Kitabı oku: «Himmel küsst Erde»
Das Buch
Der Wind singt Lieder, bringt Bäume und Gräser zum Tanzen und stürmt umher. Er erzählt Geschichten als die Erde noch jung war. Und dann ist da der Steinriese, der mit allen Lebewesen seine Weisheit teilt. Im dichten Wald kommt ein kleiner Junge der Sprache der Bäume auf die Spur. Und in einer eisigen Winternacht schart Großmutter ihre Enkel um sich und offenbart ihnen das Geheimnis ihres Lebens. Wie indianische Märchen kommen Sonja Spittelers Geschichten daher - und treffen mit ihrer Schönheit und Weisheit die Menschen direkt ins Herz.
Die Autorin
Wie viele Menschen liebt Sonja Spitteler das Leben und die Natur. Doch die Geschichten, die sie darüber schreibt, schreibt sie wie keine zweite. "Ich wollte", schreibt die Autorin, "ein klein wenig von meiner Zufriedenheit mit der Welt teilen und das näher bringen, was ich liebe: Mutter Erde und das Leben."
Sonja Spitteler, Jahrgang 1989, ist seit ihrer Kindheit von der indianischen Kultur fasziniert, ihre Weisheit wurde ihr Begleiter durch das Leben. Nach einer Buchhändlerlehre (die ihrer Leidenschaft für das Schreiben geschuldet war) ließ sie sich zur Therapeutin ausbilden. Seit 2013 arbeitet sie in eigener Praxis.
Sonja Spitteler lebt in Füllinsdorf in der Schweiz. Nach ihrem Erstlingserfolg "Als der Efeu sich verliebte" legt sie nun ihr zweites Buch vor.
Sonja Spitteler
Himmel küsst Erde
Von der Hingabe, von der Kraft, vom Leben

Inhaltsverzeichnis
Umschlag
Das Buch / Die Autorin
Titel
Inhaltsverzeichnis
Dank
Einleitung
Wenn Vater Himmel Mutter Erde küsst
Aikarupata und der Flötenspieler
Das lange Warten
Die Stehenden Leute
Eine Tochter der Erde
Die Suche nach der Stärke
Im Kreis des Lebens
Glossar
Impressum
Für meine Familie
Dank
Es gibt viele Menschen, denen ich die Entstehung dieser Geschichten verdanke.
Meine Eltern, Christine und Manfred, meine Schwester Andrea und mein Bruder Simon - danke, dass ihr für mich da seid. Und danke an meinen Vater für die wundervollen Zeichnungen.
Francesca, danke für die vielen Anregungen und die Freundschaft.
Nicole ist es zu verdanken, dass die Geschichten fließen.
Danke an einige ganz besondere Menschen: Amanda, Tamara, Brigid, Simone, Mark, Aline, Susi, Mira, Silvio und Esther.
Charly, danke für das Beantworten meiner Fragen und die farbenfrohen Reisen.
Danke an Gertraud Reichel und das Team vom Reichel Verlag für die gute Zusammenarbeit.
Danke an die Sonne und die Sterne, an die vier Himmelsrichtungen und Mutter Erde. Danke an den Großen Geist für das schöne Mysterium des Lebens. Danke, dass Ihr Eure Geschichten mit uns teilt.
Mitakuye Oyasin
Einleitung
Geschichten können viel mehr sein als bloße Worte; sie erzählen von unserer Vergangenheit, wer wir sind, woher wir kommen, wofür wir kämpf(t)en. Geschichten geben Weisheiten und die damit verbundene Verantwortung weiter. Sie unterhalten, erfreuen und weisen manchmal auf Gefahren hin - und sie sind auch ein Teil unserer Vermächtnisse.
Für mich war es immer etwas Besonderes, wenn unsere Mutter uns eine Geschichte erzählte. An die Gefühle von Geborgenheit während des Zuhörens kann ich mich noch heute erinnern. Also habe ich mich hingesetzt und begonnen, diese Gefühle in Geschichten zu verpacken. Ich wollte ein wenig von meiner Zufriedenheit mit der Welt teilen und das näher bringen, was ich liebe: Mutter Erde und das Leben!
