Kitabı oku: «Morgen wird ein guter Tag»

Yazı tipi:


Aus dem Englischen von Alan Tepper


www.editionkoch.de

Morgen wird ein guter Tag. Morgen wird für dich vielleicht alles viel besser sein als heute, auch wenn es heute schon gut war. Mein Heute war in Ordnung und das Morgen wird sicherlich besser. So habe ich das Leben immer gesehen.

Gewidmet all denen, die an vorderster Front im Kampfe dienen –

sei es militärisch, psychologisch oder medizinisch. Ich salutiere vor euch!

Captain Sir Tom Moore, April 2020

Impressum

Deutsche Erstausgabe 2021

© 2021 by Edition KOCH

Edition KOCH, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.editionkoch.de

ISBN 978-3-85445-706-0

Auch als Paperback erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-705-3

Titel der Originalausgabe: Tomorrow Will Be A Good Day

Erschienen 2020 bei Michael Joseph, einem Imprint der Penguin Random House Verlagsgruppe

(Global.penguinrandomhouse.com)

Autor: Captain Sir Tom Moore

© 2020 by Captain Sir Tom Moore

ISBN: 978-0-241-48610-8

© Coverfoto und Bilder Innenteil mit freundlicher Genehmigung des Autors

© Coverdesign: Penguin Random House UK

Grafischer Satz in deutscher Sprache: Thomas Auer

Übersetzung: Alan Tepper

Deutsches Lektorat: Dr. Rainer Schöttle

Korrektorat: Dr. Gabriele Rupp

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.

Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Die Memoiren basieren auf meinen Erinnerungen von Ereignissen, die schon sehr lange zurückliegen. Sie unterscheiden sich möglicherweise von denen anderer. Alle Fehler sind mir selbst zuzuschreiben.


Inhalt

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

Bilderstrecke I

8

9

10

11

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13

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Bilderstrecke II

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18

19

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23

Epilog

Danksagung

Nachruf

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Prolog

Ich hörte sie schon lange, bevor ich sie sah. Das satte Dröhnen ihrer Motoren aus dem Zweiten Weltkrieg hallte in den Hörgeräten wider, während ich am Morgen meines 100. Geburtstags draußen im Garten saß. Mit einer Decke um die Schultern zum Schutz vor der kühlen Aprilluft schaute ich hoch in den Himmel. Ich entdeckte zuerst die schnittige Hurricane, die in einer Kurve von Westen kam, um mich an dem großen Tag zu ehren, indem sie über mein Haus flog. Kurz danach sah ich die Spitfire, dieses kleine, kraftvolle Flugzeug, das die Herzen der Nation eroberte und für den britischen Geist stand.

Als die beiden Maschinen im Tiefflug über meinen Garten hinwegsausten, „wippten“ die beiden Piloten von der Royal-Air-Force-Einheit Battle of Britain Memorial Flight netterweise mit den Flügeln, bevor sie sich wieder auf den Rückweg zu ihrem Flugplatz in Coningsby machten. Ich erhob eine geballte Faust, boxte in die Luft und jubelte mit den anderen, begeistert von dieser hinreißenden Geste, die uns alle daran erinnert, was dieses Land so großartig macht. Es ist die Kraft – symbolisiert durch die Flugzeuge –, die uns auch durch die Zeit der Coronapandemie bringen wird. Da war ich mir inmitten aller Zwänge des Lockdowns sicher.

Vor 80 Jahren sah ich meine erste Hawker Hurricane, die in einer Dreierstaffel über unser Tal in Yorkshire schoss, an dem Tag der Kriegserklärung. Ich war 19 Jahre alt und erinnere mich, dass ich damals dachte: „So, das also bedeutet Krieg.“ Als Soldat in der Ausbildung sah ich später in Cornwall noch mehr Hurricanes und Spitfires, die in der Luftschlacht um England tapfer deutsche Messerschmitts abwehrten. Und es waren wieder Spitfire, die uns im 8000 Kilometer entfernten Burma dabei unterstützten, die Japaner zu besiegen, während wir sie mit unseren Panzern angriffen.

