Kitabı oku: «Hope.», sayfa 2
KAPITEL 1 Grausamkeit ist verrückt
Zwölf Jahre später
»Ruf mich morgen früh an. Dann gebe ich dir eine Ant-wort.«
Er schweigt.
»Ich muss arbeiten. Wirklich. Verstehst du«, rechtfertige, nein, verteidige ich meine letzten beiden Sätze.
»Schön. Wie du willst«, sagt er eilig.
Offenbar ist er von mir genervt. (Wie sooft.) Die Verbindung wird unterbrochen. Bar jedes Gedankens, blicke ich auf mein Handy. Ich lege es auf die Fensterbank.
* * *
Ich atme tief aus und wünsche, ich könnte die gewöhnliche Beschaffenheit der Ereignisse so schildern, dass sie geradlinig in die Gegenwart führen, um zu verstehen, nein, um zu fühlen, wer ich heute eigentlich bin, was aus mir geworden ist, wie ich ihm entgegentreten, wie ich mich entscheiden soll; ich, die Konsequenz meiner Taten. Es fällt mir schwer. Ich versuche es trotzdem.
Die Nacht ist still, als ich entführt werde.
Der Sand, über den wir tagelang marschieren, ist heiß.
Die Machete glänzt im Sonnenlicht. Ich hebe sie auf.
Vaters Schädel zerbricht unter meinen erbarmungslosen Tritten.
Die Bilder lassen mich nicht los. Ich habe oft das Gefühl, dass mir im nächsten Augenblick etwas Schreckliches passieren könnte. Deshalb kann ich manchmal tagelang nicht meine Hütte verlassen. Ich habe auch fortwährend große Angst vor anderen Menschen und bin immer froh, wenn ich allein sein kann. Wenn ich mit anderen zusammen bin, fühle ich mich total einsam und sehr unwohl. Mir sind Menschen fremd, und ich kann niemandem wirklich vertrauen. Dann bete ich das Vaterunser. Bei Gott finde ich Halt. Immer. Beständig. Manchmal. Selbst wenn es mir zuweilen so vorkommt, dass ich den Verstand verliere, ich bin nicht verrückt. Grausamkeit ist verrückt. Das ist die Wahrheit.
Und so weiter. Und so fort.
Meine Gedanken rasen durch meinen Kopf. Immer im Kreis. Wie ein Hamster in seinem Rad. Endlos. Sinnlos. Nutzlos. Aussichtslos. Vergebens. Wie mein bisheriges Leben. Worauf warte ich denn? Auf eine friedliche Zukunft? Auf ein Leben ohne Schuld? Dass mein Verlangen nach Strafe endlich stirbt? Zu was führt das? Zu nichts.
* * *
Ich sitze am Fenster. Ich blicke in den Himmel und lasse meine Gedanken weiter frei. Sie kommen mir beziehungslos vor. Flatterhaft. Es gibt eine Zeit, da gehören sie zu mir. Körper und Geist haben eine Einheit ergeben. Damit ist es vor-bei. (War all das Gottes Plan für mich?) Obwohl es Nacht ist, mache ich mich nicht zum Schlafen bereit. Ein stickiger Geruch nach Bohnerwachs und billiger Seife füllt diesen Raum des Krankenhauses, der ehemals eine Lagerhalle war.
Ich bin hellwach und schaue zu, wie sich eine Wolke vor den Mond schiebt. Ich berühre die Narbe an meinem linken Oberarm, wo mich eine Kugel getroffen hat, als ich den Rebellen entkommen bin.
Damals.
Während einer anderen Zeit.
Einer anderen Epoche. (Nur eine Episode, ein Zwischenfall gar?)
Ich freue mich, dass ich gleich allein sein werde. Menschen können so anstrengend sein. Ich putze meine Armbanduhr. Ich will gut sein. (Bin ich das, ein guter Mensch?)
»Gute Nacht, Hope«, sagt Dr. Franklin zum Abschied.
Dr. Franklin ist ein freundlicher Mann. Er kennt meine Geschichte nicht. Mein Vorleben. Es muss mein Geheimnis bleiben. Sonst verschwindet sein Lächeln so schnell wie er. Ich muss vorsichtig sein. Immer auf der Hut. Die Gefahr im Visier. Ich will nicht wieder ausgegrenzt werden. So wie damals. Im Flüchtlingslager. Wo man mich wie eine Aussätzige behandelt hat. Wegen meiner Vergangenheit. (Niemand sollte seine Sünden einem Fremden beichten.)
»Wenn du mich brauchst, melde dich bitte«, fügt Dr. Franklin hinzu.
»Kein Problem«, antworte ich.