Seit ich mich erinnern kann, ist mein Leben von einer starken Verbundenheit zur indianischen Spiritualität geprägt. Deshalb sind die Geschichten in diesem Umfeld angesiedelt. Hierzu ist es mir ein großes Anliegen zu erwähnen, dass ich sämtliche angegebenen Rituale, Namen oder Orte nach meinem besten Wissen und Gewissen eingefügt habe. Im Rahmen der einzelnen Geschichten gibt es selbstverständlich einige vereinfacht beschriebene Erklärungen oder Ergänzungen durch eigene Erfahrungen. Es ist auch gut im Hinterkopf zu behalten, dass die Geschichten hauptsächlich auf Fiktion beruhen.
Ein weiterer wichtiger Grundzug der Geschichten sind die Wiederholungen. Dies ist ganz im Sinne der Natur - 4 Jahreszeiten, 4 Himmelsrichtungen, 4 Alter etc. - und spiegelt sich auch in der Erzählweise der Indianer, ebenso wie bei vielen Naturvölkern rund um den Globus, wider.
Abgesehen von einer Geschichte habe ich die restlichen sechs bewusst in der Vergangenheit angesiedelt, noch vor dem tragischen Zusammentreffen mit den weißen Siedlern. Mir schien es für die Dinge, die ich ausdrücken wollte, passender zu sein. Dennoch darf nicht vergessen gehen, wie viel durch die sogenannte "Zivilisierung" verloren gegangen ist; die Freiheit und die Träume eines Volkes.
Es ist mein großer Traum, dass der Mensch sich wieder als einen Teil des Lebens erkennt und über Mutter Erde wacht, statt sie auszubeuten. Mit diesen Gedanken und im Andenken an die Menschen, die für ihre Art zu leben gestorben sind, wurden diese Geschichten geschrieben. Aber auch, um den Mut zu fördern, auf das eigene Herz zu hören.

Wenn Vater Himmel
Mutter Erde küsst
Ihr sollt wissen, dass alles, was ihr braucht, Geschenke der Erde unten, des Himmels oben und der vier Winde sind."
White Buffalo Calf Woman1
Der Wind war schon seit jeher ein vergnügter Geselle. Er erzählt gerne Geschichten, singt Lieder, bringt Bäume und Gräser zum Tanzen und stürmt umher. An manchen Tagen, da spricht der Wind von seinen Erinnerungen. Einem Flüstern gleich berichtet er von Tagen, als Mutter Erde noch jung war. Das Wispern erzählt von einer Zeit, als es noch keine Jahreszeitenwechsel gab. Keinen blühenden Frühling, keinen sonnigen Sommer, keinen farbenfrohen Herbst und keinen weißen Winter. Kannst du dir ein Dasein ohne Jahreszeiten vorstellen? Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlen würde? Nein? Ich konnte es auch nicht, aber der Wind hat mir erzählt...
… in diesen alten Tagen folgte das Leben einem anderen Rhythmus; die Blumen strahlten ununterbrochen, die Bäume trugen stets frische Triebe, die Natur war immergrün und die Tiere brachten ihre Jungen zur Welt, wann es ihnen beliebte. Von Zeit zu Zeit kam ein Gewitter, brachte frischen Regen, um danach alles noch kräftiger und schöner gedeihen zu lassen. Die Tage waren nicht zu warm, die Nächte nicht zu kühl. Mutter Erde sorgte liebevoll für ihre Bewohner und von oben wachte Vater Himmel über alle.
