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4. Feenbaums Wunder

Als er Johanna nach diesem Verhör in ihrer Zelle besucht, scheint sich etwas in ihr gewandelt zu haben. Traurig und mit verzerrtem Mund kauert sie neben ihrem Bett und sieht ihn an. Auch sie wird wohl jemanden zum Reden brauchen, denkt er, oder? Er will schon kehrtmachen und nachdenken, wie er Johannas Herz erobern könnte – noch hat er sie nicht lange genug beobachtet –, doch da geschieht es. Wieder wird sie von einem der Soldaten angegriffen. Johanna schreit. Gerade noch rechtzeitig kann er zu Hilfe kommen, packt den Kerl am Kragen und wirft ihn gegen die Steinwand. In dem Moment erscheint der Earl von Warwick. Wallend seine Erscheinung. Er poltert, redet wütend auf den jungen Krieger ein. Johanna wischt sich mit zitternden Fingern über das Gesicht.

»Ich kann gar nicht die Beinkleider abnehmen«, sagt sie leise, »sie kommen immer zu nahe.«

Der Earl nickt.

»Das wird nicht mehr vorkommen!«, meint er und mahnt den Kerl und die anderen Soldaten, die ihn umringen, sich zu beherrschen.

Dann verlässt er die Räume des Kerkers, gefolgt von der geknickten Schar. Loyseleur ist nun wieder mit Johanna allein.

»Brauchst du denn nie jemanden zum Reden?«, will er da wissen. Er sieht die Jungfrau an, ein knochiges Bündel mit breitem Gesicht und trotzig malmenden Kieferknochen. Seine Ehrlichkeit scheint Johanna zu erreichen.

»Ich rede mit Erzengel Michael«, entgegnet sie leise und in ihrem Gesicht schimmert etwas auf.

»Hat er denn wirklich keine Haare?«, fragt Loyseleur neugierig.

Johanna lächelt.

»Das habe ich nicht gesagt!«

Er kniet sich neben ihr nieder, lüpft ein wenig die Kutte. Kalt ist der Kerkerboden. Wieder reicht er ihr ein Stück Brot. Und diesmal, so geschwächt und verletzlich wie Johanna wohl sein mag, greift sie nach danach. Beißt ab. Beginnt knirschend zu kauen.

»Die Großmutter erzählte mir erstmals vom heiligen Erzengel«, sagt Johanna dann und plötzlich leuchtet etwas in ihren Augen auf, »und dann sah ich ihn, wie sein Gewand wallte!«

Begeisterung scheint da in ihr aufzusteigen.

Domrémy heißt das Dorf, in dem sie aufwuchs, hat man ihm erzählt. Dreihundert Einwohner und ein Grenzort.

»Warum willst du in den Krieg ziehen? Ist das Leben nicht schön, wie es ist?«, fragt er.

Johanna seufzt.

»Ihr habt nicht gesehen, was ich gesehen habe. Als junges Mädchen.«

»Was?«, bohrt er nach, während sie weiter an den Brotresten kaut.

Johanna seufzt.

»Die Übergriffe an den Grenzen. ›Wir halten zu den Armagnacs und nicht zu den Burgundern‹, hat meine Großmutter immer gesagt. ›Warum, Großmutter?‹, habe ich sie gefragt. ›Einmal, da kamen die und haben einen aus dem Dorf schwer verwundet. Ihm den Kopf abgeschlagen‹, hat sie erwidert.«

»Und das hat gereicht?«, will er zweifelnd wissen.

»Ich habe meine Großmutter geliebt«, sagt Johanna.

Er betrachtet sie lang. Zart und knochig ist ihr Leib. Ständig kneift sie die Augen zusammen, sodass sich kleine Fältchen bilden. Manchmal verwandelt sie sich in eine düstere Frau. Risse im Gefäß ihres Gesagten.

Und nein: Sie ist schön, denkt er. Sie hat eine unsichtbare Narbe im Gesicht, die sich Gott nennt. Tag für Tag ruft sie die Namen der Engel. Das Gesicht ist durch die Kerbe Gott zerschnitten. Sie bringt Veränderungen, die man kaum noch sehen kann. Nur die Engel, nur sie wissen davon, sagt er sich.

»Johanna«, sagt die Großmutter, »ich werde bald gehen!«

Ihre Augen sind ein Gebirgstal, durch das ein Schauer streift, vielleicht in Form des Windes.

Ihr Antlitz wird immer fahler, während es draußen grünt und blüht. Das macht Johanna wütend.

»Das will ich nicht!«, sagt Johanna.

»Ich ist ein sinnloses Wort!«, entgegnet die Großmutter.

