Kitabı oku: «Mörderklima», sayfa 3

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5.10. Oktober 2020, Potsdam, Berliner Vorstadt

Die Mail kündete sich unaufgeregt mit einem technokratischen „Pling“ an. Ein Geräusch, das inzwischen beinahe so vertraut war wie das eigene Atmen. Als Georg den Betreff las, traute er seinen Augen nicht. Kurzzeitig entzog es ihm den Boden unter den Füßen.

Beerdigung Frieda

Die unheilvolle Ankündigung traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen. Unerbittlich, knallhart und schwer zu verdauen. Bevor er weiterlesen konnte, musste er schlucken. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper, er stellte den Blick scharf und las.

Hallo Georg,

leider haben wir lange schon nichts mehr voneinander gehört. Vermutlich sind wir beide beschäftigter, als uns lieb ist. Aber die Wissenschaft duldet nun mal keinen Aufschub und verlangt unsere volle Hingabe

Aber nun zu etwas Ernstem. Leider habe ich keine guten Nachrichten. Mehr oder weniger durch Zufall habe ich erfahren, dass unsere alte Studienfreundin Frieda durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen ist. Du weißt ja, wie das ist: einmal Wissenschaft, immer Wissenschaft und die Community ist dann doch nicht so riesig, dass schlechte Nachrichten einen nicht erreichen würden. Du machst dir gar keinen Begriff davon, wie schockiert ich war, als ich die Nachricht erfahren habe, aber dir wird es jetzt vermutlich auch nicht viel anders ergehen. Da reißt es einen von uns – du kannst dich ja sicherlich noch daran erinnern, was für eine verschworene Gemeinschaft wir waren – aus der Mitte des Lebens. Unsere Frieda (wenn ich mich recht entsinne, warst du ja mal mit ihr kurzfristig zusammen oder es hatte zumindest den Anschein …) ist auf der Plattform einer Windkraftanlage schwer verunglückt. Der Sturz aus über 100 Metern Höhe war tödlich. Ehrlich gesagt kommt mir das reichlich seltsam vor, da die Plattform zumindest provisorisch gesichert war. Und unsere Frieda neigte nie zum Grüblerischen, sodass ich von einem Unfall ausgehe. Sie würde sich doch nie im Leben etwas angetan haben, oder? Ich meine, man steckt im Anderen nicht drin und weiß nicht, wie sich jemand entwickelt. Aber bei Frieda kann ich mir so etwas unter keinen Umständen vorstellen. Und du? Hattest du in letzter Zeit Kontakt mit ihr? Ich vermute eher nicht, da wir uns ja alle aus den Augen verloren haben und nur durch Auszeichnungen, Berufungen, Todesfälle usw. voneinander hören. Anscheinend haben sogar die Staatsanwaltschaft und Kripo in Friedas Fall ermittelt, aber sie konnten wohl keinerlei Anzeichen für Fremdeinwirkung feststellen. Die Beerdigung findet am Dienstag, den 20. Oktober …

Den Rest der Mail mit einigen salbungsvollen, Trost spendenden Worten nahm Georg nur noch wie im Traum wahr. Das gab es doch gar nicht! Warum? Wieso? Wozu? Auf seine Fragen fand er keine Antworten. Er stützte seinen Kopf behutsam mit der rechten Hand ab. Seine Frieda! Ihm wurde richtig weh ums Herz, wenn er daran dachte, wie er sie mit ihrem obskur klingenden Verdacht von sich gewiesen hatte. Er vergegenwärtigte sich ihre tiefe menschliche Enttäuschung. Wie sie im Unfrieden auseinandergegangen waren, weil er zu langsam gewesen war, und sie nicht mehr hatte einholen können.

Und jetzt solch eine tödlich verlaufende Katastrophe. Tod durch einen Unfall? Selbstmord? Ihn ärgerte seine überlegene Arroganz, die er ihr gegenüber an den Tag gelegt hatte à la „Sommer und ein wissenschaftlicher oder menschlicher Skandal? Undenkbar. Punkt.“ Umso mehr schmerzte ihn nun die Erinnerung an die Vehemenz, mit der sie ihm gegenüber ihre Anschuldigungen vorgetragen hatte. Auch körperlich. Ihre Hände hatten sich wie scharfe Krallen in seine Schultern gebohrt, um ihren Argumenten Nachdruck zu verleihen und um ihm die Dringlichkeit ihres Anliegens vor Augen zu führen.

