Kitabı oku: «Haben Sie's heilig?»
Stefan Keim
Haben Sie’s heilig?
Satiren im Schatten der Krippe
ATHENA
edition exemplum
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E-Book-Ausgabe 2014
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ISBN (Print) 978-3-89896-508-8
ISBN (ePUB) 978-3-89896-864-5
Nikolaus-Variationen
Der globalisierte Weihnachtsmann – Ein Monolog
Hohoho – Ohhh! Mein Gott, der Rücken. (nimmt sein Handy) Moment. Nein, Chef, ich hab dich nicht angerufen. Auch nicht symbolisch. Das ist eine Redewendung, da brauchst du dich nicht direkt angesprochen zu fühlen. Weißt du doch. Ja, ich kenne das Gebot. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Das war doch kein Missbrauch! Nein, Chef! Missbrauch ist was anderes. Ja, ich bin in Sythen. Haltern-Sythen. Nein, ich bin noch nicht fertig, gerade erst angekommen. Entschuldige, wenn du mich nicht vom Bescheren abhalten würdest, dann hätte ich längst angefangen. Ja, mach ich. Einen Moment noch: Das Gespräch war Arbeitszeit, das geht nicht von meiner Pause ab. Alles klar. Hosianna! Hohoho – Moment. Raucherpause. Ist tariflich festgelegt, dafür haben wir das ganze Jahr über gestreikt. Seit Mai mit solidarischer Unterstützung der Osterhasen. Alle zwei Stunden fünf Minuten Raucherpause, auch für Nichtraucher. Das wäre sonst ungerecht. Der Chef soll froh sein, dass wir keinen Gleichstellungsbeauftragten gefordert haben. (ins Publikum) Und bei Ihnen so? Läuft? Alle Geschenke im Sack? Hauptsache, nicht in meinem. Wenn das zulässige Gewicht von 25 Kilo überschritten ist, fliegt mein Rentier keinen Meter mehr. Das ist jetzt auch in der Gewerkschaft. In der HCFER, Hohe christliche Feiern, Engel, Rentiere. Ein selbstbewusstes Wesen hab ich da seitdem, kein Reittier mehr, sondern einen Transportpartner. Es ist auch nötig, dass die Kollegen mit Geweih endlich mehr Rechte bekommen. Das sind ja auch nicht mehr die Jüngsten. Auf Beschluss der Bundesregierung dürfen keine jüngeren Tiere mehr im Weihnachtsgeschäft arbeiten. Glauben Sie nicht? Noch nichts von Rentier mit 67 gehört? Lesen Sie mal Zeitung.
Und die Anforderungen steigen, das sage ich Ihnen. Früher haben wir ganz gemütlich ein Dorf pro Gift-Team beschert. Bitte? Gift-Team, auch bei uns werden jetzt die englischen Begriffe verwendet. Gift heißt Geschenk. Was dachten Sie denn? Ja, auch im Himmel ist nach dem letzten Relaunch das Latein fast ausgestorben. Dabei klang Duo Donum viel besser als Gift Team. Petrus ist jetzt der Heaven Managing Director. Klingt wichtiger als Apostel oder Jünger. Aber ich hab mich noch nicht daran gewöhnt. Also früher hat jedes Gift Team ein Dorf angefahren, oder einen Stadtteil. Heute arbeiten wir global. Überall einsetzbar. Das erfordert viel Zusatzqualifikation. Fremde Sprachen, kulturelle Hintergründe. In meinem ersten Jahr als globalisierter Weihnachtsmann habe ich Barbie-Puppen über dem Vatikan abgeworfen. Das gab Ärger mit dem Chef. Die wollen doch alle Ken.
Man muss sich auch immer tagesaktuell auf dem Laufenden halten. In diesem Jahr kein Monopoly für die Griechen. Mit der Ereigniskarte »Bankirrtum zu deinen Gunsten« können die nicht viel anfangen. Hingegen wäre Monopoly passend für einige arabische Diktatoren. »Gehe direkt ins Gefängnis.« Aber die glauben ja nicht an den Weihnachtsmann. Obwohl es auch in ihren Ländern viele Christen gibt, die wir bescheren müssen. Und auch Weihnachtsmänner. Wir sind inzwischen eine Multikultigesellschaft. Ich hab’ schon bei Morgenrot einen Weihnachtsmann mit Migrationshintergrund sagen hören: Schaut, Kinder, das Christkind grillt Döner. Und als letztens der Chef sagte: Ignatius hat ‘nen Gelben, da meinte er keinen Krankenschein, nein, der Kollege bekam einen Praktikanten aus China zur Seite gestellt.