Als die Reliquien dieser dunklen Zeiten hinter den Wolken verschwanden und der Überflug zu meinem Geburtstag vorüber war, drehte ich mich zu den Filmteams hinten im Garten um und sagte: „Ich kann nicht glauben, dass dieser ganze Wirbel mir gilt – nur weil ich ein bisschen spazieren gegangen bin.“ Tatsächlich übertrafen die Ereignisse der letzten 25 Tage meine Vorstellungskraft, denn alles, was geschah, ging zurück auf einen kleinen Witz in der Familie, während ich mich von einem Hüftbruch erholte. Die Idee für den Spenden-„Lauf“, der mein Leben auf den Kopf stellte, kam wenige Wochen nach der routinemäßigen Nachuntersuchung in der örtlichen chirurgischen Ambulanz auf. Wie üblich, hatte ich der Belegschaft ein wenig Schokolade mitgebracht, um sie aufzumuntern und ein bisschen zu unterstützen.

„Du bist wirklich ein Vorbild, Tom“, schwärmte Clare, eine meiner Lieblingskrankenschwestern, nachdem ich ihr verraten hatte, dass ich über die Anschaffung eines Laufbands nachdachte. „Ich kann mir wirklich keinen 99-Jährigen vorstellen, der sich so einen Fitness-Trainer zulegen möchte!“

„Ihr seid es doch, die mir Mut machen“, entgegnete ich. „Ihr habt in den letzten 18 Monaten so viel Geduld und Einfühlungsvermögen bewiesen. Ärzte retteten das Leben meines Schwiegersohns. Und dann waren da noch die Pflegerinnen, die sich um meine verstorbene Frau Pamela kümmerten. Ich wünschte mir nur, mehr für euch tun zu können.“

Als ich mich in der Praxis verabschiedete, beschwor mich Clare, beweglich zu bleiben, und gab mir damit den Impuls für meinen kleinen „Lauf“ zu einer Zeit, in der das gesamte Land in den Lockdown musste. Es war Sonntag, der 5. April 2020, der erste durchgehend sonnige Tag des Jahres, an dem sich meine Tochter Hannah und ihre Familie, mit denen ich in Bedfordshire lebte, zu einem Barbecue in den Garten setzten. Statt die Übungen in meinem Zimmer zu absolvieren, entschied ich mich erstmals, mit dem Rollator nach draußen zu gehen und einige Runden auf der 25 Meter langen Einfahrt zu drehen. Die anderen machten ihre Witzchen und begannen mich aufzuziehen.

„Mach weiter, Opa“, heizte mich Benjie an, während er die Burger umdrehte. Die elfjährige Georgia deckte gerade den Tisch und Hannah sagte beiläufig: „Mal sehen, wie viel du schaffst.“ Ihr Mann Colin ergänzte: „Wir geben dir ein Pfund für jede Runde. Schauen wir mal, ob dir 100 Runden bis zu deinem 100. Geburtstag gelingen.“ Das sollte natürlich ein Scherz sein, denn in den anderthalb Jahren nach meiner Hüftoperation war ich noch nie so weit gegangen. Doch als ich mich aufmachte, einen Schritt nach dem anderen, dachte ich darüber nach, was sie gesagt hatten. Was wäre, wenn ich ein wenig Geld sammeln könnte, um es den Krankenschwestern und den anderen Pflegekräften zukommen zu lassen, die sich schon so viele Jahre um uns kümmerten? Und wie viele Runden würde ich vor meinem

100. Geburtstag schaffen, um ihnen beim Kampf gegen Covid-19 zu helfen? Vielleicht gelänge es Hannah, genügend Leute zum Spenden zu bringen? Mit dem Geld könnte man die kleine Armee der Pflegenden, die an vorderster Front kämpft, durch einen kleinen Beitrag unterstützen. Doch zuerst musste ich eine Runde schaffen.

Zwei Jahre früher wären mir problemlos tausend Runden oder sogar noch mehr gelungen, doch nach einem unglücklichen Sturz in der Küche, bei dem ich mir die Hüfte brach und sich eine gebrochene Rippe in meine Lunge bohrte, wäre es für mich beinahe aus gewesen. Ich muss zugeben, dass die darauf folgende Beweglichkeitseinschränkung mein Selbstvertrauen minderte und die Unabhängigkeit stark beeinträchtigte. Vor dem Ereignis war ich fit und wohlauf gewesen – ich fuhr Auto, mähte den Rasen und erledigte auch den Großteil der Gartenarbeit, wobei ich sogar mit einer Kettensäge hantierte. Mit über neunzig reiste ich noch allein nach Nepal und Burma, weil ich den Mount Everest sehen wollte. Ich flog über den Gipfel des Berges und schickte einige Postkarten nach Hause. Das Leben sollte gelebt werden, und ich habe immer daran geglaubt, dass das Alter kein Hindernis darstellt.