Für einige Stunden war Georg zu nichts mehr zu gebrauchen, er streckte sich auf der gelben Chaiselongue im unteren Wohnbereich aus. Die Bose-Anlage spielte leise Beethovens Neunte. Die Musik ließ ihn ruhiger werden. Er konzentrierte sich auf jeden einzelnen Ton, jede Note, jede Pause. Immer wieder erfasste ihn ein heiliger Schauer. In seinem Geist sah er die Musik – Noten wurden zu Bildern und Bilder zu Tönen. Als die Musik zu Ende war, rief er sich zur Räson. Schluss damit. Das Rum-Gehirne half keinem weiter. Davon wurde Frieda auch nicht mehr lebendig. Und auf seinem Schreibtisch wartete unglaublich viel Arbeit. Sein detektivischer Spürsinn war in den Gefilden der Wissenschaft gefragter denn je.

Nachdem er sich wieder in seinem Arbeitszimmer eingerichtet hatte, notierte er sich den Beerdigungstermin in einem altmodischen, in schweres schwarzes Leder gebundenen Kalender und nahm sich vor, erst wieder über die Affäre nachzudenken, wenn ihm neue Fakten bekannt waren. Beerdigungen waren ihm ein Graus, aber wenn er in dieser Sache klarer sehen wollte, führte kein Weg daran vorbei. Außerdem war er es Frieda schuldig, ihr das letzte Geleit zu geben. Zugleich spürte er das unbändige Verlangen, das Rätsel um Friedas Tod zu lösen. Denn, dass hier etwas nicht stimmte, lag klar auf der Hand. Und wie es den Anschein hatte, spielte Academia dabei eine unrühmliche Rolle. Zeit, die Wahrheit herauszufinden und die perfiden Masken bei diesem unrühmlichen Spiel herunter zu reißen. Nichts hasste er mehr als Verlogenheit, vor allem, wenn sie seine geliebte Wissenschaft betraf, die ja dazu dienen sollte, die Wahrheit hervorzubringen.

6.20. Juli 1998, Marburg

Voller Enttäuschung und Wut presste sie ihr Ohr an die hauchdünne Wand, bis es richtig wehtat. Die Schmerzen waren in diesem Moment aber ihr geringstes Problem. Vielmehr setzten ihr Hennings heiseres Flüstern und Barbaras leises Stöhnen gnadenlos zu. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt unter dem lilafarbenen, britischen und sündhaft teuren Strickpulli, der ihre ohnehin nicht ausgeprägten weiblichen Rundungen gut kaschierte. Die Kälte kroch langsam von den Zehen an ihrem Körper hinauf, um dann mit einem Mal in nicht kontrollierbare Hitzewallungen umzuschlagen. Sie hätte niemals mit dieser dummen Schlampe in eine Wohngemeinschaft ziehen dürfen. Eine WG? Wie konnte sie nur so dumm sein? Wie konnte sie sich so sehr in einem Menschen täuschen? Niemals! Verzweifelt suchte ihr Blick Halt in dem karg eingerichteten Zimmer. Ihre Versuche, das Ganze wohnlicher zu machen, nahmen sich erbärmlich aus. Knallrote Teelichthalter. An der Decke aufgehängte rosafarbene Tücher. Eine grün-orange changierende Java-Lampe, deren Anblick einen in den Wahnsinn treiben konnte, die sie aber nicht entsorgen konnte, da sie ein Geschenk ihrer Eltern war. Nichts, aber auch gar nichts, bot Wärme oder Zuflucht. Wenn sie genügend Geld hätte, wäre es möglich, diesem Loch etwas Charme einzuhauchen. Aber die wenigen finanziellen Überschüsse steckte sie in Dinge, die ihr noch wichtiger waren als ein behagliches Zuhause, nämlich Kleidung und Kosmetik. Wie diese unglückliche Situation zustande kam? Wie das Leben so spielte. Man war jung, dumm und unerfahren, lernte sich kennen, fand sich nett und beschloss – ganz unverfänglich natürlich – eine Wohngemeinschaft zu gründen. Aus bloßem Gequatsche beim Kaffee wurde ernst. Was bei den Mietpreisen und der Wohnungsmarktsituation wirtschaftlich vernünftig war. So weit so gut. Aber dann stellte sich heraus, dass die ach so nette, liebe und freundliche Mitbewohnerin – und inzwischen beste Freundin – zugleich die schärfste Konkurrentin war. Das ein wenig graue, leicht übergewichtige Mäuschen hatte ihre Krallen ausgefahren. Nein, nicht im hehren Gebiet Academia. Ihre fachlichen Ausrichtungen waren zu unterschiedlich, als dass sie sich hier in die Quere hätten kommen können. Ach, hätte sich ihr Männergeschmack genauso unterschieden wie ihre Fächerpräferenz, dann würde sie diese Qualen nicht durchleiden müssen.