Vater Himmel und Mutter Erde sind Mann und Frau, und ich, der Wind, bin ihr Kind. Da ich mich nicht hatte entscheiden können, ob ich lieber bei meiner Mutter oder bei meinem Vater aufwuchs, lebte ich dazwischen. Es gefiel mir dort sogar so gut, dass ich bis heute hier hause. Nach einer Weile habe ich auch einige Aufgaben übernommen, wie das Zusammentreiben der Wolken für ein Gewitter oder das Verteilen der Blütenpollen. Mein Leben war schön, doch ich spürte, dass mir etwas fehlte. Vielleicht war die Zeit reif für eine Veränderung und von dieser möchte ich euch gerne erzählen:
Meine Mutter ist ein überaus fleißiges Wesen und nichts bereitet ihr mehr Freude, als Lebewesen wachsen und gedeihen zu sehen. überall streckt sie ihre helfende Hand aus, bietet Nahrung, Schutz und Heimat. Das Wohl des Ganzen steht bei ihr immer an erster Stelle.
Es kam der Tag, da änderte sich unser ganzes Dasein. Vater Himmel hatte beschlossen, sich einige Tage frei zu nehmen und versteckte sein Antlitz hinter einer dichten Wolkenwand, welche ich für ihn zusammentrieb. Er tat dies bisweilen, um wieder neue Kraft zu schöpfen, denn es ist eine anstrengende Arbeit, das Leben und Mutter Erde zu beschützen.
An jenem Tag beschloss Vater Himmel seine Ehefrau zu besuchen. Schon länger hatte er das Gefühl, dass auf der Erde etwas nicht mehr so war, wie es sein sollte. Als er auf der Erdoberfläche landete, fragte er nach ihr. Die Geister2 verwiesen ihn auf die andere Seite der Kugel, wo gerade Tag war. Er bedankte sich und machte sich auf den Weg. Unterwegs legte er mehrmals Rast ein, um die vielfältige Schönheit seiner Frau zu bewundern. Dennoch, irgendwie schien ihm, als wären die Pflanzen kraftlos, und viele Tiere wirkten erschöpft. Beunruhigt eilte er weiter. Kaum kam er auf der anderen Erdseite an, war es dort bereits wieder Nacht. Müde von der Wanderung setzte sich Vater Himmel auf einen Hügel, um auf den Sonnenaufgang zu warten. Als am nächsten Morgen die Vögel zu singen begannen, tauchte auch seine liebe Frau wieder auf.
Vater Himmel erschrak, denn hatten die Pflanzen und Tiere schon einen niedergeschlagenen Eindruck gemacht, so sah seine Frau wirklich krank aus. Tiefe Ringe lagen unter ihren Augen, ihre Haut war trocken und faltig, das einst dichte Haar war stumpf und licht geworden, ihre Stimme schwach. Zögernd nahm er seine Frau zur Begrüßung in die Arme. "Meine Liebste, was ist mit dir geschehen?", fragte er besorgt.
Sie sah ihn verwirrt an. "Wieso fragst du?"
Vater Himmel räusperte sich etwas verlegen, denn es hatte sich noch nie als ratsam erwiesen, einer Frau zu sagen, dass sie gerade fürchterlich aussah - selbst wenn es der Wahrheit entsprach. "Nun … du siehst erschöpft aus", meinte er zögernd. "Willst du dich nicht ein wenig zu mir setzten?"
Doch Mutter Erde winkte mit einem Lächeln ab. "Oh, ich habe bloß viel zu tun und leider auch keine Zeit für ein Gespräch."
Ihr Ehemann hatte eine solche Antwort befürchtet. "Das mag wohl so sein, aber sag mir, was hast du denn so Wichtiges zu erledigen?"
Mutter Erde sah ihn verständnislos an. "Sie brauchen mich, all die Blumen und Bäume, die Tiere, Flüsse und Seen. Ich muss auf sie aufpassen, damit sie stark und gesund heranwachsen. Ohne mich würden sie alle sterben."
Vater Himmel nickte und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Natürlich war ihm klar, dass das Leben aus Mutter Erdes Leib geboren wurde. So dachte er kurz nach, wippte dabei leicht auf seinen Fußsohlen vor und zurück. "Du hast selbstverständlich recht", sagte er schließlich. "Gleichwohl, wenn es wieder Nacht wird, hast du sicherlich Zeit."
Da lachte seine Frau erheitert auf, schüttelte den Kopf. "Wenn es hier Nacht ist, dann ist es auf der anderen Seite Tag und ich werde dort gebraucht."