Nachdem ich an diesem Sonntag die erste Runde geschafft hatte, wendete ich vorsichtig den Rollator und versuchte eine zweite. „Na, siehst du“, lachte Hannah ermutigend. „Du wirst dir noch einen Fünfer verdienen!“ Insgeheim fragte ich mich, ob mir überhaupt die zweite Runde gelingen würde, doch mit der frotzelnden Familie im Nacken gab es nur einen Weg – nach vorn. Sie kannten mich gut genug, um zu wissen, dass ich mein Bestes geben würde. Das Wort eines Mannes aus Yorkshire wird zu seiner Pflicht! Bevor ich mich versah, hatten sie für mich eine Spendenseite im Internet eingerichtet mit dem Ziel, dass tausend Pfund zusammenkommen sollten. Danach nahmen sie Kontakt mit den lokalen Medien auf und trommelten dafür, mich zu unterstützen. Sie nannten es „Walk with Tom“ und überließen mir den Rest.

Die darauf folgenden Ereignisse sind schwer vorstellbar, sogar jetzt noch. Ich machte mich zu einem klitzekleinen „Lauf“ auf, doch die Aktion schien einen Nerv zu treffen. Als ich langsam und vorsichtig meine Runden zog, Schritt für Schritt, Tag für Tag, ging die kleine Spendenaktion „viral“, und mein Ziel war schon innerhalb von 24 Stunden mehr als erreicht. Blitzschnell standen Journalisten am Tor, Fernsehteams warteten im Garten, und ich trat im Frühstücksfernsehen auf. Während die Spenden unaufhaltsam eintrudelten, ging ich unbeirrt weiter. Das ganze Abenteuer wurde so surreal und aufregend, meine Beweglichkeit verbesserte sich und ich genoss jede Sekunde. Niemals hätte ich mir in meinen beinahe 100 Jahren auf dieser Welt vorstellen können, wie viel wir schließlich einnehmen würden.

Ich empfinde Demut und Dankbarkeit für all die Liebe, die mir von nah und fern zuteilwurde, und mich beeindruckt die Großzügigkeit und Güte der wunderbaren Menschen, die dazu beitrugen. Und das begann alles als ein ganz kleiner Versuch eines alten Mannes, etwas zu tun. Die Spendenaktion hat meine kühnsten Träume bei Weitem überstiegen. Ich möchte mich bei allen aus tiefstem Herzen bedanken – nicht nur für die Spende an den National Health Service, sondern auch für den wundervollen, erhebenden Aufschwung, den meine Familie und ich dadurch erlebten.

Bevor das alles geschah, war ich ein ruhiger, kleiner Mensch, der seine Tage friedvoll verlebte und auf sein Leben zurückblickte, ein Leben mit einer langen und glücklichen Ehe, zwei reizenden Töchtern und vier tollen Enkeln. Ich bereitete mich auf den VE Day [Sieg in Europa] vor und den darauf folgenden VJ Day [Sieg gegen Japan], um den 75. Jahrestag des Weltkriegsendes feierlich zu begehen. Es war ein Krieg, in dem ich in Indien und Burma in der „vergessenen Armee“ gedient hatte. Und natürlich freute ich mich auf meinen

100. Geburtstag, der mit einer kleinen Party für Familie und Freunde gefeiert werden sollte, bevor ich mich wieder in mein bescheidenes Zimmer zurückzog.

Nach dem „Lauf“ schien nicht nur jeder meinen Namen zu kennen, sondern alle wollten mehr über mich erfahren. Nun kennt man mich auf der ganzen Welt als „Captain Tom“. Ich bin zutiefst bewegt, dass ich so viele Menschen zu ihren eigenen Spendenaktionen anregte, besonders die jüngere Generation, denn sie steht für die Zukunft. Alle sagen, dass meine Leistung bemerkenswert gewesen sei, doch vor allem war es bemerkenswert, was die Menschen für mich und vor allem für das ganze Land leisteten. Das hat mir sicherlich neuen Auftrieb gegeben.