Wieder drang dynamisches Flüstern, Kichern und Jauchzen an ihr Ohr. So nah und doch so unendlich weit von ihr entfernt, dass es sie beinahe umbrachte. Dabei war es sie und nicht diese affektierte Schnalle gewesen, die den – seufz! – ach-sotollen Henning in der Studentencafeteria „Sonnenblick“ aufgegabelt hatte. Sie wollte schnell einen Pfefferminztee vor Prof. Dr. Renners Vorlesung „Smith‘ Liberalismus: Freiheit und ethische Verantwortung“ trinken, damit sie das leichte Kratzen im Hals in die Schranken verwies und die Flüssigkeit ihr zu einer besseren Aufnahmefähigkeit des universitären Stoffs verhalf. Als sie nach einem Platz in der überfüllten Cafeteria mit den hässlichen braunen Plastikstühlen suchte, sah sie ihn, ihn, ihn und er musste gar nichts tun – einfach nur da und er selbst sein – und schon hatte er sie vollkommen verzaubert. Henning hatte versonnen in seinem Becher mit Bircher Müsli gelöffelt und ihr keine Beachtung geschenkt. Sie war hin und weg, weil er so selbstbewusst, attraktiv und anziehend war. Von ihm ging eine, ja, unbeschreibliche Faszination aus, die rational nicht zu erklären war. Sein voller Lockenschopf bildete den Abschluss eines athletischen Oberkörpers. Das Gesicht war fein ziseliert und dennoch markant. Sein ausgeprägtes Kinn und die langgliedrigen, aber kräftigen Finger ließen auf Kraft und Entschlossenheit schließen, die sie sich gar nicht erst auszumalen getraute. Ihr Herz pochte heftig und sie glaubte, dass das Wummern durch den ganzen Lärm hindurch zu hören war. Schließlich fasste sie all ihren Mut zusammen und stellte die Frage aller Fragen …

„Klar ist hier frei“, lautete seine Antwort.

Die Stimme war faszinierend tief, angenehm und voller Wärme. Ihr Herz raste vor freudiger Aufregung, als sie ihm gegenüber sitzend betont beiläufig fragte, ob er die studentische Filmnacht besuche. Er zögerte keine Sekunde mit der Antwort. Sein freundlich umschriebenes „Nein“ brach ihr das Herz und es gelang ihr nicht, die Fassade aufrecht zu erhalten. Als Henning ihre Enttäuschung bemerkte, machte er es sofort wieder gut. Unglaublich, wie süß er sein konnte.

„Übermorgen steigt im Auditorium die Semesterabschluss-Fete. Wollen wir uns treffen? Das wird bestimmt cool.“

Die Frage meinte er nicht ernst, oder? Natürlich wollte sie. Nichts lieber als das. Die sterile Cafeteria leuchtete in den schönsten Farben. Leider hatte sie seinen Zusatz, dass sie jemand mitbringen könne, da er mit seinem Freund unterwegs sei, beherzigt. Der Kumpel war eine einzige Enttäuschung und jetzt saß diese gottverdammte Bitch im Nebenzimmer, allein mit dem von ihr vergötterten Henning. Was hieß da eigentlich – saß? Das Flüstern ging in ein seltsames Schmatzen und immer lauter werdendes Stöhnen über. Es tat ihr physisch weh, aber sie konnte die Bilder in ihrem Kopf nicht stoppen. Vor Wut biss sie sich so feste auf die Zunge, dass sie blutete. Das sollte sie ihr büßen, würde sie eines Tages noch bereuen und schrie nach Rache. Na warte, noch ist nicht das Ende aller Tage. Aber dann brach sie weinend auf ihrem billigen Studentinnen-Bett zusammen und schluchzte leise in ihr Kopfkissen. Ihre Feindin durfte auf keinen Fall mitkriegen, wie sehr sie die Niederlage schmerzte. Diesen Triumph würde sie ihr auf keinen Fall gönnen. Unter gar keinen Umständen und Rache war süß! Das schwor sie sich. Ganz und gar alttestamentarisch. Auge um Auge, Zahn um Zahn …