Vater Himmel seufzte niedergeschlagen. "Stimmt, das habe ich ganz vergessen. Sag mir, wann hast du einmal eine Pause?"
Nun sah Mutter Erde ihren Mann beinahe erbost an. "Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Pause. Wenn du mich entschuldigst, ich habe einiges zu tun."
So schritt sie einfach von dannen und ließ einen zutiefst bestürzten Ehemann zurück. Für eine geraume Weile blieb dieser wie festgefroren stehen. Tief betroffen von der Aussage seiner Frau erkannte Vater Himmel, was das pausenlose Arbeiten seiner Frau für Folgen nach sich ziehen würde. Wenn Mutter Erde nie etwas Zeit für sich hatte, konnte sie sich auch nie erholen, um zu neuen Kräften zu kommen. Sie wäre auch nie fähig, Altes hinter sich zu lassen, um Neues zu erschaffen. Irgendwann hätte sie all ihre Ressourcen aufgebraucht und genau wie ein Gewässer würde sie erst stillstehen, danach trüb werden, um schließlich zu verdunsten, und dann … nun, dann würde es bald kein Leben mehr geben. Ebenso wenig wie eine Mutter Erde.
Nein, Vater Himmel würde nicht tatenlos zusehen, wie sich seine liebe Frau zu Grunde richtete. Er beschloss den Großen Geist3, unser aller Schöpfer, um Rat zu fragen. Sicherlich würde der Große Geist eine Lösung wissen. Also bat mein Vater mich, den Wind, die Wolkenwand noch eine Weile aufrechtzuerhalten.
Vater Himmel ging zum Großen Geist und trug sein Anliegen vor. Der Große Geist war sehr besorgt. Er versprach Vater Himmel, etwas dagegen zu unternehmen. Einigermaßen beruhigt, nahm Vater Himmel also seinen Platz wieder ein und wachte weiter über seine liebe Ehefrau. Ich genoss meine Freiheit, achtete aber weiterhin darauf, meiner Mutter mit wilden Stürmen nicht noch mehr Arbeit aufzuhalsen. Währenddessen eilte Mutter Erde ohne Unterlass geschäftig hin und her. Sie kümmerte sich liebevoll um jedes Pflänzchen und Steinchen, besuchte den Nachwuchs der Tiere und wurde dabei immer schwächer. Die Farben begannen zu verblassen, die Blumen brachten nur noch kleine Blüten hervor und bald fehlte es überall an Nahrung. Es ging sogar so weit, dass Mutter Erde gelegentlich einfach einnickte. Dann gab es für einige Tage keine neuen Triebe mehr.
In all dieser Zeit hatte sich der Große Geist Gedanken gemacht und nach einer Lösung zum Wohle des Ganzen gesucht. Als er dann eine gefunden hatte, bat er uns um unsere Mithilfe.
"Meine Kinder", sagte er, "hört mich an. Wind, mein Enkel, du wirst deine vier Windkinder in vier Richtungen verteilen. Sie sollen zu den vier Himmelsrichtungen - Norden, Osten, Süden und Westen - werden und ein jeder steht für eine Jahreszeit.