Mit dem Angebot, diese Memoiren zu verfassen, das ich erstaunlicherweise in meinem hohen Alter erhielt, habe ich zugleich die Chance bekommen, noch mehr Spenden für die Wohltätigkeitsorganisation zu sammeln, die nun unter meinem Namen gegründet wurde. Die Ziele liegen meinem Herzen am nächsten und die Mission lautet, die Einsamkeit zu bekämpfen, Hospize zu unterstützen und denen zu helfen, die einen Todesfall verarbeiten müssen – alles im Kontext einer noch nie zuvor da gewesenen Krise, in der wir alle stecken. Ich fühle mich zutiefst geehrt, eine weitere Möglichkeit erhalten zu haben, dem Land zu dienen, auf das ich so stolz bin.

Dies – nun – ist meine Geschichte.

Tom

1

„Es ist wunderbar, welch große Schritte gemacht werden,

wenn dahinter ein bedeutendes Ziel steht.“

Winston Churchill (1874–1965)

„Mach dir keine Sorgen um unseren Tom“, beruhigte meine 81-jährige Großmutter meine Mutter, als ich mit 20 Jahren in den Krieg ziehen musste. „Ich werde vom Himmel aus auf ihn aufpassen.“ Oma Fanny hielt ihr Wort und war innerhalb eines Jahres tot. Ich glaube gerne, dass sie seitdem ihre schützende Hand über mich hält.

Allerdings hätte ich beinahe den Glauben an den Himmel verloren, als ich als junges Bürschchen gespannt einen riesigen Heißluftballon beobachtete, der während der jährlichen Keighley Gala in den Wolken über meiner Heimatstadt verschwand. In den Sommerhimmel starrend, sah ich auf einmal die mutigen Fallschirmspringer, die aus der Gondel gesprungen waren. Wie durch Magie schwebten sie der Erde entgegen. Meine Freude verwandelte sich in Enttäuschung, da die Ballonfahrer nicht in der Lage waren, mir etwas über den Himmel zu berichten, der „da oben“ war, wie man mir immer erzählte. Es war das erste Mal in meinem jungen Leben, dass ich meine Eltern infrage stellte und erkannte, dass man Kindern manchmal eine Menge Lügen auftischt.

Abgesehen von dieser unerwarteten Enthüllung verbrachte ich eine sehr glückliche Kindheit und wuchs an den südlichen Ausläufern von Rombalds Moor in West Yorkshire auf, einer Gegend im Hochland, die allgemein Ilkley Moor genannt wird, was aber nicht ganz korrekt ist.

Bekannt als „Brontë Country“, war es ein Landstrich, zu dem Tausende mit Kutschen und dampflokgetriebenen Zügen pilgerten, um zu sehen, wo die drei Brontë-Schwestern im nahe gelegenen Haworth gelebt hatten.

Traurigerweise wurde keine dieser talentierten jungen Schriftstellerinnen älter als 40, da sie an den Folgen von Tuberkulose dahinschieden. Auch ihre Mutter verstarb schon früh, jedoch an Krebs. In Yorkshire, aber möglicherweise auch anderswo, sagen die Leute, dass das Geheimnis eines hohen Alters in der „Wahl“ der Großeltern und dann der Eltern liegt. Trifft das zu, habe ich es richtig gemacht.

Oma Fanny Burton war eins von acht Kindern, in Keighley geboren und dort aufgewachsen. Im Alter von 26 Jahren heiratete sie den Herrenfriseur John Hird, wonach die beiden in schneller Folge vier Kinder bekamen. Eins davon war meine Mutter Isabella, als Älteste 1886 geboren. Opa John, der schon mit 52 Jahren an Krebs verstarb – also sechs Jahre, bevor ich zur Welt kam –, arbeitete in dem Familienunternehmen, dem Friseur- und Rasier-Salon W. N. Hird’s in der Church Street. Es war ein Gemischtwarenladen mit zwei großen Schaufenstern neben dem mittigen Eingang. Ein Anzeigenblatt aus dieser Zeit beschreibt ihn als Friseursalon, Buchladen, Kiosk und Anbieter von Alltagsgegenständen, der alles von Schreibpapier und Regenschirmen bis hin zu Zigarren und Schiefertafeln für Schulkinder im Programm hatte. Als junges Mädchen, das ihrem Vater im Laden half, seifte Mutter immer die Männer mit Rasierschaum ein.