Aber es sollte noch schlimmer für sie kommen. Wenn sie das geahnt hätte …

Denn nur einige Tage später lag neben dem Waschbecken etwas, das sie bisher nur aus der Werbung kannte: ein Schwangerschaftstest. Vor Schrecken blieb ihr beinahe das Herz stehen. Dieses Drecksweib … Heißt das, dass sie nicht verhütete? Versuchte sie schwanger zu werden? Wusste er davon? Ihre zitternde Hand griff nach dem Stäbchen. Wenn sie sich jetzt von ihm auch noch ein Baby machen ließ, dann würde sie durchdrehen. Der arme Henning! Ließ sich von ihr vermutlich erzählen, dass sie die Pille nahm und dann … Dieser Hexe war alles zuzutrauen. Die schummrige Badezimmerlampe machte es schwierig etwas zu erkennen. Doch, keine Frage. Nur ein Balken. Nicht schwanger! Sie atmete tief und langsam aus. Eine zentnerschwere Last fiel ihr vom Herzen. Aber dennoch: Das würde sie ihr büßen. Diese Psycho-Spielchen würde sie noch bitter bereuen. Eins Tages. Denn der Herr sprach, die Rache ist mein.

7.23. Oktober 2020, Stuttgarter Westen

Sie fühlte sich beinahe so unwohl wie bei dem Zusammentreffen mit ihrer Intim-Feindin. Das hatte viele Gründe. Die Wohnung hatte den Begriff Studentenbude mehr als verdient. Obwohl es sich doch um einen Doktoranden handelte. Eine versiffte Wohngemeinschaft im Stuttgarter Westen. Mit einem zwar großen, aber schmuddeligen und staubigen Zimmer, das ihr Date bewohnte. Sie stutzte immer noch, was alles in dieser Welt möglich war. Keine vier Tage war es her … Und bereits zwei Tage später hatte Markus ihre Chat-Einladung auf dem Akademiker*innen-Dating-Portal angenommen. Er wisse noch nicht genau, ob er bereits wieder offen für etwas Neues sei, hatte er dazu geschrieben. Und nun saß sie wiederum zwei Tage später bei ihm zu Hause, in diesem Loch und von Trauer oder Reflexion konnte keine Rede sein. Im Gegenteil, der Typ schien viril wie ein Bock in der Brunftzeit zu sein. Sie hörte, wie der Korken geräuschvoll aus der Flasche ploppte. Dann kam der durchtrainierte Endzwanziger mit den strohblonden Haaren hinter dem billigen Bücherregal hervor, das ihn bis jetzt vor ihren Blicken verborgen hatte. Triumphierend hielt er eine Flasche roten Italiener – vermutlich von einem „Edel“-Discounter – in der einen und schmutzig wirkende Burgunderkelche in der anderen Hand. Sein Lächeln sollte wohl anziehend sein, wirkte aber widerlich. Einfach ekelhaft.

„Damit wir uns entspannter unterhalten können“, sagte er mit einer unangenehm hoch klingenden Stimme, die seine durchaus männliche Erscheinung konterkarierte.

Mit einem lauten Geräusch stellte er die Flasche und die Gläser auf einem sehr niedrigen, billig aussehenden Glastisch ab – ohne Untersetzer. Barbara wurde die Situation beinahe zu viel. Aber da hatte sie sich selbst hinein manövriert, und sie musste herausfinden, ob der Typ wirklich an dem Komplott beteiligt war.

„So ein Zufall“, begann sie also das Gespräch, „dass wir uns gerade jetzt kennenlernen, wo unsere gemeinsame Bekannte Frieda nicht mehr unter uns weilt.“

Geräuschvoll schenkte Markus die Kelche randvoll.

„So wird’s deutlich entspannter“, sagte er mit einem schiefen Lächeln.

Solch ein Widerling – Barbara wünschte sich weit weg, aber was musste, das musste.

„Du hast Frieda gut gekannt?“, ließ sie nicht locker.

„Eher pekuniär“, antwortete der Arsch, wobei ihr Frieda ganz andere Dinge erzählt hatte.