Moment, Handy vibriert. Chef! Hosianna! O Gott, äh, Entschuldigung, ei der daus wollte ich sagen. Es tut mir sehr leid, ich hab mich hier so nett unterhalten. Ja, die Pause war wirklich sehr lang. Aber woher weißt du das eigentlich? Natürlich, du bist allwissend und allgegenwärtig. So ein Arbeitgeber wie du braucht keine Überwachungskameras wie bei Aldi oder Penny. Der sieht dich immer. Ja, Herr, sofort. Klar, kannst dich auf mich verlassen. Hosianna! Na, denn mal los. Hohoho … tschi! O je. Das wird eine Grippe. Sie haben bestimmt Verständnis, ich muss sofort los und mich impfen lassen. Sonst falle ich an Heiligabend aus, und das wäre satanisch. Lieber ein paar Tage ins Bett und dann wieder voll da. Bitte? Sie wollen sich beschweren? Ach, bescheren soll ich erst noch. Würde ich gern, geht aber nicht. Wir können doch nicht riskieren, dass die Geschenke Viren enthalten. Und dann gibt es wieder so eine unangenehme Rückrufaktion. Verzeihen Sie bitte, Geschenke gibt’s erst an Weihnachten. Garantiert virenfrei. Bis dahin, fro-hohohoho … tschi!
Das Kornwunder von Wickede
Die Schwüle trieb Ahmed den Schweiß auf die Stirn. Schwer atmend stellte er für einen Moment den Rasenmäher ab und gönnte sich eine kurze Pause. Zu lang durfte er sich nicht ausruhen, das wusste Ahmed. Denn sonst galt er im Kleingartenverein als Weichei. Er kannte den Mechanismus. Erst sagte einer: »Guck mal, der Ahmed, in Anatolien aufgewachsen, aber so ein bisschen Wärme macht den schon fertig.« Dann wurde daraus: »Unter Tage haben sie den Ahmed ja immer mit durchgezogen.« Und schließlich: »Der Ahmed macht es auch nicht mehr lange.« Bis schließlich Werbung von Bestattern in seinem Briefkasten lag. So weit durfte es Ahmed nicht kommen lassen. Dies war der Tag, da musste der Mäher mähen. Ahmed wollte gerade den Motor wieder anlassen, als er eine seltsame Melodie hörte. »Es ist ein Ros’ entsprungen«, sang jemand hinter der Hecke auf dem Nachbargrundstück. »Aus einer Wurzel zart.« Ganz verstand Ahmed den Text nicht, doch er schien ihm für einen Kleingärtner zumindest nicht ungewöhnlich. Aber die Melodie klang nicht wie die Hits, die abends manchmal aus dem Vereinsheim schallten. Es haftete ihr etwas Entrücktes an.