Eine große Flut wird kommen und Mutter Erde wird gestärkt daraus hervorkommen; denn von diesem Tag an soll sie vier Wechsel erhalten, welche sich immer wiederholen. Es wird eine Zeit des Wachstums, der Geburten und des Blühens geben. Die erste Zeit wird den Namen Frühling tragen und der Ostwind wird sein Wächter. Es werden die kraftvollsten Tage sein, eine Zeit für Neuanfänge. Während dieser Tage steht alles in voller Größe, um Energie für den nächsten Wechsel zu sammeln. Danach wird der Sommer folgen, eine Zeit der Wärme und des Lichts unter dem Schutz des Südwindes. Es soll eine freudige und festliche Zeit sein, mit langen Tagen und kurzen Nächten. Nach Ablauf des Sommers wird der bunte Herbst mit dem Westwind Einzug halten. Pflanzen und Tiere beginnen sich auf die längeren Nächte vorzubereiten und ihre Kräfte zu schonen. Die Bäume werden ihre Blätter abwerfen, um den nackten Erdboden für die Zeit danach zu schützen. Sie dürfen ein letztes Mal in herrlichen Farben erstrahlen, zu Ehren der Sonne und des Lebens. Was dann kommt, wird die Zeit der Stille und Erholung sein. Der Winter wird Mutter Erde sowie allem Leben auf ihr die Gelegenheit geben, sich auszuruhen, nachzudenken und zu schlafen. Du, Vater Himmel, wirst deine Frau mit weißem, kühlem Schnee bedecken und weiterhin über sie wachen, während sie ruht. Dabei wird dir der kalte Nordwind helfen. Von nun an haben sich alle Lebewesen auf Mutter Erde an diesen Rhythmus zu halten. Die Wechsel dienen dem Schutz von Mutter Erde, ebenso wie der Sicherheit des Lebens. Du, Vater Himmel, und du, Wind mit deinen vier Kindern, seid dafür verantwortlich, die Pflanzen und Tiere daran zu erinnern. Ihr werdet die Wechsel einläuten und dafür sorgen, dass sich auch Mutter Erde daran hält."
Und so wurde es beschlossen.
Am Tag darauf rollte eine große Flutwelle über Mutter Erde, und als das Leben langsam wieder an die Oberfläche kam, hatte sich einiges verändert. Auf einmal gab es vier Himmelsrichtungen mit den vier Winden und vier Jahreszeiten. Es gab eine Zeit der Wärme, eine Zeit der Kälte und zwei Übergänge. Die Tiere und Pflanzen hatten sich bald angepasst. Von nun an blühten viele Blumen im Frühling, wenn die Tiere ihren Nachwuchs gebaren. So hatten die Jungen genügend Zeit, groß und stark zu werden, bis der Winter kam.
Und Mutter Erde - sie war überglücklich, nie zuvor hatte sie wirklich an sich selbst gedacht. Stets hatte sie das Wohl des Lebens über das eigene gestellt und dabei vergessen, dass sie selbst es ist, welche das Leben erst möglich macht. Sie wusste nun, dass man zwischendurch für sich selbst sorgen muss, will man anderen helfen.
Natürlich war auch Vater Himmel sehr zufrieden mit diesen vier Wechseln. Nicht nur schenkten sie seiner lieben Frau Erholung, sondern gaben ihnen auch Gelegenheit, etwas Zeit füreinander zu finden. So also wurde der Schnee aus Liebe geboren, aus der Liebe und Sorge von Vater Himmel zu seiner Frau, Mutter Erde. Und der Schnee … ihr könnt euch ja denken, was der Schnee ist … weiße, weiche Küsse...

Aikarupata und der Flötenspieler
Einst gab es einen Berg. Der Fels war ein Gigant und wer seinen Kopf in den Nacken legte, konnte dessen Spitze nur erahnen. Auf seinem starken Leib wohnten unzählige Wesen. Hohe Bäume reckten ihre Arme gen Vater Himmel, Blumen schmückten die steilen Hänge, Quellen entsprangen aus dem Berginnern. Viele Geschichten wurden hier geboren. Adler zogen ihre Kreise unter dem Himmelsdach und dank den vielen Nagetieren mussten sie hier nie hungern. Der Berg war ein Zuhause für alle, ein Ort der Ruhe und Selbstfindung. Selbst bei den Menschen genoss der Steinriese ein großes Ansehen. Von weit her pilgerten sie zum Berg. Die Menschen erhofften sich Heilung ebenso wie Weisheit von den alten Steinen. Aikarupata4 - der wachende Weise, so wurde der Fels genannt.