Markus hob die Weinkelche und reichte ihr einen. Unter Mühen lächelte sie und stieß vorsichtig mit ihm an, damit nichts überschwappte.

„Auf uns!“, sagte er. „Lassen wir doch die Vergangenheit ruhen. Ich bin so froh, dass ich dich sofort danach kennengelernt habe.“

Der halbtrocken-samtige Rotwein blieb ihr beinahe sprichwörtlich im Halse stecken. Aber von solchen Äußerlichkeiten durfte sie sich nicht irritieren lassen – letztlich zählte das große Ziel. Markus setzte sich direkt neben sie – es hätte nicht einmal eine Sonntagszeitung zwischen sie gepasst. Er pumpte seinen in einem grünen Muscle-Shirt steckenden Oberkörper auf. Der verbrachte sicherlich mehr Zeit in der Mucki-Bude, als mit dem Verfassen seiner Dissertation.

„Frieda war bestimmt auch von deinem Oberkörper hellauf begeistert“, warf sie den Köder aus und ergänzte stillschweigend, die alte Schlampe.

Ein breites Lächeln zeichnete sich auf Markus` Gesicht ab. Er würgte schnell einen großen Schluck von dem sagenhaft schlechten Roten runter.

„Sie war hingerissen!“

Das meinte der doch nicht im Ernst. Sie bemerkte, wie sein rechter, muskulöser Arm sich ganz knapp hinter ihrem Oberkörper auf das braun-graue Sofa legte, das er bestimmt beim Sperrmüll in einer der besseren Stuttgarter Gegenden gefunden hatte.

„Das glaube ich“, zirpte Barbara und hoffte, dass ihr schauspielerisches Talent ausreichte. „Und ihr habt euch also über das Projekt ClimateSave kennengelernt?“

Das war wohl nicht der Gang der Dinge, den Markus sich erhofft hatte. Aber seine Lebenserfahrung sagte ihm wohl, dass es gewisse Damen gab, die zuerst ein wenig zu plaudern wünschten, bevor sie zur Sache kamen.

„Jein“, antwortete er. „Ich habe mit ClimateSave eigentlich gar nichts zu tun. Das ist nicht meine Baustelle. Meyer hat mich lediglich dazu verdonnert, Friedas Forschungsberichte und so weiter einmal ‚vorzulesen‘. Hahaha, du weißt ja, die Herren Professoren machen sich ungern die Hände schmutzig.“

Ganz ohne schauspielerisches Zutun starrte Barbara Markus fragend in dessen blaue Augen und nahm vor lauter Erstaunen noch etwas vom Roten, wobei sie sich prompt verschluckte und dabei ein wenig verschüttete.

„Macht nix!“, lachte Markus und hieb ihr wie ein Orang-Utan auf den Rücken. „Auf dem Sofa und auf dem Teppich hat es noch allerlei mehr Spuren.“

Das dreckige Lachen sollte vermitteln, was man sich alles darunter vorstellen könnte.

„Aber ich würde gerne den Wein von meiner Kleidung abwischen“, meinte Barbara, die sich nun nichts sehnlicher wünschte, als etwas mehr körperliche Distanz zu dem biochemisch determinierten, menschlich fragwürdigen Typen zu gewinnen.

Markus sprang wie von der Tarantel gestochen auf und murmelte etwas von „Sofort“, wobei er wieder hinter der aus dem Billigsegment eines schwedischen Möbelhauses stammenden Bücherwand verschwand.

„Dann hast du nie mit Frieda die Daten empirisch überprüft und nachgerechnet?“

Ein eindeutiges „Nein!“ erfolgte stehenden Fußes, während durch die Geräuschkulisse offensichtlich war, dass Markus verzweifelt nach Taschentüchern suchte. Vielleicht hatte er ja alle beim Surfen im Internet aufgebraucht und nicht rechtzeitig für Nachschub gesorgt.

„Und auch nie Einblick in die Datenbank erhalten, die bei unserem Institut in Bremerhaven als Koordinierungsstelle des ClimateSave-Projekts alle projektrelevanten Daten erfasst und verwaltet?“

Der große, lockige Kopf mit dem Römerprofil schaute hinter der Bücherwand hervor, wobei der Körper weiter dahinter versteckt blieb.