»Wieso?«

»Du solltest es durch Gott ersetzen.«

Die Großmutter umarmt sie, und sofort ist wieder ein Friede in Johanna.

Friede, das ist die Wärme eines Vogelnestes, denkt Johanna. Dass sie Körper sei, denkt sie. Nichts als Körper, der atmen muss. Aber in dem auch alles zu geschehen hat, was notwendig ist im Moment.

»Sei ruhig!«, sagt die Großmutter und ihre Worte sind Tau. Regen, der auf verdorrtes Gras fällt.

»Bitte behalte mich in deinen Armen!«, flüstert sie. »Und weine nicht. Pflück keine Tränenblumen!«

Seit diesem Zeitpunkt weint Johanna heimlich. Immer, wenn es besonders schön ist, oder wenn es besonders traurig ist. Weil die Seligkeit mit dem Schmerz verwoben ist. Und sie hofft auf einen neuen Sommer. Und dass mit ihm noch einmal die Stimme Gottes zu hören ist, immer wieder. Und die Sonne, so wie jetzt: Sie brennt und brennt und Johanna glaubt, dass die Erde unter ihr bersten will. So niedrig fliegen die Vögel, auch sie haben kaum noch Kraft! Genauso wenig wie Johanna, die erwachsen wird und sich nach der Stimme Gottes sehnt, mehr denn je. Doch sie hat die Suche nicht aufgegeben, will sein wie die Vögel, die im Winter fortfliegen und doch wiederkehren. Sie sammeln woanders Kraft. Und dann hofft Johanna und wird genügsam. Nichts gilt es mehr zu schaffen. Nur Trägheit und Sehnsucht nach Schlaf beherrschen dann ihre Tage. Tiere suchen Schatten, die im Laufe des Tages wachsen und schwinden wie alles. Gegen Abend zieht eine dicke schwere Wolkenwand vom Süden her über den Himmel, Gewicht, Gegengewicht. So vergeht die Zeit. Ihre Augen sind schwer, sind Blei und alle Vögel kriechen in ihre Nester. Dann, abends, meist der Blitz, der Donner, er reißt den Himmel auf.

Es wird nicht Nacht, es erbleicht bloß der Tag, sagt sich Johanna und nur die Spannung der Sonne macht die Zeit lang. Alles dehnt sich. Die Bäume ertragen den Rahmen ihrer Rinde nicht, wollen wachsen, wenn ein Gewitter kommt.

Sie knarzen und ächzen im Wind. Der zerrt an den Zäunen. Auch die fühlen sich gefesselt an ihre Wurzeln. Wenn man nur leicht wäre, denkt Johanna, fortfliegen könnte mit dem Wind! Und hin zu Gott.

Heiligtum aber reicht hinaus über jeglichen Raum, das muss die Jungfrau jetzt lernen.

Und man muss es erwarten können.

»Oh Heiland, reiß den Himmel auf!«, singt Johanna. Wie böse Geister jagen die Winde dahin. Luftpferde, feinstes Getier, denkt Johanna. Und auch in diesen Tagen sucht sie die Zuflucht beim Feenbaum, der in seinen Ästen immer noch die Erinnerung ihrer Kindheit birgt. Sie beschützt. So sitzt Johanna eines Tages wieder bei ihm. Sie ist keine dreizehn. Und da ruft er nach ihr! Endlich! Mit einem Mal spricht Gott wieder. Er tönt, lodert und zerreißt ihr dabei fast die Ohren. Von der rechten Seite kommt die Stimme, aus der Richtung der Kirche. Helligkeit. Ein Heil ist sie, die Stimme. So, als würden Vater und Mutter gemeinsam sprechen! Dreimal ruft sie nach ihr.

»Johanna!«

Johanna steht auf.

»Was ist das?«, ruft sie laut aus. »Bist du es wirklich wieder, lieber Gott?«

Ein loderndes Lachen ertönt.

»Führe dich gut!«, tönt es zur Antwort.

Johanna schüttelt den Kopf.

»Was bedeutet das?«, fragt sie.

»Bewahre deine Unschuld.«

»Und wie?«

»Innerlich!«

»Was heißt das?«

»Sei Jungfrau und Kind!«

Johanna streift rastlos umher, sucht nach einem Gesicht zu der Ferne, die klingt. Mit einem Mal kommt ihr Gott so anders vor. Immer war er so weit weg. Und jetzt ist er viel zu nahe, sie kann ihn kaum erkennen. Das Ferne verändert sich oft in der Nähe, denkt Johanna und es ist, als hätte der Blitz den Apfelbaum ihrer Kindheit gespalten. Wieder spricht das Heilige mit ihr. Johanna möchte zu Boden sinken, sie möchte sterben.