Ahmed überlegte kurz. Der Kleingarten nebenan hatte vor einer Woche den Besitzer gewechselt – das wusste er –, nachdem seinen langjährigen Nachbarn Erwin beim Unkrautjäten der Schlag getroffen hatte. Ein schöner Tod für einen Kleingärtner, mitten in der Pflege des Beetes, ein Sturz, Erde zu Erde. Ahmed hatte Erwins Nachfolger noch nie gesehen. Im Vereinshaus munkelte man, er käme aus einer Kleinstadt im Sauerland, habe einige Tannen mitgebracht und im Garten eingepflanzt. Dazu brauchte er eine Sondergenehmigung, weil diese Bepflanzung nicht dem Stil der Anlage entsprach. Der Vorstand hatte es genehmigt, was Ahmed verblüffte. In anderen Punkten waren die Kleingärtner nicht so tolerant. Der rätselhafte Nachbar hatte inzwischen die Melodie gewechselt. Nun sang er: »Alle Tage wieder kommt das Christuskind auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind.«
»Hey, Kollege, und?« Ahmed hatte die Konversation begonnen. Jeder in der Kleingartenkolonie hätte auf diese Frage mit zwei Worten geantwortet. »Muss.« Lange Pause. Und dann: »Selbst?« Doch hinter der Hecke ertönte ein freudiger Aufschrei, gefolgt von den Worten: »Hosianna, Ehre sei dem Herrn in der Höhe!« Ahmed erschrak. Ein christlicher Fundamentalist. Ein Christalist. Ihm stellten sich alle Barthaare hoch. Mit solchen Leuten konnte er gar nicht umgehen. »Fürchtet euch nicht!«, klang es hinter der Hecke hervor. »Denn sehet, ich verkündige euch große Freude.« Ahmed blieb skeptisch. Selbst wenn der Typ kein gewaltbereiter Fanatiker war, könnte er ihm immer noch den »Wachtturm« unter die Nase halten und eine Bekehrung versuchen. Ahmed war Moslem, kein besonders gläubiger, aber er hätte die Religion niemals aufgegeben. Sie gehörte einfach zu ihm. Seine Töchter wären nie auf den Gedanken gekommen, ein Kopftuch zu tragen. Seine Frau schon, es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er sie angebettelt, öffentlich ihre wohlfrisierten Haare zu zeigen. Aber sie wollte nicht, sie liebte ihre Kopftücher. War eben so, Ahmed konnte nichts daran ändern. Und nun »Hosianna!« aus dem Nachbargarten!
»Machet die Tore weit!«, donnerte der Mann von nebenan nun mit tiefer Bassstimme. »Machet die Tore weit, und die Türen in der Welt hohohoch, hohohoch!« Die letzten Worte klangen ein wenig weiter weg. Ahmed wusste nicht, ob er aufatmen konnte. Das Hohohoho klang ihm verdächtig nach einer deutschen Sitte, die er nie ganz verstanden hatte. Immer am Ende eines Jahres wurden in diesem Land, das er sonst längst als seine Heimat akzeptiert hatte, alte Männer mit weißen Bärten auf Kinder losgelassen. Ahmed beruhigte sich. Seine Töchter waren längst aus dem Haus. »Hohohoho!« Ahmed fuhr herum. Einige Meter hinter ihm stand ein Weihnachtsmann. Ahmeds Kleingarten hatte keinen Zaun, so etwas brauchte er in der Anlage nicht. Schließlich kannte er fast jeden, der dort ein Häuschen hatte. Nur eben den neuen Nachbarn noch nicht.
Der stand nun in Ahmeds Garten, mit rotem Mantel, Kapuze und weißem Bart. Mitten im schwülen Juli, während Ahmed schon im T-Shirt schwitzte. Er tastete nach seinem Handy, falls der Wahnsinnige aggressiv würde und er die Polizei rufen müsste. Aber der Weihnachtsmann wirkte fröhlich. »Wollen wir doch mal sehen, ob ich in meinem Sack etwas für dich habe«, meinte die seltsame Gestalt. Ahmed schaute genau hin. Unter dem Bart war das Gesicht gerötet und nass. »Hey, Kollege«, meinte Ahmed, »guter Auftritt. Aber jetzt kannst du das Kostüm ablegen. Mir ist so schon heiß.« Der Weihnachtsmann schüttelte den Kopf. »Ich schwitze auch. Aber wer die richtige Stimmung in der heiligen Zeit verbreiten möchte, sollte keine Mühe scheuen.« Ahmed wusste nicht, ob irgendwo eine versteckte Kamera das ganze Gespräch aufnahm. Vielleicht handelte es sich auch nur um einen dieser Scherze, den der Steiger Jochen immer mal wieder den Kumpeln von früher spielte. Ahmed wollte sich keine Blöße geben. »Es ist Juli«, sagte er trocken. »Keine heilige, eher eine heiße Zeit.« Sein Besucher schaute ihm fest in die Augen. »Für mich ist jeder Tag Weihnachten.« Er machte eine kurze Pause und setzte mit leiserer Stimme hinzu: »Jeder.«
Die Stimme des Weihnachtsmannes klang ernst. Ahmed spürte, dass es sich nicht um einen blöden Witz handelte. Dieser Mann glaubte an das, was er tat, so verrückt es einem auch vorkommen mochte. »Möchtest du was trinken?«, fragte Ahmed und war sich nicht sicher, ob er wirklich ein längeres Gespräch führen wollte. Der Weihnachtsmann nickte. »Hast du Punsch?« Ahmed bot ihm türkischen Tee an. Wieder nickte sein Besucher.