Die Geschichten erzählen, dass der Steinriese der erste Fels auf Mutter Erde überhaupt gewesen sei. Ein Stein wächst nur sehr langsam. Sah man sich nun Aikarupatas Größe an, musste er wirklich alt sein. Aikarupata stammte aus einer Zeit, in welcher die Erde nur von den vier Elementen - Feuer, Wasser, Erde und Luft - belebt gewesen war. Der wachende Weise war dabei, wie die ersten Pflanzen ihre Wurzeln schlugen, um an seinen kleineren Hängen hoch zu wachsen. Er war hier, als die Tiere geboren wurden. Als die ersten Menschen kamen, war Aikarupata an Jahren gesehen schon ein Greis. Ihr seht also, Aikarupatas Wissen ist so alt wie die Welt. Die Menschen sahen in ihm den lebendigen Beweis für die Verbundenheit von Vergangenheit und Gegenwart. Aikarupatas graue Brocken berichteten von den Tagen, die einst waren. Sie sangen Lieder von Taten der ehemaligen Bewohner. Ehre deine Vorfahren, das verkörperte der Berg für die Menschen.
Viele erwünschten sich das Privileg, auf Aikarupata leben zu dürfen, doch der Weise hatte seine eigenen Gesetze. So mochte er die Tiere lieber als die Menschen und erlaubte ersteren auf ihm zu hausen. Den Menschen jedoch verwehrte er den Zutritt auf seinen Boden. Sie durften in seiner Nähe ihre Lager aufstellen, um ihre Lieder zu singen, denn ihre Musik hörte er gerne. Nur ganz wenigen Menschen gab Aikarupata jemals Ratschläge, denn sie waren ihm seit jeher suspekt gewesen. Er konnte nicht erkennen, wozu sie gut sein sollten. Jedes Lebewesen auf Mutter Erde hatte seinen Zweck, aber was wollte er mit diesen merkwürdigen Geschöpfen anfangen?
Aikarupata waren die Gesetze des Lebens heilig. Er lebte und wuchs mit Mutter Erde, ein endloser Zyklus aus Leben und Tod. Nichts währte ewig, nicht alles musste man immer verstehen. Dies war etwas, was ihn bei den Menschen verunsicherte. Sie mussten ihren Kindern erst beibringen, wie man mit dem Leben respektvoll umzugehen hatte. Die Tiere aber lebten Instinktiv so, wie es ihrer Natur entsprach.
Es kam der Tag, da spürte der Weise, dass nun seine Zeit gekommen war. Sein Herz war zum ersten Mal von einer ungewohnten Müdigkeit befallen. Aikarupata hatte dies bei seinen Bewohnern schon oft beobachtet. Er wusste, dass alles vergänglich war. Seine Tage waren gezählt und er war bereit, nach Hause zu gehen, die körperlichen Grenzen hinter sich zu lassen. Aikarupata hatte keine Angst vor dem "danach", denn er wusste, der Große Geist würde ihn tragen. Seine Sorge galt einzig seinen Kindern, welche über diese lange Zeit in seinem Schutz hatten wachsen können. Da der Berg wusste, dass er zu gehen hatte, schickte er all seine Bewohner fort, um diese letzte Zeit in stillem Gebet verbringen zu können.
Nach und nach verließen sie ihn alle. Zuerst flogen die Vögel davon, während Aikarupata ihnen mit leichter Wehmut nachblickte. Dann folgten die Wassertiere den Bächen hinab, verteilten sich in die Seen und Flüsse in seiner Umgebung. Mit ihnen gingen die Vierbeiner und die Insekten. Auch die Bäume und Pflanzen zogen sich langsam bis zu seinen Füßen zurück. Auf einmal versiegte das Wasser. Es fühlte sich seltsam an, so ganz ohne die Geräusche seiner Bewohner. Da aber sah Aikarupata, dass sich alle in seiner Nähe niedergelassen hatten. Sie wollten ihn bei seinem Abschied begleiten. Darüber war der Berg sehr glücklich. Was mehr konnte er sich vom Leben wünschen, als dass seine Freunde ihm bei seiner letzten Reise zur Seite stehen würden.
Sonne und Mond wechselten sich viele Male ab und noch immer ragte Aikarupata hoch in den Himmel hinauf. Nichts als nackter Stein war von ihm übrig geblieben und dennoch nahm der Strom von Bittstellern nicht ab. Menschen kamen in Massen, denn sie konnten sich eine Welt ohne den Steinriesen nicht vorstellen. Jeder von ihnen erhoffte sich eine Antwort vom wachenden Weisen, bevor er sie verlassen würde.