Seine Schicht ist vorbei. Meine beginnt erst. Ich lächle ihm aufmerksam zu. Er geht durch die Tür in die Dunkelheit. Ich fühle mich wohl. Endlich. Allein. Mit meinen Fragen, die beliebig, zufällig, willkürlich und ziellos scheinen. (Wie ich es bin?)
Ich trinke Tee mit Milch und Zucker. Mit viel, viel Milch und noch mehr Zucker. Ich liebe alles Süße. Mir bleibt nichts als Warten. Bis etwas passiert. Bis mich jemand braucht. Weil ich da bin. Niemand sonst.
Ob es den Sternen egal ist, was ich mir wünsche?
Ist mein Kern noch rein, so rein, wie Eltern ihre Kinder lieben, weil sie ihnen selbst abhandengekommen ist, die Reinheit? Wie soll ich mich in meiner Heimat weiterhin zurechtfinden? Ich bin nur ein einzelner Mensch. Fast niemand ist zurückgekommen außer mir. Wir sind tot oder in alle Winde verstreut. Wir, die eine Chronik teilen, die sonst niemand versteht. Nicht einmal unsere Eltern. (Gerade sie nicht.)
Zweimal, ja, zweimal hatte ich bereits die Gelegenheit, meiner Vergangenheit für immer den Rücken zu kehren. Einmal in Kanada, einmal in Deutschland. Ich hätte dort bleiben können. Ich habe es nicht getan. Weil ich stattdessen was ge-tan habe? Weil ich gewählt habe. Zwischen Gerechtigkeit (für mich) und meiner Familie. Ich bin ein gutes Mädchen. Ich bin ein artiges Mädchen. (Dafür danke ich meinem Vater.)
Ich höre das Bellen eines Hundes. Hinterher heult er auf, als ob ihn jemand geschlagen hätte, damit das Kläffen nachlässt. Hunger habe ich nicht. Ich nippe an meiner Plastiktasse und putze erneut meine Armbanduhr. Ich bin ordentlich. Sauber. Ich schätze Gewissheit. (Das habe ich von meiner Mutter.)
Die Uhr ist billig gewesen. Sie ist aus Metall. Digital. Sie glänzt trotzdem. Ein Geschenk zu meiner bestandenen Prüfung zur Krankenschwester. Für die Beste ihrer Klasse. So lautet die Gravur. Ich schaue nach vorne, immer nach vorne. Nie nach hinten. (Ich meine das sprichwörtlich.)
Was nützt es denn, unsere Kinder die Vergangenheit zu lehren?
Sollten wir ihnen nicht vielmehr beibringen, ihre Phantasie zu entwickeln, nicht ihre Erinnerung? Wie soll denn der Nachgeschmack des Gewesenen ihrem Leben dienen? Oder meinem Leben? Mir. Christine Hope. 25 Jahre alt. Alleinerziehende Mutter einer zwölfjährigen Tochter und ehemalige Kindersoldatin. Geboren und aufgewachsen in der Perle Afrikas, wie wir so schön schwärmerisch und beinahe ekstatisch behaupten.
Ich lebe für Gott und mein Land. Nicht für Gott und mich. Nein. Für Gott und mein Land, dem ich dienen möchte, nein, will. Weil es was ist? Weil es mein Land ist.
So soll es sein. Weil es schon immer so war. Obwohl ich meine Zweifel habe, ja, mir gar bisweilen misstraue. (Ob Gott jemals zweifelt, verzweifelt, an uns?)
Heute, wo all das gegenwärtig ist, was ich besser vergessen sollte. Sämtliche Details meiner Entführung, meiner Jahre bei den Rebellen und des Krieges. Wer wen wann wo ermordet hat. Wie. Warum. Warum überhaupt. Zu welchem Zweck.
Was ist mit meinem Weg zurück in die Gesellschaft? Ins Wir also. (Das Ich existiert nämlich nicht. Es gibt nur das Wir.) War das nicht auch ein Kampf? Ist dieser Kreuzzug überhaupt schon beendet? Was heißt letztlich Frieden? Für mich. Für uns. Für die, die im Krieg waren.
Man hat mich rehabilitiert, wie es heißt. Mehrere Wochen lang. Ein paar Gespräche mit Gleichgesinnten. Ein bisschen Theater spielen. Ein paar Bilder malen. Das Erlebte auskotzen und wegwerfen, um es nicht zu verschlucken. (Meine Seele ist doch kein Mülleimer.) Und dann? Alles gut jetzt? Von wegen!