Sie saßen sechs Stunden lang zusammen. Ahmeds Rasen blieb ungemäht, zumindest der Teil, der noch an die Reihe gekommen wäre. Der Weihnachtsmann nahm seinen Bart ab, zog den Mantel aus und setzte sich in T-Shirt und kurzer Hose an den Gartentisch. Dennoch umgab ihn weiterhin eine adventliche Aura. Aus dem Rucksack hatte er ein Päckchen Spekulatius geholt, dessen Haltbarkeitsdatum längst überschritten war. »Kann man aber noch essen!« Die Stimme duldete keinen Widerspruch. Dann erzählte er seine Geschichte. Er war ein Unfall gewesen. Seine Mutter hatte es immer wieder gesagt und nur halb im Scherz gemeint, wenn überhaupt. Die Eltern arbeiteten beide, hatten auch sonst kaum Zeit für ihn, ließen ihn spüren, dass er eigentlich immer im Weg war. Wenn sie Urlaub machten, kam Elmar – schon seinen Namen empfand er als Zeichen der Missgunst – immer zu seinem Opa Erwin. Zwei Wochen im Sommer und zwei im Winter, immer kurz vor Weihnachten. Dann brachen Elmars Eltern auf in den Skiurlaub. Weihnachten beim Großvater war immer die schönste Zeit des Jahres. Da erlebte Elmar Warmherzigkeit, Geborgenheit, Freude. Die Geschenke der Eltern bestanden fast immer aus Pullovern und Socken. Anfangs hatte ihn das verletzt, später machte es ihm nichts mehr aus. Viel wichtiger waren die Geschichten des Großvaters, die Berichte, wie er es auch direkt nach dem Krieg immer geschafft hatte, aus dem Heiligen Abend einen besonderen Moment zu machen. Dass ein Kerzenstummel in einer Atmosphäre der Liebe viel mehr bedeutete als jeder Luxus, verstand Elmar in diesen Augenblicken.
In der Schule fand er ebenso wenig Anschluss wie bei der Bundeswehr, in der Lehre, im Beruf. Elmar kam immer irgendwie durch, glanzlos, ohne Höhepunkte zu erleben. Zum Filialleiter im Penny-Markt hatte er es gebracht, das Geld reichte ihm, die Suche nach einer Frau hatte er mit 45 aufgegeben. Die Abende verbrachte er vor dem Fernseher. Bis sein Opa starb und ihm den Schrebergarten sowie einen Koffer hinterließ. Darin fand Elmar das Weihnachtsmannkostüm und einen Brief, in dem der Großvater ihn aufforderte, sich nie unterkriegen zu lassen und stets an die schönen Momente des Lebens zu denken. Elmar hatte lange überlegt. Da gab es ein paar Augenblicke im Supermarkt, als ihn eine blonde Kundin angelächelt hatte, weil er für sie einen heruntergefallenen Blumenkohl erst aufgehoben und dann umgetauscht hatte, weil er einen schöneren in der Auslage hatte. Da hatte er das Gefühl, dazu zu gehören. Aber so etwas kam nur selten vor. Die schönsten Tage seines ganzen Lebens waren die Weihnachtsfeiern beim Großvater gewesen. Elmar handelte konsequent. Er versteigerte seinen Fernseher bei Ebay, schmückte seine kleine Wohnung, stellte ein großes Foto seines Opas auf den Tisch und feierte von nun an jeden Abend Weihnachten.
Es war gar nicht teuer. Ein kleines Menü brachte Elmar sich aus dem Supermarkt mit. Meistens waren es abgelaufene Waren, die sich aber noch problemlos verzehren ließen. In Ramschläden und auf Online-Versteigerungen besorgte er kleine Geschenke, die er liebevoll verpackte. Auf den Inhalt kam es ihm nicht an. Elmar legte CDs mit Weihnachtsliedern auf, verteilte Äpfel, Nüsse und Mandeln in der Wohnung, und bescherte sich jeden Abend selbst als Weihnachtsmann. Alle Tage wieder.