Mein Vater Wilfred Moore wurden 1885 geboren und war das jüngste von vier Kindern – zwei Jungen und zwei Mädchen. Sein Vater Thomas, der auf einer Schaffarm in Hawes, Wharfedale, auf die Welt kam, konnte weder lesen noch schreiben und ließ seinen Sohn fälschlicherweise als Wilson ins Geburtsregister eintragen. Als er ins Standesamt ging, war Wilson der einzige Name, an den er sich erinnerte. Thomas hatte sich in meine Oma Hannah Whitaker verliebt, die Tochter eines Reisigbesenmachers. Für die, die es nicht wissen: Ein Reisigbesen ist ein aus Ästen gemachter Besen, den man überwiegend draußen benutzt. Hannah arbeitete gerne als Dienstmädchen in einem Haus namens Club Nook Farm in der Nähe von Skipton, aber wohnte mit ihrer Familie in dem kleinen Dörfchen Hubberholme. Da es keine Transportmöglichkeiten gab, ritt Thomas an den Wochenenden auf seinem Pferd die 16 Kilometer hin und zurück, nur um ihr den Hof zu machen.

Nachdem das Paar in der Pfarrkirche von Hubberholme geheiratet hatte, zogen die beiden nach Keighley, wo mein in Bradford als Steinmetz ausgebildeter Großvater die Ausführung von Bauarbeiten übernahm, da er in der Landwirtschaft keine Zukunft für sich sah. Einer seiner ersten Aufträge bestand darin, eine Mauer um das 120 Hektar große Grundstück von Cliffe Castle zu errichten, ein großes Privatanwesen, aus dem man später ein Museum machte. Er benötigte vier Jahre dazu, und man entlohnte ihn mit sechs Pence die Stunde. Als er damit fertig war, beauftragte ihn der lokale Steinbruchbesitzer mit dem Bau von vier Häusern in der Gegend von Parkwood, um seine überschüssigen Steinblöcke loszuwerden. Das führte allerdings zum Bau eines ganz neuen Wohngebiets. Thomas hatte einen guten Ruf und sein Gewerbe florierte, woraufhin der ansässige Baronet Sir Prince Prince-Smith mit der Bitte an ihn herantrat, einige Geschäftsgebäude in der Cavendish Street zu errichten. Danach ging es weiter, und er baute einige der bekanntesten Wahrzeichen des Distrikts, darunter einige Mühlen, die Stadthalle, den Jubilee Tower, das Strong Close Works, Anbauten an der historischen Whinburn Hall, einige Stallungen, drei Schulen, das Star Hotel und verschiedene Gebäude in Bradford.

In Keighley bestimmte die Fertigung von Wolltextilien das Arbeitsleben. Große Firmen konzentrierten sich auf alle nur erdenklichen Aspekte dieses Industriezweigs, was von der vorbereitenden Verarbeitung und dem Spinnen der Wolle bis hin zur Herstellung von Waschmaschinen und ähnlichen Gerätschaften reichte. Daneben existierte ein riesiger Wirtschaftsbereich, in dem bis zu 6000 Beschäftigte die komplexen Maschinen für die Textilindustrie entwarfen, bauten und installierten. Dazu gehörten diverse Werkzeuge, Webstühle und Drehbänke, alles gedacht zur Stoffproduktion.