Niemand hat mich auf die Menschen vorbereitet, die mir nach meiner Rückkehr aus dem Busch begegnet sind, denen ich Angst gemacht habe, nur weil ich plötzlich vor ihnen stand. Sie fürchteten sich vor meinem Anblick. Weil, in ihrer Phantasie, ja, da war ich ein Monster. Eine Mörderin. Was wirklich mit mir passiert ist, danach hat niemand gefragt. Damit hat man mich allein gelassen, nein, damit hat man uns allein gelassen.
»Gute Reise, Hope. Mach was aus deinem Leben«, sagt der Therapeut zum Abschied.
Er muss sich um andere Kinder kümmern. Es gibt ja so viele von uns. Da kann man auf ein Leben keine Rücksicht nehmen. Ich bin dazu noch schwanger. Das bedeutet Doppelbelastung. Das geht gar nicht.
»Du packst das schon, Hope. Du bist gutes Material«, meinte der Therapeut zu wissen.
Erst heute, als junge Frau, weiß ich, dass jeder Tag ein Geschenk ist. Weil meine Geschichte, nein, unsere Geschichte, mit roter Tinte geschrieben worden ist. Es ist eine Geschichte des Tötens und des Vernichtens. Ich will, dass meine Tochter die Geschichte der Zukunft lernt, nicht die Geschichte der Vergangenheit. Das ist mein Wunsch. Mein Traum. Selbst wenn ich ein Mensch ohne Vorsehung bin. Das ist mein Schicksal. (Meine gottgesandte Prüfung?)
Ich stelle die Tasse weg und bemerke Abdrücke von Militärstiefeln auf dem Boden. Ich stehe auf, besorge mir einen Lappen und entferne sie. Der Dreck sitzt aber so fest, dass ich ihn nur mit meinen Fingernägeln abkriege. (Eine Klinik muss makellos sein.)
Es ist an der Zeit, meine Runde zu drehen und nach den Patienten zu schauen. Alle schlafen. Die 15 Betten des Spitals sind belegt. Keine besonderen Vorkommnisse. Routine. Ich kehre zu meinem Platz am Fenster zurück und notiere die Uhrzeit für meine Ablösung am Morgen. Ich blicke wieder aus dem Fenster. In der Scheibe spiegelt sich mein Gesicht.
Ich kann nicht sagen, dass ich mich besonders hübsch finde. Vielleicht war ich es mal. Ich sollte meine Mutter danach fragen. Für den Face-of-Africa-Wettbewerb hätte ich mich wohl nicht qualifiziert. Schade eigentlich. Mit einem anderen Gesicht und einem unschuldigeren Körper hätte ich sicher gewonnen. (Auch Freunde?) Ich habe Kolleginnen, die kürzen sich ihre Röcke, die lassen einen weiteren Knopf ihrer Uniformbluse offen, die machen schneller Karriere. Zum Beispiel Betty. Betty verbirgt ihre unappetitlichen Knutschflecken, wenn sie aus dem Arztbüro kommt. Insgeheim hofft sie darauf, dass er sie heiratet, Dr. Franklin. (Betty ist nicht die Klügste.)
Ich meine, sicher, grundsätzlich bin ich dankbar. Dafür, dass wir gesegnet sind. Nicht nur von Gott. Die Erde ist gut zu uns. Sie erwartet nichts. Außer unsere Hände. Unseren Schweiß. Ehrliche Arbeit. Jeden Tag. Wir könnten so glücklich sein. Aber, um die Wahrheit zu sagen, wir sind es nicht. Ich bin es nicht. Meine Eltern sind es nicht. Weil alles mit allem zusammenhängt. Was zufällig erscheint, ist doch bestimmt. Aus eigener Kraft vorwärtszukommen, das ist schwer, fast unmöglich, möchte ich behaupten.
Ich falte meine Hände. Wie zum Gebet. Denn diese Hände, meine Hände, sie haben noch viel vor. Ihre Zeit ist nicht abgelaufen. Eines Tages wird dieser böse Spuk vorbei sein. (Nicht wahr, Gott?)
Eines Tages werde ich die Augen öffnen. Wenn alles um mich herum noch schläft. Selbst die Natur. An diesem Tag wird alles wieder in Ordnung sein. Ich werde den Sonnenaufgang begrüßen. Mit meinem schönsten Lachen werde ich die ersten Strahlen umarmen, und meine Mutter wird mir ein leckeres Frühstück zubereiten. Meine Mutter. Ihr Name ist Angelina. Sie riecht nach Holzkohle. Ich mag das. Mein Vater heißt Joseph. Er ist mein lieber Vater, mein bester Vater, mein kluger Vater, mein gebildeter Vater. Er wird mir eine Geschichte erzählen. Von der Zukunft. Wie es sein könnte, wenn unsere Haut keine Narben mehr hat. Verschwunden. Weg. Wie durch einen Zauber.