»Hör mich an!«, ruft da der Gott in ihr, und erschöpft lauscht Johanna.

»Ja!«

»Es gibt ein paar wichtige Dinge! Zum Beispiel: Liebe weckt Liebe.«

»Bist du sicher? Gott?«

»Ja! Manchmal muss man sie im Waldschatten suchen, findet sie nur unter dichten Blättern. Es ist anstrengend. Aber es lohnt sich, sie zu finden.«

»Und wieder zu verlieren«, murmelt Johanna, die an den Tod des Vogels denkt und an die sterbende Großmutter.

»Wir wissen nur, was wir hatten, wenn wir es verlieren!«, sagt Gott.

In ihr ringt ein Schmerz um die Übermacht.

»Warum tut das immer so weh?«

Gott schweigt kurz, dann braust ein Orkan auf. Es ist, als lache er schallend.

»Wer geduldig ist, dem geht es immer gut. Aber erst später. Nicht in dieser Welt.«

Johanna nickt. Das weiß sie bereits.

»Aber was soll ich dann tun?«

»Warten!«, sagt Gott. »Warten, bis wir zusammen sein können. Weißt du, Freude und Trauer, die sind ein Ehepaar, das ein Gemach teilt. Schläft die eine, dann ist die andere ruhig. Aber wehe, eine weckt den andere!«

Gott scheint zu lachen.

»Und jetzt?«

Gott schweigt. Johanna möchte fliegen wie die Vögel, lachen und Gott preisen, oder sie möchte ein Baum sein, aber nur im Frühjahr, nicht des grünen Gewandes beraubt. Die silbernen Strahlen des Himmels sollen herunterkommen und ganz nah auf ihrem Haupt landen als Seil, als Verbindung! Johanna will tanzen wie eine Elfe und aus der Vogelperspektive das Moos und die Goldfische betrachten, die weit unter ihr schwimmen, auf dem Grund des Teichs. Und die Schlieren aus Schlamm zählen, die Blätter und Algen. Ja, von nichts bedeckt als von Luft und Gott! Wie schön der Wind die herrlichsten Formationen aus den Wolken formt. Wie sie Bilder darstellen, Umrisse aus Engeln sind, wieder zerrinnen, manchmal auch als dunkle Berge, Schreine und Kapellen hinter der rot glühenden Sonne. So will sie immer sein, an den Himmel gelehnt! Dass sogar zu Beginn des Winters noch die Fichten grünen, mutet Johanna seltsam an, und sieht darin Gottes Macht. Und wenn der Schnee kommt, beugen sie auch ihre Äste nie ganz seiner Kraft! Sie tanzen mit Gottes Kraft.

Mit einem Mal ist es, als habe ihr Übermut Gott wieder verjagt. Sie will sich schon umwenden und heimwärts laufen, da kommt sie noch einmal, die Stimme:

»Du wirst in den Krieg ziehen, Johanna! Also lerne zu kämpfen!«, rauscht es in ihr. Dann Stille.

Kämpfen also, hat Gott gesagt und von jetzt an tanzt sie nicht nur mit den Mädchen, sondern spielt auch mit den Knaben. Tollt mit ihnen in den Nadelbüschen umher. Auf den Fußspitzen gehen die Knaben schon bald, haben Angst vor ihr. Denn Johanna kann wüten. Wieder wird es Frühling und Johanna lernt im Spiel mit den Knaben zu ringen. Oft tollt man umher auf den Dachböden, wo es dämmrig ist. Spinngewebe hängen magisch da. Johanna betrachtet die Gesichtchen der Knaben und fühlt sich stark. Und dann kommt wieder der Sommer. Viel Arbeit wartet dann am Feld, Johannas Körper schmerzt. Die Geranien wachsen im Garten und immer wieder muss Johanna sie schneiden. Doch Johanna will Blumentöpfe zerschmettern und sich mit den Scherben aufritzen, weil sie sieht, dass die Großmutter bald sterben wird.

Die Erwachsenen indes erschrecken über Johannas Schönheit, über die Tiefe, die seit dem Tag am Feenbaum, an dem Gott mit ihr sprach, in ihren Augen wohnt. Gepaart mit einer Art fremden Wildheit, die man kaum kennt. Sie kann sich über die Knaben werfen, ihnen Gesicht und Schläfen versehren, erzählt man sich im Dorf. Ja, Johanna ist eine Kämpferin.

»Rühr mich nicht an!«, sagt eines Tages ein Knabe.