Dank des Erfolgs meines Großvaters verfügte die Familie über finanzielle Mittel, die Wilfred und seinen drei Geschwistern die Bildung ermöglichte, die dem Familienoberhaupt vorenthalten blieb. Allerdings bezeichnete man sie damals als „Halbzeitschüler“, da sie eine Hälfte des Tages in der Schule verbrachten und in der anderen irgendeiner Beschäftigung nachgingen. Mein Vater verließ die Schule mit 14 Jahren und trat dem Familienunternehmen bei, wo sein älterer Bruder William, auch Billy gerufen, bereits angestellt war. Thomas Moore & Sons führten damals ihr Geschäft von einem Grundstück in der Alice Street aus, von dem aus Shire Horses, muskulöse Arbeitspferde, die schweren Karren zogen. Mein Großvater wünschte sich ein Wohnhaus, das seinen Erfolg zeigte, und errichtete ein großes, frei stehendes Gebäude in der Banks Lane 90 in Riddlesden, damals noch ein am Stadtrand gelegenes Dorf. Er taufte sein neues Heim „Club Nook“ nach der Farm, wo er meiner Großmutter Hannah das erste Mal begegnet war. Nach der Fertigstellung verließ die Familie das alte Haus in der Skipton Road, das den Namen Hazelroyd trug. Sie schauten nie wieder zurück.

Club Nook war ein feines Steingebäude mit einer burgähnlichen Fassade und einem kleinen Mauerturm mit einem Fahnenmast. Es verfügte über einige ungewöhnliche dekorative Merkmale wie Buntglasfenster, Stürze aus massiven Steinen und schwere Eichentüren, alles Bestände von anderen, größeren Anwesen, die Opa im Laufe der Jahre demontiert und renoviert hatte. Er liebte Pferde und besaß viele Jahre lang – bis zur Ankunft der Automobile – privat ein Zugpferd und eine Kutsche. Großvater erwarb für die Bauwagen des Unternehmens die besten Shire Horses und bestand darauf, dass man sie in blitzblank gepflegten Ställen aufs Vorzüglichste behandelte. Ihre Schönheit war so überwältigend, dass man die Tiere für die Gala oder andere Anlässe in der Stadt zur Verfügung stellte. Neben seinem Haus, dem Club Nook, befand sich eine Garage für Opas geliebten De Dion-Bouton, die so penibel wie die Stallungen gebaut worden war. Man setzte dort sogar Buntglasfenster ein! Die Leute tuschelten, dass er das schicke französische Vehikel so gut wie seine Pferde behandelte. Es wurde sorgsam bis auf den kleinsten Zentimeter poliert und durfte nie bei Regen gefahren werden. In der Familie kursierte der Witz, dass man für die Karosse jeden Morgen frisches Wasser und Heu bereitstellen musste und das sie nachts in Stroh gebettet wurde.

Nachdem sich Thomas im Club Nook eingelebt hatte, baute er in nächster Nähe vier weitere Häuser. Onkel Bill und seine Frau Edith (die man Elise rief) wohnten direkt nebenan – in einem auf den Namen Westville getauften Gebäude –, und ein Grundstück weiter befand sich das Haus von Tante Jane und ihrem Mann. Die anderen wurden verkauft, und man versprach meinem Vater Wilfred, immer noch alleinstehend und zu Hause lebend, dass er eines Tages Club Nook erben würde. Seine Schwester Maggie, die Vierte in der Reihe der Geschwister, erhielt überhaupt nichts. Sie war das schwarze Schaf der Familie, da sie gegen den ausdrücklichen Wunsch meines Großvaters „unehrenhaft“ mit einem Mann durchbrannte und dann zu allem Überfluss auch noch um Geld bat, um mit ihm in die USA auszuwandern. Wutentbrannt schrie Opa, dass er ihr die Überfahrt bezahlen würde, aber keine Rückreise. Das machte er auch, doch Maggie kehrte später allein wieder zurück und bekam nie ein Haus. Sie heiratete einen ortsansässigen Schreiner und blieb von der Familie für immer ausgestoßen.

Mein Vater war recht klein und schmächtig, nicht viel größer als 1,50 Meter, aber ein von Natur aus künstlerisch veranlagter Mensch. Er liebte Tiere, Blumen und die Natur, interessierte sich für Geschichte und Handwerk. Schon in frühen Jahren begann er sich mit der Fotografie zu beschäftigen. Er benutzte eine schwere und sperrige Kamera, um Fotos von der Stadt und den Einwohnern und – später – von seinen preisgekrönten Hühnern und Dahlien (für die er viele Trophäen ergatterte) zu schießen. Vater hegte die Hoffnung, eines Tages professioneller Fotograf zu werden, doch mit 21 Jahren infizierte er sich mit einem mysteriösen Virus, durch das er auf beiden Ohren taub wurde.