Seine Stimme beruhigt mich. Seine sanften Worte umhüllen mein bitteres Herz, wie Zuckerguss ein zerbrechliches Gebäck.
Mein verschwundener Bruder wird wieder ein Kind sein. Ein kleiner Junge. Den was in der Welt kümmert? Gar nichts. Außer seine aufgeschlagenen Knie. Wenn er mal wieder vom Fahrrad gefallen ist. Denn nicht alle Soldaten sind Männer, und nicht alle Männer sind Helden. Ganz sicher nicht. Auch wenn wir das glauben möchten. (Immer wieder.) Weil wir Märchen und Gerüchte mit Wirklichkeit und Fakten verwechseln.
Armer James.
Erst heute Morgen haben wir seine Seele begraben. Jetzt sitze ich hier, blicke in die Nacht, trinke Tee, drehe meine Runden und lausche der Stille. Als ob nichts passiert wäre. Heute. Aber es ist etwas passiert. Heute war ein besonderer Tag. Kein Tag wie jeder andere. Wir haben eine Entscheidung getroffen. Sie ist längst überfällig gewesen. Wir haben uns vor ihr gefürchtet. Weil wir gespürt haben, wie endgültig sie ist.
Wir haben bestimmt, dass sein Tipu nicht weiter verloren umherirrt. Sein Geist. Wir haben auf ihn gewartet, meinen älteren Bruder. Mehr als zwölf Jahre lang hat meine Mutter gehofft, dass er eines Tages wiederauftauchen würde. Wie ein Krebsgeschwür wucherte die falsche Hoffnung in ihr. Bis heute. Ich glaube, dass ihre Seele dennoch neben seiner liegt. Auf seinem Grabstein steht aber nur ein Name.
James.
Mein Vater kriegt von alldem nicht mehr viel mit. Er trinkt wieder. Jeden Tag. Immer mehr. Seit damals. Seit ich ihm das angetan habe. (Wir ihm das angetan haben?) Obwohl er schon einmal fast damit aufgehört hätte. Soll ich ihm deswegen Vorwürfe machen? Ich habe ihn zum Krüppel geschlagen. (Das ist die Wahrheit.)
Ja, ich bin für meine Familie verantwortlich. Ich werte dies nicht als Wiedergutmachung. Es ist selbstverständlich, dass ich sie ernähre. Meine Familie. Weil nur ich einen Job habe. Als Krankenschwester. Ich arbeite für umgerechnet 75 Euro im Monat. Mein Ziel ist ein anderes gewesen. Ich wollte Ärztin werden.
Einmal hätte es auch fast geklappt. Mit dem Studium. Das Geld dafür ist da gewesen. Nach der Rückkehr aus Deutschland. Doch dann. Aber wer weiß, womöglich erfüllt sich eines Tages mein Traum noch.
Im Grunde genommen gibt es aber keine Zeit mehr für mich. Es gibt nur das Jetzt. Das Heute. Jeder Moment ist kostbar. Ich schätze jeden Augenblick. Weil ich weiß, wie schnell sich alles ändern kann.
* * *
Vor sechs Monaten habe ich angefangen, in der Unabhängigkeitsklinik von Gulu zu arbeiten. Die Klinik ist wahrlich nichts Besonderes, und sie ist bestimmt nicht mit einem modernen Krankenhaus zu vergleichen. Gut, wir haben zwar seit kurzem ein Röntgengerät und einen Defibrillator, um akute Herzstillstände wiederzubeleben, aber fast nie Strom. Die Patienten kommen zu Fuß zu uns oder werden von ihren Angehörigen getragen. Es gibt keinen Krankenwagen oder einen Notruf. (Wir haben auch keine Polizei oder Feuerwehr.) Medikamente erhalten wir als Spenden aus Europa oder Amerika. Sie sind oft abgelaufen. Fleischwunden – Schnitte, Messerstiche, Verletzungen bei der Feldarbeit – behandle ich meist mit Jod, und wer wirklich ernsthafte Probleme hat, der sucht seinen Trost besser woanders.
Ich erledige alles. Bis auf Ausschabungen. Da mache ich nicht mit. Täglich kommen Mädchen zu uns, die sich weigern, ihr Kind auszutragen. Weil sie zu jung sind. Weil der Vater dazu fehlt. Weil sie Opfer eines Verbrechens geworden sind.
Ludmilla, eine Kollegin aus Moskau, die uns fortbildet, kümmert sich um diese Patientinnen, von denen manche alle zwei bis drei Monate auf der Matte stehen. (Ansonsten ist sie für die russischen Piloten verantwortlich, die in Gulu stationiert sind, um hier unsere Piloten zu richtigen Kampfpiloten auszubilden.)