Er ist arm, er hat Knochenarme. Seine Augen sind fremdartig, fast sieht er aus wie eine Pflanze. Was tut Johanna da? Sie schlägt ihn. So erzählt man es sich jedenfalls im Dorf. Und dass sie gesagt hätte, diese Idee käme von Gott! So eine störrische kleine Magd! Und auch die Eltern berichten, dass Johanna hin und wieder tobt. Vor allem, wenn man sie frisieren will. Denn abends ist Johannas Haar widerspenstig. Sie hat zu viel gerauft. In einem Knoten muss es schließlich gefesselt werden. Das mag das Kind nicht.

Doch damit nicht genug. Johanna kann auch sehr rechthaberisch sein.

»Das Abendgebet!«, ruft Johanna eines Abends aus, als sie dem Priester des Dorfes auf der Straße begegnet.

»Ja?«, meint der und sieht das Mädchen fragend an.

»Sie haben die Glocke nicht geläutet!«, sagt das Mädchen stramm.

»Ehrlich?«

»Ja! Sonst kehre ich nämlich immerzu um, Herr Pfarrer, und lauf zu ihnen.«

Der Pfarrer lächelt. Nun muss er sich sogar von einem Kind ausschelten lassen! Seltsam, denkt er und betrachtet die kleine Johanna.

»Ich schenke Euch Wolle, wenn Ihr in Zukunft Eurer Pflicht besser nachkommen wollt!«, verspricht Johanna. Erstaunt betrachtet er die junge Frau. In der Kirche liegt sie manchmal mit dem Gesicht zum Boden gewandt da, seltsam verdreht. Die Augen auf das Bild des heiligen Christus gerichtet.

In dieser Zeit entdeckt Johanna ihre Magie. Sie hat mit der Großmutter zu tun und mit dem Feenbaum und Gottes Stimme. Doch sie ist ein Geheimnis. Eines, das es vor den Freunden und der Familie zu verbergen gilt. Johanna wallfahrtet zur Kathedrale, gemeinsam mit ihrer Schwester Catherine. Kerzen nehmen sie mit, entzünden sie unter dem Gnadenbild. Das liebt Johanna, sie liebt es ganz besonders. Doch sie muss ihre Stimme schützen und auch die Heiligen, von denen die Großmutter ihr immer erzählt hat. So berichtet sie niemandem davon. Gott kann immer nur heimlich sein, weiß Johanna inzwischen Bescheid. Und auch die Heiligen. Drei besuchen sie jetzt mit ihrer Stimmen: Barbara, Katharina und Margaretha. Von ihnen hat schon die Großmutter erzählt und sie sind Johanna inzwischen sehr lieb. Aber auch über ihre Stimmen wird geschwiegen. Süß ist der Duft, der Johanna entgegenstrebt, wenn sie an diesen besonderen Tagen beim Feenbaum sitzt und nachdenkt. Sie riecht schon die Engel, die jetzt noch Vorhänge sind. Später werden sie realer und realer sein. Irgendwann wird Johanna sagen: »Ich sah sie mit den Augen meines Körpers, so deutlich, wie ich euch sehe!« Das wird sie denen sagen, die sie anklagen. Jetzt aber wartet Johanna, denn die Stimmen sind noch weit weg und offenbaren sich nur langsam. Zu unklar und unreif ist alles noch, zu unfrei die kleine Johanna. Sie muss erst erwachsen werden, muss kämpfen lernen und reden in der Sprache der Menschen. Johanna aber ist ungeduldig, wenn sie auf die Stimme Gottes wartet.

Im darauffolgenden Winter stirbt die Großmutter, in Johanna lebt sie weiter. Und Johanna tut es dem Wind und dem Winter gleich, lernt von ihm, wie sie von Gott lernt: Wind, Sturm, Schneeweiß sind jetzt ihre heimlichen Namen. Und Winterstille liegt da, wo der Wind steht, es ist ein Raum in Johanna. Da geht die Jungfrau jetzt hin, betet und singt. Das Gebet des Winters ist der nächste Weg zum Licht, denkt Johanna.

»Alles wird wieder heil, lieber Gott, oder?«

Und manchmal kommt eine Antwort:

»Ja!«

5. Lernen

Bald befragt man Johanna zu ihrer Familie.

»Deine Eltern …«, will Cauchon wissen.

Johanna zieht eine Augenbraue in die Höhe, sie sieht jetzt wieder stärker aus. Es ist, als hätte das Brot sie zu Kräften kommen lassen.

»Ja?«, fragt Johanna.

»Warum hast du ihnen von der Abreise nichts gesagt, Johanna?«, will der Bischof wissen, während er seine glänzenden Ringe betrachtet, die er sich an die schwieligen Finger geheftet hat.

»Damals, als du aufgebrochen bist, um in die Schlacht gegen die Engländer zu ziehen?«

Johanna hat etwas von einem Jüngling. Gleichsam knabenkühn erscheint sie ihm. Loyseleur muss lächeln.