Den Spekulatius hatten sie aufgegessen, Ahmed war schon fünf Mal in der Küche gewesen, um neuen Tee aufzugießen. Zu Weihnachten hatte er als Moslem keinen Bezug, aber er verstand, was Elmar dazu trieb, jeden Abend in die Fantasiewelt des Friedens und der Fröhlichkeit einzutauchen. Gleichzeitig wusste er: Elmar würde auch im Kleingartenverein sofort als Außenseiter abgestempelt, sobald er mit Weihnachtsmannkostüm im Vereinsheim auftauchte. Elmar hatte seine Geschichte erzählt und war still geworden. Erst schien er zufrieden, dann wirkte er etwas traurig. Die Schultern waren herabgesunken, einige Minuten starrte er geistesabwesend in die Ferne. Dann stand er mit einem Ächzen auf. »Es ist spät geworden, und du wolltest doch eigentlich deinen Rasen mähen.« Elmar ging zur Tür, drehte sich um. »Danke, Ahmed.«
Zwei Tage später klopfte es an Ahmeds Tür. Es war ein wildes, panisches Pochen. »Ist doch offen«, rief Ahmed, und schon stand Jochen in seiner Hütte. Der Kopf unter den weißen Haaren war knallrot. Jochen schwitzte und japste. »Ganz ruhig«, sagte Ahmed, »soll ich dir einen Tee machen? Du solltest nicht so rennen, denk an dein Herz.« Jochen kam langsam wieder zu Kräften. »Der Wahnsinnige!« Mehr brachte er im ersten Augenblick nicht heraus. Ahmed hatte keine Ahnung, worum es ging. »Langsam, Jochen. Brauchst du deine Tabletten? Soll ich Fritzi anrufen?« Jochen packte den Arm seines langjährigen Bergbaukameraden. »Ahmed! Wir müssen ihn aufhalten! Er brennt unsere ganze Anlage ab!«
Elmars Augen waren geschlossen. Langsam hob und senkte sich sein Brustkorb. Der Schweiß floss in Strömen sein Gesicht hinunter und tropfte auf den Rasen. In seinem Traum blinzelte er, sah über sich die Köpfe eines Ochsen und eines Esels. Es war ihm, als ob die Tiere lächelten. Elmar streckte ihnen die Arme entgegen, sie sahen klein und knubbelig aus, er kam gar nicht an die beiden heran. Dennoch fühlte er sich wohl. Er drehte den Kopf, wollte sehen, wer noch bei ihm war, als plötzlich ein beißender Geruch seine Nase füllte. Elmar hustete, spuckte, fühlte, wie ihn jemand herumriss und wegzog. Er riss die Augen auf. Seine Arme hatten wieder normale Länge. Elmar erkannte den Mann, der ihn gerade über den Rasen schleifte. »Ahmed! Was ist los?« Ein knallroter Kopf rannte vorbei, jetzt erkannte er ihn, es war Jochen, der einen Eimer Wasser über den Tannenbaum schüttete. Qualm stieg auf, und Elmar hustete wieder. »Was hast du dir denn dabei gedacht, du Hirni?« Jochens Kopf hatte nun eine tiefrote Farbe angenommen. »Du kannst ja hier in deinem Garten machen, was du willst. Dein Großvater war auch nicht ganz normal. Aber mitten im Sommer Kerzen in die Tanne hängen und anzünden, Herr Gott, du hättest die ganze Anlage abfackeln können. Bist du so blöd, oder tust du nur so?« Elmar wusste keine Antwort, Jochen erwartete auch keine. »Komm, Ahmed.« Der Mann mit dem Silberhaar wedelte wütend mit der Hand und verließ schnaufend den Garten. Ahmed blieb da.