»Wie gjeht’s, meine En-gel«, begrüßt Ludmilla die Kindermütter mit ihrem russischen Akzent.
Zehn Minuten braucht Ludmilla für eine Ausschabung. Sie ist sehr geschickt mit ihren Händen. Hinterher gibt’s für jede Patientin einen Keks und ein Glas Mangosaft. Dann darf sie wieder gehen. Zurück in die Schule. Nach Hause zu ihren Eltern. Oder aufs Feld zur Arbeit. Schnurstracks.
Gäbe es weniger Vergewaltigungen, gäbe es auch weniger Kinder. Primitiv, sagt die Vernunft, die uns mit anderen Ländern vergleicht. Es ist, was es ist, weiß ich.
Denn worauf es ankommt, ist doch, wie geschickt ich durchs Feuer laufe. Bis ich meinen Glauben wiedergefunden habe. Es ist nicht Gottes Aufgabe, sich um unsere Probleme zu kümmern. Das müssen wir schon selbst tun. Er weiß vermutlich, zuviel Treue, zu viel Vertrautheit, beides macht Verrat erst möglich, und, ja, vielleicht ist unser Wesen so zum Scheitern verurteilt.
Doch Gnade existiert, muss existieren. Weil ein Mensch, der nicht an Gott glaubt, zu was fähig ist? Zu allem. (Die Vergangenheit ist keine Rechtfertigung. Nur eine lahme Ausrede.) Es gibt nur das Leben. Und mein Leben ist hier. Es ist eine schmale Brücke, auf der ich gehe. Langsam. Aber nie zurück.
Ich öffne meine Thermosflasche und schenke mir Tee nach. Ich schaue auf mein Handy. Er hat sich nicht wieder gemeldet. Liegt ihm so wenig an mir, dass er auf mich hört, dass er tatsächlich die Nacht über auf eine Antwort wartet?
Das Handy ist mein Kontakt zur Außenwelt. Ohne es könnte ich meine Tochter nicht anrufen. Maria geht auf ein Internat im Pader-Distrikt, der gut vier Autostunden von Gulu entfernt ist. (Unsere Straßen sind eine Katastrophe.) Ich sehe sie meist nur während der Schulferien. Zu ihr zu fahren, nur für einen kurzen Sprung, das ist zu teuer. Meine Eltern leben wieder in unserem Dorf. In Ayam. Seit die letzten Flüchtlingslager aufgelöst worden sind. Nach 2007. Gut ein Jahr nach Ende des Krieges. Seitdem so etwas wie Normalität bei uns eingekehrt ist. (Ist es das?)
Ayam liegt ebenfalls im Pader-Distrikt. Das ist gut. So kann ich, wenn ich Maria besuche, auch gleichzeitig meine Eltern sehen. Ich bin vernünftig und spare, wo ich kann. Meist gelingt es mir nicht. Die Kosten für Miete und Nahrungsmittel steigen jeden Monat. Seit sich immer mehr Hilfswerke in Gulu niedergelassen haben, ums Doppelte. (Was die alle konkret machen, ist uns ein Rätsel.) Dazu kommt die ständige Inflation, die ich zwar nicht verstehe, aber in meinem Geldbeutel spüre.
Ich beobachte das Handy, als ob ich es mit meinen Augen überreden könnte zu klingeln. Ich kann es aber nicht. Er will tatsächlich bis morgen früh warten? Okay. Ich habe es ja so gewollt. Dann kann ich wenigstens in Ruhe arbeiten.
Ich bin für die Nachtschicht verantwortlich. Wie alle Neuen. Ich mag diese Arbeitszeit. Es ist wenig Betrieb. Ich kann nachdenken. Ich kann ich sein. Nicht immer nur uns denken. Das Wir im Auge haben. Ruhe also. Ruhe. Und Frieden. Wie bei einer großartigen Andacht.
Der Wasserdampf beschlägt die Scheibe. Vielleicht hätte ich mir was zu lesen für die Nacht mitnehmen sollen. Doch ehrlich gesagt, ich mache mir nichts aus Büchern. (Nicht mehr.) Ich ziehe meine Uhr auf. Es ist kurz nach Mitternacht. Eine Eidechse raschelt. Ich kann meinen Kopf nicht abschalten.
Ich quäle mich mal wieder mit der Frage, ob mir Gott jemals dafür vergeben wird, was ich getan habe.
Falsche Frage, antworte ich mir. Mal wieder.
Falsche Frage, Hope, falsche Frage.
Vergibt mir Gott dafür, was ich nicht tue? (Das ist die richtige Frage, du törichtes Mädchen.)