Unter den vielen Bittstellern befand sich auch ein junger Mann. Er kam von weither, um den Berg zu sehen. Aber anders als alle anderen war er nicht hier, um Aikarupata etwas zu fragen, sondern um ihm seinen Respekt zu zollen. Seine Mutter wuchs am Fuß des Berges auf, weshalb sie unzählige Legenden über Aikarupata kannte. Die Geschichten, die seine Mutter ihm erzählt hatte, waren dem jungen Mann heilig. Durch viele schwierige Entscheidungen seines Lebens hatten sie ihn geführt und große Träume in ihm geweckt. Deshalb war er gekommen, um dem Berg seine Dankbarkeit für dessen Vermächtnis auszudrücken. Denn ohne diese Geschichten wäre er heute nicht der, der er ist.
Mit nichts weiter als seiner Kleidung, einem Messer und seiner Flöte war er losgezogen. Während des ganzen Weges hierher hatte er sich den Kopf zerbrochen, wie man sich wohl am besten bei einem Berg wie Aikarupata bedanken konnte.
Als er schließlich zu dessen Füßen stand, war er so ratlos wie zuvor. So setzte er sich erst einmal auf einen Felsen, um sich auszuruhen. Die Luft war trocken. Aikarupata war selbst in der jetzigen Form noch größer und schöner, als seine Mutter ihn beschrieben hatte. Seine Spitze schien beinahe den wolkenfreien Himmel zu kitzeln, als würde er dem Großen Geist noch näher sein wollen. Der junge Mann konnte sich gut vorstellen hier zu leben. Ein endloses Meer aus Gras umschloss den Steinriesen. Wenn der Wind mit den Gräsern spielte, sah es aus, als würde es Wasser gleich am Felsen brechen. Der junge Mann schloss die Augen, um Aikarupatas Gegenwart in sich aufzunehmen. Doch die Entspannung wollte nicht kommen. Ein solch reger Betrieb herrschte rund um den Berg, dass an Ruhe nicht zu denken war. Wenn es ihm schon zu laut war, wie musste sich da erst Aikarupata fühlen? Da griff er in die Tasche und holte seine Flöte hervor. Sein Großvater hatte ihm beigebracht, dass die Flöte dort helfen konnte, wo Worte fehlen. Vielleicht könnte er dem Weisen mit seinem Spiel etwas Beruhigung schenken.
Der junge Mann begann zu spielen und er spielte wie nie zuvor. Er verfiel in eine tiefe Trance, wurde eins mit seiner Flöte. Fühlte, wie das Holz ob den Tönen vibrierte, lebendig wurde. Die Sonne versank am Horizont und bald war der Himmel erhellt vom Licht der Gestirne. Dennoch dachte der junge Mann nicht ans Aufhören. Er legte sein ganzes Herzblut in seinen Atem, vergaß dabei Raum und Zeit. Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten bereits wieder sein Gesicht, als der junge Mann endlich aus seinem Spiel erwachte.
Stille hatte sich über den Berg und seine Umgebung gelegt. Sogar der Wind schwieg und dann, ganz leise, war eine tiefe Stimme zu hören.
"Flötenspieler", sagte da Aikarupata.
Groß war das Erstaunen beim jungen Mann, als der wachende Weise ihn ansprach.
"Aikarupata", antwortete er und neigte seinen Kopf respektvoll in dessen Richtung.
"Komm, setz dich eine Weile zu mir", meinte der Berg. Sogleich erschien im Stein ein schmaler Weg, der in die Höhe führte.
Langsam erhob sich der junge Mann. Vom langen Sitzen schmerzten seine Glieder und er fühlte sich noch leicht benommen. Doch es war unhöflich, einen Weisen lange warten zu lassen. Also hob der junge Mann seine Ledertasche auf, um sich schweigend auf den Weg nach oben zu machen. Lange folgte er dem Pfad, immer höher und höher, Biegung um Biegung. Die Sonne brannte heiß auf den nackten Felsen hinab, der Wind stand beharrlich still. Nach einer Weile zitterte der junge Mann vor Anstrengung am ganzen Leib. Aber aufgeben lag nicht in seiner Natur und so setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er schließlich auf dem Gipfel ankam.