»Die Stimmen haben mir kein Stillschweigen auferlegt, nein«, entgegnet Johanna zögerlich. Ihr Widerstand scheint gewichen.

Ob es damit zu tun hat, dass er ihr das Brot angeboten hat?

»Hattest du keine Angst?«, will Cauchon wissen.

Johanna schüttelt den Kopf.

»Aber die Burgunder …«, fährt sie dann zögerlich fort.

Warwicks Gockelhals hüpft. Nun ergreift er das Wort.

»Was?«, geifert er mit hackender Stimme.

Und da geschieht es, mit einem Mal. Johanna wendet ihm den Blick zu, sieht ihn an und lächelt.

Fast sanft ist sie geworden, ganz plötzlich. Ihre Stimme ist voller Aufrichtigkeit, als sie fortfährt:

»Vor denen hatte ich Angst. Ihr versteht.«

»Ja?«

»Und besonders hatte ich Angst, mein Vater könnte mich vielleicht daran hindern, die Reise anzutreten. Vielleicht habe ich deshalb geschwiegen!«

Cauchons Körper wabbelt, während er sich vorbeugt, erstaunt von so viel Sanftmut. Seine Stimme klingt schleimig, erinnert an Kriechspuren, die Schnecken auf dem Erdboden ziehen, als er weiter in sie eindringt:

»Verstehe. Und du denkst, du hast rechtens gehandelt, einfach so aufzubrechen? Ohne Vater und Mutter etwas zu sagen?«

Johanna zuckt mit den Achseln. Hell und klar steht sie da, die Hände in den Fesseln vor ihrem Körper herhaltend.

»Nun ja – wenn Gott es gewollt hat!«, sagt sie.

»Wie?«

Warwick zieht eine Augenbraue in die Höhe, seine Stimme ist gackernd, hackend wie ein Beil. Er scheint sie anzuzweifeln. Sofort wird Johanna wieder zornig.

»Na, da hätte ich doch wohl hundert Väter und hundert Mütter haben können, oder?«, entgegnet sie und beginnt, mit den Armen zu fuchteln. Das Klirren von Ketten ist zu hören.

»Wie?«

Johanna lacht auf.

»Nun, ich meine, wenn Gott es befohlen hat?«, fragt sie erneut und immer noch ist ihre Unschuld bestechend. Loyseleur merkt, wie er wieder lächeln muss. Es scheint, als wäre das Eis gebrochen. Das Brot hat Johanna zahm gemacht. Sie wird beginnen, ihm zu vertrauen. Denn sie spricht ohne Hohn, versucht ehrlich, sich zu offenbaren. Oder?

»Ohne Erlaubnis jedenfalls. Da bist du gegangen. Einfach so, nach Neufchâteau!«

Cauchon versucht, mehr zu erfahren.

»Ja!«, entgegnet Johanna wahrheitsgemäß und klappt ihre Augen auf und zu.

»Du bist aber sehr eitel gewesen in der Wahl der Männerkleidung«, meint da der zweite Inquisitor und reckt erneut seinen Gockelhals. Heute ist Warwick wirklich schlecht gelaunt, denkt Loyseleur.

»So gar nicht demütig, Johanna?«

Sie zuckt mit den Schultern.

Für einen Moment ist es still. Man scheint nicht zu wissen, wie man weiter vorgehen soll.

»Als ich erstmals die Stimme hörte, gelobte ich Jungfräulichkeit, solang es Gott gefiele!«, sagt Johanna.

Warwick indes wird wütend, denn am liebsten wäre ihm eine spröde Jungfrau, die man sofort hinrichten lassen kann, er will kurzen Prozess machen.

»Bringt sie in eine Kammer und entkleidet sie!«, ruft er aus.

Cauchon sieht ihn erstaunt an, denn normalerweise ist er es, der die Befehle gibt.

»Ich will wissen, ob sie Mann oder Frau ist!«, wettert indes Warwick.

Etwas anderes scheint ihm im Moment nicht mehr einzufallen, denkt Loyseleur. Johanna zuckt mit dem Kopf, er kann es genau sehen, sie will ausspucken, wird jedoch am Hals gepackt und aus dem Gerichtssaal gezerrt. Für einen Moment herrscht Schweigen. Cauchon fixiert Warwick mit den Augen und kann es immer noch nicht glauben. Er ist es gewohnt, die Oberhand zu haben, was die Untersuchungen der Gefangenen betrifft. Und im Gegensatz zu Warwick geht es ihm nicht darum, blind zu bestrafen. Er ringt nach der Wahrheit, weiß Loyseleur Bescheid. Warwicks Befehl indes wird ausgeführt. Wenig später erscheint stolpernd ein Soldat. Er zerrt Johanna hinter sich her, mit verbundenem Mund. Aufgelöst ist ihr Haar. Sie tut Loyseleur leid.