Also mache ich etwas aus meinem Leben. So, wie es schon als Kind mein Wunsch gewesen ist, etwas aus meinem Leben zu machen.
* * *
So, wie es mein Ziel ist, als ich vor zwölf Jahren von meiner ersten Reise zurück nach Norduganda kehre. Voller Enthusiasmus, Kraft und Lebensmut.
»Durchhalten. Du bist die Zukunft Ugandas«, sagt ein Delegierter und drückt mir einen 50-Dollar-Schein in die Hand. (Er meint es gut.)
Ich glaube ihm und bedanke mich. In Kanada ist das gewesen, wo ich vor den Vereinten Nationen gesprochen habe und man mich ernst genommen hat. Wirklich. Man hat mir applaudiert. Man hat mir Respekt entgegengebracht. Mir. Einem kleinen Mädchen aus Uganda. Was für mich natürlich wie ein kleines Wunder war. Ich hätte dort bleiben können. Als politischer Flüchtling. Das Angebot bestand. Doch meine Tochter ist noch ein Baby gewesen. Hätte ich es alleinlassen sollen? Mein Kind. Maria. Selbstverständlich nicht.
Ich wollte wieder nach Hause. So schnell es ging. Trotz des Krieges, und obwohl wir in einer bösen Umgebung leben. Zur Jahrtausendwende. (Ein neues Millennium beginnt, und Afrikaner kämpfen noch immer gegen Afrikaner.)
Oh, ich weiß noch genau, was ich denke, als wir kurz vor der Landung sind: Ob ich meinen Eltern wohl ein Lunchpaket aus dem Flugzeug mitbringen kann? Ich traue mich dann doch nicht, zu fragen. (Eine Ausgabe der International Herald Tribune nehme ich meinem Vater aber doch mit.) Herrje, was geht mir damals alles durch den Kopf. Ich will zwar nicht die Welt verändern, aber mein Land schon ein bisschen. Das hatte ich mir fest vorgenommen und bereits im Flugzeug Notizen gemacht. Einen richtigen Plan. (Mit 13 hat man noch Träume.)
Bei meiner Ankunft ist das Wetter schön. Wie eigentlich fast immer. Ich liebe unser Klima. Keine Wolken weit und breit. Der Tag erwacht. Das Flugzeug schwebt vollkommen ruhig auf Entebbe zu. Ich sehe den Viktoriasee. Kleine Fischerboote. Winzige Inseln. Die Gischt der Wellen. Grandios.
Das Flugzeug fliegt eine Kurve. Die Tragflächen schwingen leicht. Eine kleine Böe ergreift das Flugzeug. Es sackt, fängt sich wieder und steigt. Mein Nachbar seufzt. Er ist ein Muno, ein Weißer also. Deshalb die Nervosität. Er staunt über meine Gelassenheit. Ich finde das lustig. Ich habe keine Angst.
»Rüttelt ganz schön«, sagt er mit geschlossenen Augen.
»Ja«, antworte ich knapp.
Ich drücke mir die Nase am Fenster platt. Unter mir rotes Land und grüne Felder. Mein Land. Ich höre, wie das Fahrwerk ausgefahren wird. Ich sehe die Piste. Die Stewardess kontrolliert meinen Sicherheitsgurt.
»Froh, zu Hause zu sein?«, fragt sie mich.
»Sehr«, sage ich und lächle.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt der Muno die Stewardess.
»Alles ist wunderbar«, beruhigt sie ihn.
Das Flugzeug landet. Ich kann es kaum erwarten, aus der Maschine zu steigen und was zu tun? Endlich meine Füße von den einengenden Schuhen zu befreien und wieder den roten, warmen Sand meiner Heimat zwischen den Zehen zu spüren. Gibt es ein schöneres Gefühl? Es ist sensationell.
Als ich aus dem Flugzeug steige, begrüßt mich die Hitze. Ich wische mir den Schweiß aus dem Gesicht und werde von den anderen Passagieren zum Einreiseschalter gedrängelt, wo ich meinen Reisepass vorzeigen muss. Meine Schuhe habe ich noch an.
»Kanada? Was hast du in Kanada verbrochen?«, fragt mich der Grenzbeamte am Schalter.
»Ich habe nichts verbrochen. Ich habe eine Rede gehalten. Vor den Vereinten Nationen«, antworte ich wahrheitsgemäß.
Der Mann lacht laut. Mir rinnt der Schweiß von der Stirn.
»Du? Eine Rede gehalten? Willst dich wohl über mich lustig machen«, sagt er.
»Nein. Will ich nicht. Ganz bestimmt nicht«, flüstere ich eingeschüchtert.
Der Mann guckt mich finster an. Ich fürchte, dass er mich nicht wieder einreisen lässt.