Ein einzelner Fels wuchs aus der Mitte und erschöpft setzte sich der junge Mann darauf. Die Luft hier oben war wundervoll erfrischend. Er fühlte sich dem Himmel näher als je zuvor. Verträumt ließ er seinen Blick über den Horizont schweifen, während sich sein erschöpfter Körper wieder erholte. Die ganze Zeit über war sich der Flötenspieler der großen Ehre bewusst, welche ihm hier zuteilwurde. Noch nie zuvor hatte er gehört, dass der Berg einem Menschen Zutritt auf seinen Leib gewährt hatte.
"Erzähl mir von deinem Leben, Menschenmann", erklang Aikarupatas körperlose Stimme von neuem.
Nur zu gerne kam der junge Mann der Aufforderung des Weisen nach. So begann er mit seiner Geschichte, als er ein kleiner Junge gewesen war. Er berichtete dem Berg von den Erzählungen, die seine Mutter ihm weitergegeben hatte. Wie sie damit die langen Winterabende ausgefüllt hatte. Oder wie ihn seine Mutter während der großen Sommergewitter mit Legenden über den Weisen hatte beruhigen können. "Hoksila"5, pflegte sie dann zu sagen, "hab keine Angst. Aikarupata ist stark und weise. Er wird den Himmel für uns halten, damit die Donnerwesen nicht auf den Boden fallen können."
Der Flötenspieler nahm Aikarupata mit auf seine Reisen vom Kind zum Mann. Mit leuchtenden Augen sprach er über seine erste Hanblechia6, seine Visionssuche, über die Traditionen seines Volkes und die Liebe zu seiner Familie. Er erklärte dem Berg, wie wichtig es für die Menschen war, das Leben mit Respekt zu behandeln, aber wie schwierig es manchmal sein konnte, gegen die eigenen Schatten ankämpfen zu müssen. Er schwärmte vom klaren Sternenhimmel genauso wie von den hellen Sonnenstrahlen.
Schweigend hörte Aikarupata zu. So hatte noch kein Mensch zu ihm gesprochen. Alle waren sie immer mit Fragen gekommen, in der Erwartung auf eine Antwort. Hier jedoch saß ein Mann, noch so jung an Jahren, der seinen Platz in der Welt kannte. Auch dank der Geschichten um ihn, den wachenden Weisen. Aikarupata war zutiefst beeindruckt. Gleichwohl, dass die Rasse der Menschen zu den jüngsten auf Mutter Erde zählte, begannen sie ihn trotz ihrer Absonderlichkeiten auf einmal zu faszinieren.
Er erkannte, dass der Mensch liebevoll und zerstörerisch zugleich sein konnte. Auf der anderen Seite konnte er auch gütig sein, seinen Respekt dem Leben gegenüber zeigen. Da erkannte Aikarupata das sensible Gleichgewicht zwischen den Menschen und Mutter Erde. Er wusste, dass die Menschen gekommen waren, um über die gütige Mutter zu wachen. Nun erkannte er einen Grund für die Existenz dieser Zweibeiner. Sie würden an seiner statt für das Land sorgen, es in Ehren halten und von ihm leben. Es sollte eine Verbindung werden, die alle Generationen mit einschließen wird. Aber waren sie dieser Aufgabe auch würdig?
Als der junge Mann mit seiner Erzählung am Ende angelangt war, stand die Mondfrau bereits wieder rund und voll am Himmel. Berg und Mensch betrachteten eine Weile den klaren Nachthimmel.
"Sag mir, Flötenspieler", fragte da Aikarupata in die Stille hinein, "was bedeutet dir diese Flöte in deiner Hand? Euch beide verbindet eine tiefe Harmonie, die ich gerne verstehen würde."
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