»Zweifellos! Ein ganz echtes Mädchen, ehrlich!«, entgegnet der Soldat, »alles noch dran.«

Johanna wird rot vor Scham. Dann Stille.

In den Dörfern leben die Menschen wie eh und je, auch, nachdem Johanna Gott als Stimme begegnet ist. Der Alltag am Feld taktet die Tage, das Versorgen des Viehs muss erledigt werden. Dazwischen gibt es Feierlichkeiten. Die Hochzeit zwischen Magda und einem jungen Soldaten. Ihr Haar, Johannas Haar, braun und lang, es wirbelt im Wind, zum Zopf geknotet. Brautjungfern rufen zum Tanz. Alles könnte im Glanz sein. Man könnte fast ganz sein, denkt Johanna. Sie muss mit jedem tanzen, bis sie ein Kreis wird. Mit allem verbunden, auch mit dem Unglück über den Tod der Großmutter. Und sie tanzt und trinkt vom Leben. Es wird schon gut werden, sagt sich Johanna. Gott wird wiederkommen! Einstweilen ist sie Teil dieses Spiels im Dorf. Wer raubt mir das Kränzchen um Mitternacht?, so nennt man eines davon. Johanna will den Kranz der Braut nicht haben, ihre Schwester Catherine bekommt ihn. Johanna hätte lieber ein Schwert.

Es gibt die Messe, in der es sich auch ausruhen lässt nach getaner Arbeit, da steht ein Altar. Das ist ein Spektakel! Ganz vorn an der Spitze sitzen die Reichen, dahinter das gewöhnliche Volk. Es gibt auch Umzüge. Die Fahnen der Handwerkszünfte werden an den Feiertagen geschwenkt. Die Trachten schimmern prachtvoll, die Ornate aus Gold erfreuen das Auge. So viel Reichtum für Gott, denkt Johanna und dann folgen die Mädchen mit ihren spitzen schönen Häubchen. Die gefallen ihr nicht. Inzwischen verbringt Johanna ja mehr Zeit mit den Knaben, weil Gott gesagt hat, sie solle kämpfen lernen. Noch weniger mag sie die gestärkten Hauben der derben Bauersfrauen mit den runzeligen Gesichtern. Johanna hat ihr Haar gern offen, trägt es lose. Will es flattern lassen im Wind. Manchmal betrachtet sie, den Kopf in den Nacken gelegt, die Wolken, die über die Wiese schweben. Tanzen da nicht die Fäden Gottes im Licht? Sind es nicht silbrige Striemen, die sie verbinden, mit dem Himmel, mit der Ewigkeit, von außen nach innen und wieder zurück? Alle sehen denselben Mond und dieselben Sterne, denkt Johanna, ja, die Sterne haben kein Alter, glaubt sie. Ob sie auch sterben? Ein heller Schatten spricht zu ihr, es ist Michael.

»Ja. Eines Tages geht alles zu Gott!«, sagt er.

»Aber sie sind riesig, die Sterne, nicht wahr?«, fragt Johanna ungläubig.

»Sehr!«

»Und der Mond?«

»Auch der!«

»Aber warum sterben, das ist ungerecht!«, beharrt Johanna.

Michael lacht.

»Es kommt nur einmal im Leben vor!«, sagt er.

»Was heißt das?«

»Gott hat es schon gerecht gemacht, Johanna!«, meint er, der aus dem Schatten gestiegen ist und jetzt kaum mehr als ein Säuseln zu sein scheint, das sich als kleiner Lichtstreifen tanzend vor ihr hin und her bewegt. An die Großmutter erinnert er irgendwie, trotz seines hellen Schimmers, findet Johanna.

»Warum?«

»Sogar in den kleinsten Kapellchen unter den Armen predigt man einmal im Jahr!«, lacht der Erzengel.

Johanna versteht nicht. Sie schweigt. Der Engel schweigt mit ihr. So verstreicht wieder die Zeit. Gott vertieft die Lichter, Farben und Schatten. Die Gottesäcker sind hängende Gärten, stellt Johanna sich vor. Sind in den Lüften. Himmel und Erde sind ein Spiegel Gottes. Der Mond, er gehört der Sonne und der Erde zugleich, weiß sie Bescheid. Goldadern schwimmen im Licht, so schlafen die Länder an den Ländern, unbeweglich stehen Wälder an Wälder gelehnt. Unter den Regentropfen sind die Körner gebückt und die Ähren. So beugt Gott auch sie, denkt Johanna. Dennoch: Sie will nicht älter werden. Verkörperung, was ist es mehr als Verknöcherung? Alles wird immer anstrengender, die Arbeit, die Denkfäden im Hirn. Die Blättergerippe der Bäume im Herbst machen mit jedem Jahr trauriger. Nur Michael wärmt. Wie ein heißer Sommerregen klingt Michaels Flügelrauschen. So plaudert sie mit dem Engel und er gibt ihr Trost.