„Hey, soll das hier ein Fach-Meeting werden? Ich hatte mir das anders vorgestellt.“

Sein Lachen sollte erneut keinen Zweifel daran lassen, was er sich genau vorgestellt hatte.

„Ach, was! Reines Interesse. Passiert ja schließlich nicht so häufig, dass man jemanden näher kennenlernen möchte, mit dem man beruflich verbandelt ist“, versuchte Barbara mit größtmöglicher Lockerheit zu sagen und dabei gleichzeitig ein wenig anzüglich zu klingen.

Auf Markus` Gesicht prangten Fragezeichen. Den Teil mit dem Vermischen von beruflichen und privaten Aspekten sah er eindeutig anders. Dann war plötzlich wieder sein ganzer Astral-Körper zu sehen, und er bewegte sich mit einer besorgniserregenden Geschwindigkeit auf Barbara zu, sodass diese einen sofortigen Übergriff befürchtete und sich schnell auf ihren Rotwein stürzte und noch mehr von dem furchtbaren Gebräu hinunterstürzte. Hoffentlich hatte der Kerl ihr keine K.O.-Tropfen oder etwas Ähnliches in das Getränk getan, um sie gefügig zu machen. Aber schnell verwarf sie den Gedanken, da dieser Typ von Mann so dermaßen von sich überzeugt war, dass er eine solche „Zwangsmaßnahme“ nie in Erwägung ziehen würde. Als er wieder neben ihr saß – dieses Mal passte nicht einmal mehr das Werbeblättchen eines Pizza-Services zwischen sie –, legte er vertrauensvoll eine Hand auf ihren Oberschenkel. Unter Mühen zog sie das Bein nicht weg, obwohl ihr die körperliche Nähe starkes Unwohlsein bescherte.

„Bevor wir jetzt zum angenehmen Teil kommen“, begann er, wobei er versuchte, seine Stimme besonders tief klingen zu lassen und dabei sowohl die gestählte Brust als auch den Bizeps vorteilhaft zur Geltung zu bringen, „möchte ich dir das Ganze kurz erklären. Frieda und ich waren gute Kollegen. Und das Einzige, was uns beruflich verband, war, dass wir bei Meyer an demselben Institut arbeiteten. Und mit ClimateSave habe ich nichts zu tun. Ich musste für Meyer nur die Drecksarbeit erledigen und die Berichte vorab lesen und ihm diese dann mit Anmerkungen versehen, weiterleiten. Da ich ein pragmatisch denkender Mensch bin, haben sich meine Anmerkungen in Grenzen gehalten. Erstens denke ich, dass Frieda eine gute Wissenschaftlerin ist, äh war, und zweitens bin ich der Meinung, dass sich unser Obermufti doch selber Gedanken über das ganze Gedöns machen soll, zumal er es ja selbst auch noch liest. Die Schnittmengen mit eurem Projekt liegen eher bei Hans-Peter, ein Post-Doc, der sehr stark in die empirische Überprüfung der bei euch gesammelten Daten und Dokumente involviert war. Im Übrigen hatte ich keinen Zugang zu eurer Datenbank. Das war ein großes Staatsgeheimnis. Die Passwörter waren nur Meyer, Frieda und Hans-Peter bekannt.“

Auf einen Schlag wummerte Barbaras Herz wie wild. Sie spürte es bis zum Hals hinauf schlagen. Bumm – Bumm – Bumm. Hatte diese dumme Schlampe sie doch schon wieder auf eine falsche Fährte gesetzt. Und jetzt saß sie bei diesem dauergeilen Muskelprotz, der offensichtlich keine Sekunde mehr verstreichen lassen wollte, ohne dass es endlich zur Sache kam. Was ihr Angst machte, denn lieber würde sie in ein Kloster gehen, als sich mit diesem geistigen Dünnbrettbohrer einzulassen, den sie sowohl optisch als auch menschlich abstoßend fand. Vor Schreck rutschte ihr beinahe das Herz in die Hose, als sie spürte, wie sich nun sein starker Arm um ihren Rücken legte, und er sie zu sich zu ziehen versuchte. Sie setzte ihre nicht unbeachtliche Masse ein, um dem zu widerstehen, was gar nicht so einfach war, da sich sein Muskeltraining wohl auszahlte.

