weg zurück in den Raum. Seine Mutter in ihrem schwarzen Kleid. Sarah mit ihren glänzenden Haaren. Vanessa, die einem Mitschüler quer durch den Raum ein Buch an den Kopf warf. Die Prophetin, die angeblich im Wald lebte. Nathanael stellte sie sich mit wirren Haaren vor. Hendrik hatte gesagt, sie habe leuchtende Augen und ganz warme und trockene Hände gehabt, von dem Fieber, das ihre Visionen begleitete, und sie habe mit einem leichten Akzent gesprochen, weil sie doch als Kind von Russland hergezogen war. Er und sie seien Freunde gewesen, behauptete er, aber Nathanael vermutete, dass er log. Einmal hatte Rahel gefragt, ob denn die Prophetin Rechts- oder Linkshänderin sei, und Hendrik hatte es nicht gewusst.
Sarah setzte sich auch nach der Pause wieder neben ihren Vater. Samuel und Elias schauten sich nach Nathanael um und kicherten. Sie kamen ihm fremd vor, wie irgendwelche Jungs, mit denen er nichts zu tun hatte.