»Wie nackt die Schweine rumlaufen!«, sagt Johanna.

»Dafür hat Gott ihnen aber den Schwanz gezwirbelt!«

»Und das Glühwürmchen! Wie hässlich es ist bei Tag!«

»Aber bei Nacht leuchten diese Käfer, ehrlich!«

»Brennen sie denn? Können sie dich entzünden?«

»Nein, die glühen nicht wirklich!«

»Nicht wie Feuer?«

»Nein!«

Der Engel lacht und Johannas Herz zerbirst fast vor Freude, als sie das hört.

»Wenn das Herz einen Sprung kriegt, wie klingt das denn?«

»Als würde Glas springen!«

»Ehrlich?«

»Ja.«

So tönen Michaels Worte. Weich wie fallender Schnee. Oder wie fremde, gedämpfte Erde.

Auch über den Krieg lernt Johanna – schon 1425. Es ist das Jahr, in dem ihre Visionen beginnen. Eine englische Kriegshorde. Sie reitet in Orléans ein, treibt das Vieh weg. Bald schon ist alles niedergebrannt und geplündert. Orléans wird belagert und am 12. Oktober erscheint eine Staubwolke am Horizont vor Johannas Heimatdorf Domrémy. Man beschließt, die Kräfte auf den Stadtkern nördlich der Loire zu konzentrieren. Doch der Widerstand hilft nicht: Die Engländer richten bald mehr und mehr Schaden an. Graf von Dunois, ein junger aufstrebender Feldherr, übernimmt indes das Kommando in Orléans, erzählt man sich im Dorf. Ein Franzose. Man hofft, er würde zu Hilfe eilen, denn nun brennt Domrémy. Der Krieg wütet und Johanna rennt von dem Feuer fort in den Wald. Sie sucht Zuflucht bei den Heiligen. Betet, als das Dorf eingeäschert wird. Überall Lodern und helles, stechendes Licht. In ihrem Kopf, in ihrem Herzen. Es pulsiert. Allein die Statue der heiligen Margareta, sie ist zwischen den Steinen der Kirche unversehrt geblieben! Gott sei Dank. Johanna, noch Kind, kauert sich ihr zu Füßen nieder. Wie gut, denkt sie, dass du noch da bist, große Mutter! Und sie betet zu Margareta und denkt an die Großmutter. Die Heiligen, sie sind ein Narbenklan. Sie haben gelitten, weiß Johanna. Es hat sie entzwei geteilt. Auch in Johanna ist ein Riss, der groß und größer wird. Ein Schmerz, der keine Wände kennt. Der Riss heißt jetzt Krieg. Die Kriegshorde. Jetzt hat sie auch Domrémy heimgesucht. Obwohl es doch an der äußersten Grenze des Königreichs liegt. Die Felder liegen in Asche, der Vater sieht schwach aus. Der Handel kommt zum Erliegen, die Straßen liegen brach. Überall Bettler, vom Krieg Entwurzelte, Traurige, Stumme.

»Was hältst du von den Burgundern?«, fragt der Vater an einem der Abende Johanna.

»Wenn mir einer begegnet, dann wäre das Beste, man schlüge ihm den Kopf ab, so es Gott gefällt!«, ruft Johanna laut aus.

Doch der Krieg bringt nicht nur Böses: Mit ihm wird Gottes Stimme wieder laut.

»Du musst kämpfen, Johanna!«

Die Stimmen, sie schwirren um sie in diesen Tagen.

»Du musst Partei ergreifen, Johanna!«, sagen sie, wieder, wieder und wieder.