»Soso. Was erzählst du der Welt denn für Geschichten über uns?«, fragt er mit einem breiten Grinsen.
»Ich erzähle keine Geschichten«, sage ich, »ich spreche die Wahrheit.« (Ich weiß, der Ursprung jeder Lüge ist die Respektlosigkeit.)
Wir blicken uns an. Ich erfahre nichts aus seinen Augen. Sie sind kalt und wie ausgelöscht.
»Die Wahrheit ist, kleines Acholi-Mädchen, dass dein Volk keine Verantwortung übernehmen will. Das ist so typisch für euch aus dem Norden. Warum soll es uns also interessieren, wenn ihr euch gegenseitig umbringt«, versichert er mir.
Ich blicke auf den Boden und hoffe, dass er mir bald meinen Pass wiedergibt. Ich sage lieber nichts. Bei der Widerstandsarmee des Herrn, den Rebellen also, habe ich gelernt, wann es besser ist, den Mund zu halten. Besonders wenn man einem bewaffneten Mann in Uniform gegenübersteht. Kurz darauf höre ich, wie er seinen Stempel in meinen Pass schlägt.
»Verzieh dich, Acholi-Mädchen, und bleib, wo du hingehörst. Ihr werdet nie Frieden haben, nie, glaub mir das«, knurrt er und drückt mir meinen Ausweis in die Hand. (Menschen glauben immer nur das Schlimmste.)
Rasch verschwinde ich. In einer gefährlich überfüllten Matata, einem Mini-Bus, fahre ich die 35 Kilometer bis nach Kampala, der Hauptstadt des Landes; dort angekommen, besteige ich einen Reisebus nach Gulu, der mich nach Hause bringt. Auf dem Heck des Busses steht JESUS LOVES YOU. Wir überqueren den Nil. Hier beginnt das Kriegsgebiet. An diesem Tag ist alles still. Ich habe Glück. Trotzdem spüre ich meinen Magen. Ob es wegen der Aufregung oder der Vorfreude auf meine Familie ist, weiß ich nicht.
Im Bus ziehe ich endlich meine Schuhe und Socken aus. Ich kann nicht länger warten. Es fühlt sich gut an. Wieder die Zehen ordentlich bewegen zu können. Ich staune über die Landschaft, die vor meinem Fenster vorbeizischt. Die unbestellten Felder. Die verlassenen Dörfer. Ausgebrannte Fahrzeugwracks. Menschen, die scheinbar ziellos ihres Weges gehen. Ich war zwar nur einige Wochen von zu Hause weg, trotzdem kommt es mir wie eine Ewigkeit vor. Alles sieht neu aus und spannend, als ob ich mein Land zum ersten Mal erleben würde. Neben mir sitzt ein Mann. Er schläft und schnarcht. Wahrscheinlich hat er sonst Langeweile. Mir geht es anders. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich fliegen könnte. Irgendwann schlafe ich auch ein. Was vermutlich mit am Schaukeln des Busses liegt, in dem ich mich wie in einer Wiege fühle.
»Was wir brauchen, ist Regen«, murmelt mir der Mann später zu.
Ich wache auf und reagiere nicht auf seinen Kommentar. Ich lasse meine Augen geschlossen.
»Aber es regnet nicht«, fügt er hinzu und schläft wieder ein.
Ich bin nun wach und blicke erneut aus dem Fenster. Der Bus fährt jetzt im Zickzack, segelt geschickt um Schlaglöcher herum. Der Fahrer hupt, damit die wilden Paviane von der Straße verschwinden, schimpft über sie, gibt plötzlich Vollgas, hinein in eine Affenfamilie, erwischt aber zum Glück keinen und lacht laut.
Ich lache auch. Ich finde es lustig, weil ich erst 13 Jahre alt bin, nur ein weiteres Mädchen, von denen es ja so viele gibt und die einfach gerne Spaß haben.
»Ich bin nicht für die Rebellen«, sagt der Fahrer zu einem anderen Passagier. »Für mich ist das ein Dilemma. Ich würde die Rebellen unterstützen. Wirklich. Aber sie töten meine Leute.«
Der Passagier nickt und erwidert: »Auge um Auge. Zahn um Zahn. Nur so bringen wir den Menschen Disziplin bei.«
Eine Frau, die sich die Fingernägel malt, mischt sich ein: »Ihr macht mich krank mit eurem Gequatsche. Wie viele Jahre Krieg wollt ihr noch? 10? 20? Bis alle Acholi tot sind? Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Wenn du den ganzen Tag Kühe schlachtest, verfolgen sie dich in deine Träume.«
Die Männer stimmen ihr zu, nicken und schweigen. Eine Stunde später sind wir am Ziel. Nach fünf Stunden Reisezeit. Der Fahrer hat sich beeilt und aufs Anhalten sowie Pausen verzichtet. Es wäre zu riskant gewesen.