»Er war kein Türke!« Elmar wollte sich nicht aufregen. Er wusste, dass Ahmed viel für ihn getan hatte in den vergangenen Tagen. Aber diese Behauptung war doch zu viel. »Nur weil er in Smyrna geboren wurde, war der Nikolaus kein Türke.« Ahmed grinste siegessicher. Er hatte sich informiert. »Myra hieß die Stadt damals, dann Smyrna und heute Izmir. Der heilige Nikolaus war Türke.« Ahmed hatte lange nicht die Stadtbibliothek besucht. Er war überrascht gewesen, wie sie sich verwandelt hatte, seitdem er vor 40 Jahren dort ein Sprachbuch »Deutsch für Gastarbeiter« ausgeliehen hatte. Eine Angestellte hatte ihn direkt zu einem Computer gebracht und ihm gezeigt, wie man googelt. Ahmed hatte gegoogelt und alles herausgefunden über Nikolaus, den Bischof von Myra. »Er hat schon als Baby bei seinem ersten Bad ohne fremde Hilfe gestanden. Das Wannenwunder. Er hat eine Hungersnot bekämpft, indem er das Korn vermehrte. Das Kornwunder. Und er hat drei jungen Frauen, deren verarmter Vater sie zur Prostitution zwingen wollte, Goldklumpen ins Schlafzimmer geworfen, damit sie eine Aussteuer hatten.« Elmar knurrte genervt: »Das Nuttenwunder!« Ahmeds Augen funkelten. »Benimm dich nicht wie ein beleidigtes Kind! Du hast Weihnachten nicht gepachtet. Nikolaus war ein Türke!« Elmar erhob sich aus seinem Gartenstuhl. »Ich lese auch nicht nur Kitschgeschichten. Nikolaus war ein Grieche, das sagt schon sein Name. Nikolaus heißt nämlich auf altgriechisch »Siegreicher der Völker«. Und was könnte der Name auf Türkisch heißen? Du bist dran.« Ahmed wusste, dass hier der Schwachpunkt seiner Argumentation lag. »Allah, gib mir Kraft«, dachte er und wunderte sich. Das war sein erstes Gebet seit einigen Jahren gewesen.
Zwei Wochen später wurden die Tage schon wieder kürzer und kühler. Im Vereinsheim der Kleingartenanlage prosteten sich die Leute zu. Jochen hatte eingeladen, 72 wurde er an diesem Abend. Das dritte Tablett mit Schnapspinnchen ging herum, als Jochen seine Frau fragte: »Sach ma’, wo ist denn Ahmed? Der ist doch nicht krank geworden, oder?« In diesem Moment pochte es an der Tür, und ein lautes »Hohohoho« war zu hören. Die Gesellschaft verstummte, dann lachten einige und meinten, da habe sich aber jemand in der Jahreszeit vertan. Wieder klopfte es, und Horst machte auf. Völlig verdattert starrte er auf eine Gestalt im weiten Mantel mit weißem Bart, die draußen stand. »Ich glaub es nicht«, rief Horst, »da kommt ja wirklich der Weihnachtsmann. Na, komm rein, Elmar! Aber nicht wieder zündeln, ja?« Jochen legte Horst die Hand auf den Arm. »Moment mal. Das ist nicht Elmar.«
»Ist er doch!« Elmar kam hinter der roten Gestalt hervor gesprungen. »Ich bin der Knecht Ruprecht, und wer nicht brav war, kriegt keine Geschenke.« Die Kleingärtner schauten ihn kurz an, dann wieder auf den Weihnachtsmann. Jochen war verwirrt. »Ahmed, du bist doch Türke, oder?« Würdig schritt der Nikolaus ins Vereinsheim. »Ja, ich bin Türke. Ich, der heilige Nikolaus von Myra. Geboren im heutigen Izmir. Ich habe Tote auferweckt und mein Vermögen unter den Armen verteilt.« Knecht Ruprecht ergänzte: »Hosianna!« Horst schaltete am schnellsten. »Du, Nikolaus, wenn du noch was übrig hast, bei mir findest du immer eine offene Hand.« Ahmed sah ihn mit durchdringendem Blick an. »Ich habe schon vor 1800 Jahren alles verteilt. Aber wenn ihr wollt, könnten mein Knecht Ruprecht und ich den Schnaps in diesem Raume vermehren, auf dass ihr alle trinken möget, so viel euer Herz begehrt und die Leber verträgt.« Elmar holte ein paar Flaschen Korn aus seinem Sack hervor. Applaus erhob sich im Vereinsheim. »Moment«, rief Knecht Ruprecht. »Erst wird gesungen!« Und so schallten mitten im August aus dem Vereinsheim des Kleingartenvereins Weihnachtslieder. Eine Stunde lang, denn nach zögerndem Beginn hatten alle richtig Spaß daran. An diesem Abend wurde der Entschluss gefasst, in der Anlage einen eigenen Gesangsverein aufzumachen. Und wenn jemand fragte, wer denn auf diese Idee gekommen wäre, dann erzählten alle die Geschichte des Kornwunders von Wickede.
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