Es dauert nicht lang, bis Johanna ein Licht aufgeht: Für den König von Frankreich sind sie, die Stimmen! Oder? Sie fragt danach, aber noch ist die Antwort nicht eindeutig. Noch muss sich die Jungfrau gedulden. Gott macht nur langsam ein Werkzeug aus Johanna, und Johanna wartet auf seine Worte. Den Eltern gegenüber verschweigt sie es. Johanna weiß, man muss die Geheimnisse hüten. Nur die Schwester Catharine: Sie weiß Bescheid. Aber auch der Vater ahnt es. Mehr als Johanna lieb ist. Noch kann er wegsehen. Johanna indes erkennt ihre Magie. Mehr und mehr. Die Welt ist im Kristall, denkt sie, und ich habe die Kraft, sie zu verändern. So streift sie betend zum See. Hält man die Nase nahe ans Wasser, sieht man den Grund nicht – bloß den Himmel, oder? Und die scharfen Schilfblattränder. So ist es ein wenig mit der ganzen Welt, sagt sie sich. Die Wirren der Sonnenuntergänge. Rhythmen aus Farbe, Licht, Schatten. Schwer drückt sie die Welt nieder. Und doch: Wie schön sie ist! Dabei ahnt sie ihren eigenen Tod voraus, oder? Sie weiß um ihr Untergehen, jeden Abend.

Der Krieg und der Kampf scheinen also notwendig zu sein, begreift Johanna. Die Seele wird zum Sterben gezwungen. Dennoch schlummert die Lebenswärme in ihr! Und sie kann auferstehen. Johanna sammelt also all ihre Hoffnung zusammen. Sie betrachtet Fluss und Quelle. Genau wie das Wasser verliert sich Johanna in der Lebensflut.

»Zieh in den Krieg, Johanna!«

Sie dringt in ihn, dringt in Gott.

»Wann? Wohin? Wie genau?«

Doch es hilft nichts. Es ist nur dieser eine Satz. Dann bloß wieder Schweigen. Manchmal weiß Johanna dann nicht mehr weiter. Dann quälen sie fixe Zwänge, zerrissene Ideen im Hirn, die Erinnerung an bessere Zeiten in der Kindheit, die nach und nach ausbleibt. Schritt für Schritt meinem Schicksal gehorchen muss ich, denkt Johanna. Sie sucht Gott in den kleinen Ereignissen, im Licht. Und wie Gott sein, genau so! Das will sie jetzt. Damit das Gras ihrer Heimat wieder grün wird wie damals in der Kindheit! Sie will Lebenswärme, will schlummern, will wach sein. Gottes Widerschein sprenkelt mehr und mehr ihre inneren Wände, je größer das Leid wird. Wie der Regen will Johanna sein, strömen, immer strömen. Manchmal aber sind die Tage nur Perlenschnüre.

»Du musst jetzt bald los«, sagt Gott eines Morgens, »kämpfe!«

»Aber das bringt den Tod«, sagt Johanna, »und Schuld und Verderben!«

»Es ist nicht möglich, einander zu lieben, wenn wir uns nicht schuldig machen. Denn nur so erkennen wir die Verbundenheit mit den Menschen!«, sagt Gott.

Und wieder begreift Johanna, dass sich alles wiederholen muss, immer und immer wieder. Krieg und Verbitterung, Leben und Tod, Liebe und Freude. Es ist schwer zu ertragen. In der Kehle sitzt die Unmöglichkeit, zu schlucken. Die Angst ist ihr zugedacht. Von ihr kann man nur in Gott hineinlaufen. Oder in die Messe. Aber seit die Plünderer da waren, ist auch der Pfarrer nicht mehr derselbe. Weggeduckt sein altes Gesicht. Er klammert sich an seinen Stock, predigt mit zitternder Stimme. Und Johanna klammert sich an die Worte der Predigt wie an einen Faden. Die Worte aus der Bibel nehmen sie an der Hand. Dass der Faden ihr ja nicht zerreißt: gestern, heute, morgen. Sie braucht eine Sicherheit. Will geborgen sein. Worte bieten eine Stütze, auch wenn sie schwach ist. Aber es hilft nichts, Johanna leidet, denn Johanna wird jetzt von Gott geformt. Etwas drückt sich in ihr Wesen ein und sie merkt, dass sie da ein Loch hat, einen Abgrund, in den sie fällt. Was folgt, ist Dunkelheit, eine Unfähigkeit der Sprache, Trauer fliegt herbei und spielt Vogel, aber immerzu hängt Gottes Gesicht über ihm und leuchtet mit den Augen gegen die Finsternis. Der Vogel von damals, denkt Johanna, er war tot, aber niemand kann ihn hindern, die Flügel und Federn zu sammeln und Auferstehung zu erleben. Oder? Auch, wenn der Krieg ein Netz aus Angst über ihre Gedanken geworfen hat. Der Pfarrer indes wird immer trauriger, es bilden sich Rinnsale um seinen Mund. Er stirbt, einfach so, eines Tages. Das tut Johanna weh. Wie man aus einer Ferse Dornen zieht, löst sich ihr Schmerz der vergangenen Jahre, hindert sie am Alltag. Nicht einmal essen kann sie mehr, die Salate haben Rippen, das Fleisch lebt. Das Kauen knirscht zu laut.

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