In einer Ära, in der die Medizin nicht so fortschrittlich war wie heute, konnte ihm niemand die tatsächliche Ursache für die Behinderung erklären. Fest stand: Es gab keine Therapie. Die Nachricht war allein schon niederschmetternd, doch dann wurde ihm klar, dass ihm sein angeschlagener Gesundheitszustand eine Karriere als Fotograf unmöglich machte. Überhaupt stand ihm keine berufliche Laufbahn mehr offen, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als im Familienunternehmen zu bleiben, und er war ständig auf die Unterstützung seiner Angehörigen ohne Hörbehinderung angewiesen.

In seiner außergewöhnlich stillen Welt entwickelte er eine gewisse Geschicklichkeit als Lippenleser. Da er sich alles selbst beibrachte, war diese Fähigkeit aber recht primitiv ausgeprägt. Damals gab es noch keine Ausbildungsinstitutionen für Taubstumme und so gut wie gar keine Hilfe aus dem medizinischen Bereich. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts blickte man auf taube Menschen als „krank“ und „unterlegen“ hinab, sie waren Ausgestoßene der „normalen“ Gesellschaft. Man empfahl ihm sogar, niemals zu heiraten, da die Angst bestand, er könne die Behinderung vererben. Ohne Zugang zur Gebärdensprache, die damals weder gelehrt noch gefördert wurde, konnte er andere nur verstehen, wenn sie ihm in sein Ohr hineinbrüllten. Das machte normale Gespräche unmöglich und versperrte den Zugang zur Musik und zum Gesang der Vögel. Er muss sich sehr isoliert gefühlt haben.

Vaters Behinderung wirkte sich allerdings auch gnadenvoll aus, denn sie schützte ihn vor den Schrecken des Großen Krieges [der Große Krieg ist ein in Großbritannien häufig genutztes Synonym für den Ersten Weltkrieg], die er sonst hätte ertragen müssen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Deutschen in den Jahren 1914–1918 begannen, als er 21 Jahre alt war. Sie entfachten im ganzen Land eine riesige Welle des Patriotismus, und Tausende verpflichteten sich freiwillig für Lord Kitcheners „Bataillone von Freunden“, in denen man Freunde, Nachbarn und Verwandte zum gemeinsamen Militärdienst ermutigte, damit sie sich gegenseitig und andere auf dem Schlachtfeld unterstützen. Sich gemeinsam in Gruppen zur Armee zu melden, war besonders in den Städten des Nordens populär, in denen sich ganze Straßenzüge verpflichteten. Die meisten der Männer fielen zusammen in dem vierjährigen brutalen Gemetzel, das die Leben von zehn Millionen Soldaten forderte. Ganze Nachbarschaftsverbände wurden ausgelöscht, es gab Straßenzüge voller Witwen. Fast 2000 Männer der „Bradford Pals“ und 750 der 900 „Leeds Pals“ – ein Teil des West Yorkshire Regiments – starben in nur einer Stunde an der Somme, da sie direkt in einen Kugelhagel der Deutschen marschierten. In nur einem einzigen Jahr verlor Keighley 269 junge Männer und am Ende des Kriegs waren alle 900 tot. Ihrer wird mit einem imposanten Steindenkmal gedacht, das die Firma meines Großvaters errichtete und das immer noch auf dem Platz vor der Stadthalle steht. Auch den anderen Männern der Familie Moore blieben die Schützengräben erspart. Mein Großvater Thomas hatte mit 36 Jahren das Höchstalter überschritten und mein Onkel Billy, damals 33 Jahre alt, wurde nicht eingezogen. Die Gründe dafür sind mir nicht gewahr. Meine Mutter Isabella zeigte sich mehr als erleichtert, dass mein Vater in Sicherheit war wie auch ihre drei Brüder Arthur, Thomas und Harry. Sie arbeiteten in der Produktion von Rüstungsgütern und Munition, zwei in Luftschiffhangars in der Grafschaft Cumbria und bei Cardington in Bedfordshire und der dritte im Wollwich Arsenal.