Ein Motorradtaxi, oder, wie wir es nennen, ein boda-boda, bringt mich von Gulu ins nahe liegende Kalongo. Dort sind meine Familie und ich jetzt zu Hause, erfahre ich. Zurück in unser Dorf dürfen wir nicht.
* * *
Kalongo ist ein Flüchtlingslager. Hierher hat uns die Regierung umgesiedelt. Ich brauche mindestens zwei Stunden, bevor ich meine Eltern in diesem heillosen Durcheinander von Hütten, Menschen und Müll finde. Es stinkt.
Hier will man uns schützen. Vor weiteren Entführungen, sagt die Regierung. Meine Eltern sind den Anweisungen gefolgt. Was hätten sie sonst machen sollen? Die Angst, den Rebellen schutzlos ausgeliefert zu sein, ist stärker als ziviler Ungehorsam, den wir, wenn ich ehrlich sein soll, eh nicht kennen.
»Wir sind schon immer der Herde gefolgt. Hier denkt doch keiner für sich selbst«, sagt mein Vater querköpfig und wirft die leere Waragi-Gin-Flasche ins Gestrüpp.
Meine Tochter sehe ich nicht. Vermutlich ist sie bei meiner Mutter, beruhige ich mich. Zwei mir unbekannte Kinder rennen der Flasche hinterher. Sie fangen an, sich um das Glasgefäß zu streiten. Der Stärkere gewinnt und nimmt die Trophäe mit. Der Verlierer weint.
Willkür und Zufall entscheiden in Kalongo. Nicht das Recht. Kalongo ist riesengroß und ausgedehnt. Wie eine Stadt, über der eine bedrohliche Dunstglocke hängt. Wir leben in Hütten. Gebaut aus Lehm und Gras. Provisorisch errichtet. Ohne Rauchabzug und Lüftung. Löchrig. Dicht aneinandergedrängt schmoren sie in der Sonne. Sie sind unser neues Zuhause.
Wie gut haben es doch die Menschen im Süden Ugandas. Dort herrscht kein Krieg. Dort ist Frieden. Dort ahnt niemand, was mit uns hier geschieht. Dort gibt es Schulen und Bücher und Kinos und ein richtiges Leben. Dort machen Touristen Urlaub, gehen auf Foto-Safari, knipsen Bilder von Löwen und Giraffen und Gorillas. Aber dort sind wir nicht. Wir sind hier. Über 10 000 von uns halten allein in diesem Lager durch. Wir sind Flüchtlinge in unserem eigenen Land. Wie widersinnig.
Über Norduganda verstreut leben so mehr als 1,5 Millionen. In Pader, Pajule oder in Anaka. Binnen weniger Wochen ist mein Land zu einem Flüchtlingslager geworden. Ich erkenne meine Heimat nicht wieder. (Was ist geschehen?)
Mein Vater und ich, wir reichen uns die Hände. Förmlich, weil es sich so gehört. Zwischen Vater und Tochter. Obwohl unsere Bindung schon immer etwas Besonderes gewesen ist.
Im Gegensatz zu anderen Vätern hat mein Vater immer darauf Wert gelegt, dass mein Bruder und ich gleichberechtigt erzogen werden. Dass ich »nur« ein Mädchen bin, hat für meinen Vater nie eine Rolle gespielt. Im Gegenteil. Eben weil ich »nur« ein Mädchen bin, war es ihm wichtig, dass ich schreiben und lesen lerne, dass ich einen eigenen Willen entwickle, dass ich seinen Weg fortsetze, denn ganz tief im Inneren, so glaube ich zumindest, hat mein Vater schon immer gewusst, dass ich klüger bin als mein Bruder, dass ich den Verstand meines Vaters und das Herz meiner Mutter geerbt habe. Nur leider ist es in unserer Kultur so, dass Mädchen nun einmal nichts wert sind. Selbst dann nicht, wenn sie eigentlich viel mehr drauf haben als so mancher Mann.
»Wie war die Reise?«, fragt er mich.
Ich spüre sein Desinteresse, nein, ich sehe es, es ist offensichtlich und klar.
»Gut«, sage ich.
»Gut«, wiederholt er und nickt.
Ich stelle meinen Koffer ab und setze mich zu ihm auf den Boden.
»Wie geht’s dir?«, frage ich ihn.
»Du siehst gut aus, gesund«, sagt er.
Ich nicke.
»Soll ich dir von Kanada erzählen? Ich habe viele Menschen kennengelernt«, sage ich.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.