„Was ist denn? Können wir das berufliche Ratespiel endlich mal hinter uns lassen? Du hast doch auf dem Dating-Portal geschrieben, dass du eine offene Person bist und dass du starke Arme zum Anlehnen benötigst. Dass du neue Erfahrungen suchst, wobei du in dieser Sache bei mir genau richtig bist.“

Sein linker Arm wanderte unaufhaltsam Richtung ihres großen rechten Busens. Nun kam zu dem in Techno-Beat-Geschwindigkeit wummernden Herzen auch noch hinzu, dass ihr schlecht wurde. Richtig schlecht. Der Wein stieß ihr auf und am liebsten hätte sie sich aus der Situation weggebeamt.

„Dein schnell schlagendes Herz verrät mir, dass du es doch auch willst“, betätigte Markus seine poetische Ader, wirkte dabei aber wie ein Fitnesskaufmann, der einer Oma an den Geräten weismachen wollte, dass sie wie Jane Fonda in ihren besten Jahren war.

Er zog sie jetzt mit beinahe brachialer Gewalt an sich heran und versuchte, ihr seine Zunge in den Hals zu stecken. Mit großer Kraftanstrengung stieß sie ihn von sich.

„Das verstehe ich nicht“, jammerte er. „Dabei stehe ich genau auf Frauen wie dich. Gut gebaut, alles dran, wie es sein sollte, sehr fraulich …“

Dieser Typ log auch noch, ohne rot zu werden. Wenn sie nur an Frieda dachte, war ihr klar, dass Markus alles mitnahm, was nur ging, und wohl jeder seiner neuen Eroberungen das Blaue vom Himmel versprach.

„Mir geht es nicht gut!“, behauptete Barbara und bemühte sich, ein glaubhaft klingendes Würgen vorzutäuschen.

„Das ist die Erregung!“, konterte Markus. „Das geht allen so …“

„Nein, mir geht es gar nicht gut“, wiederholte Barbara und nutzte den Moment aus, denn der Doktorand hatte sie für eine Sekunde aus seiner Umklammerung freigegeben, was ihr ein blitzschnelles Aufstehen ermöglichte.

Schnellen Schrittes ging sie zur Türe. Sie hörte, dass auch Markus aufstand und beschleunigte ihren Schritt. Wenn er sie einholte, war sie geliefert. Ein Albtraum, diese Situation, in den diese alte Schlampe sie gebracht hatte. Jetzt musste sie sich beinahe tatsächlich übergeben, da sie sich bildlich vorstellte, wie die beiden …

„Ich gehe mich kurz frisch machen“, spielte sie ihre Trumpfkarte und hörte erleichtert, dass Markus jetzt stehen blieb.

„Das ist eine ausgezeichnete Idee!“

Als sie die Zimmertüre hinter sich geschlossen hatte, versuchte sie sich blitzschnell in dem dunklen Flur, der mit eklektisch zusammengestellten Möbeln vom Sperrmüll vollgestellt war, zu orientieren. Ah, dahinten war die Ausgangstüre. Ihre Rettung!

Als sie sich auf der Schwarenbergstraße befand, stellte sie zufrieden fest, dass viele Menschen auch zu dieser fortgeschrittenen Stunde noch unterwegs waren. Eine Vergewaltigung auf offener Straße schien damit ausgeschlossen. Sie atmete tief durch. Dann hörte sie voller Schrecken, wie sich ein Fenster in dem Mehrfamilienhaus aus den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts öffnete.

„Komm zurück, du Schlampe, wir sind noch nicht fertig“, hörte sie die sich beinahe überschlagende, lächerlich hohe Stimme. „Du weißt ja gar nicht, was dir alles entgeht, du Flittchen!“

Ohne sich umzublicken, beschleunigte sie ihre Schritte und ging die serpentinenartige Straße herunter. Selbst aus einiger Entfernung hörte sie noch Wortfetzen wie „multipler Orgasmus“ und „blutige Muschi“. Sie hatte Angst, dass ihr Herz plötzlich aussetzte oder dass sie ohnmächtig wurde. Aber mit letzter Kraft setzte sie verbissen einen Fuß vor den anderen und sah zu, dass sie Land gewann. Es war einfach unglaublich, was sich heutzutage für Typen im hehren Academia herumtrieben.

Und trotz aller Unannehmlichkeiten hatte sie eine entscheidende Information erhalten. Sie musste sich an Hans-Peter heranmachen. Blieb nur zu hoffen, dass der nicht auch so ein Widerling war.

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