Isabella Hird war mit unter 1,50 Meter noch kleiner als mein Vater und arbeitete als Direktorin in einer örtlichen Schule. Sie hatte schon früh ein Auge auf Dad geworfen und war fest entschlossen, ihn zu erobern. Körperlich gesehen, ergaben sie ein gutes Paar, und nach einer kurzen Zeit des Umwerbens kam es zu geschickt inszenierten Begegnungen: Sie kannte seinen Arbeitsweg und wartete immer an der Ecke High Street/Low Street, wo sie hinter dem Fenster eines Geschäfts Ausschau nach ihm hielt und dann plötzlich aus dem Laden schoss, so als sei es Zufall gewesen. Ihre clevere Strategie funktionierte, woraufhin die beiden am 26. April 1916 in der Kirche in Oakworth heirateten. Mit 30 Jahren befand Mutter sich in einem Alter, in dem andere sie zu jener Zeit als „alte Jungfer“ bezeichnet hätten, doch ich fand es einfach nur mutig von ihr, einen tauben Mann zu ehelichen. Ihm „nachzustellen“ erwies sich als richtig, denn sie waren während ihrer neunundvierzigjährigen Ehe stets glücklich.

Die frisch Vermählten zogen in die Cark Road 14 in Keighley, in ein zweistöckiges Reihenhaus mit ausgebautem Dachboden und einem großzügig geschnittenen Keller. Die vordere Fassade war hübsch gestaltet, doch an der Rückseite befand sich ein abschüssiges Gelände in Richtung der Flasby Street mit einer angrenzenden „Ginnel“, ein Wort, das hier im Norden eine Gasse zwischen Gebäuden beschreibt. Neben der Hintertür fand sich ein rundes Loch, durch das man bei der Anlieferung die Kohle schüttete. Meine Schwester Freda wurde 1917 zu Hause geboren, kurz vor der weltweiten Pandemie – der Spanischen Grippe –, durch die Millionen ums Leben kamen, davon allein 220 000 in Großbritannien. Die tödlichste Pandemie der Geschichte wütete in vier verschiedenen Wellen, zwei 1918, eine 1919 und die letzte im Frühjahr 1920. Als Baby war Freda während dieser Zeit natürlich besonders anfällig, und gegen Ende der Pandemie war meine Mutter mit mir in Umständen.

Glücklicherweise war kein Familienmitglied direkt von der Grippe betroffen, doch dem Grauen konnte man nicht ausweichen. Im Kriegsgefangenenlager in Raikeswood, 15 Kilometer von Skipton entfernt, hielten sich 700 deutsche Soldaten auf, und dort verbreitete sich das Virus rasend schnell. Mehrere Wachen starben und Hunderte von Gefangenen infizierten sich. 1919 brachte man 90 von ihnen in das Fever Hospital in Morton Banks im Vorort Riddlesden, wo 47 verstarben. Sie wurden mit allen militärischen Ehren auf dem Friedhof von Morton beigesetzt.

Ich gesellte mich am 30. April 1920 zu meiner Familie, wenige Monate nachdem das Virus endlich abgeebbt war. Es waren circa eineinhalb Jahre seit dem Kriegsende vergangen, und genau an diesem Tag hob die britische Regierung unter Premierminister David Lloyd George die allgemeine Wehrpflicht auf. Wie Freda kam auch ich zu Hause auf die Welt, wobei Oma Fanny half, denn Hebammen mussten bezahlt werden. Außerdem gab es nur wenige und sie wohnten meist weit entfernt. Erst kurze Zeit davor war die Tätigkeit offiziell als Beruf anerkannt worden. Zum Glück aller Beteiligten war meine Geburt nicht besonders beschwerlich. Damals machte ich meiner Mutter keine allzu großen Mühen! In meinem Geburtsjahr saß Georg V. auf dem Thron, Winston Churchill war Kriegsminister, Rupert Bear wurde als Comic-Figur im Daily Express geboren und die Suffragette Sylvia Pankhurst wurde für sechs Monate ins Gefängnis geworfen, da sie für das Frauenwahlrecht demonstriert hatte – ein Recht, dessen Verwirklichung noch acht Jahre auf sich warten ließ. Als ich auf dieser Welt ankam, gehörte ich zu den 1,1 Millionen Geburten im Land, die höchste Rate seit Beginn der Aufzeichnungen. Auch für den Duke of York war es ein wichtiges Jahr, denn er begegnete Elizabeth Bowes-Lyon, einer Lady, aus der die allseits geliebte Queen Mother unseres Landes wurde.