Kitabı oku: «Alles auf Abstand»
Inhalt
Stefan Wolf Alles auf Abstand Eine konsumkritische Einmischung
Der Autor
Impressum
Stefan Wolf
Alles auf Abstand
Eine konsumkritische Einmischung
We see, but we don’t look at!
Corona ist der Todesstoß für den Einzelhandel! entrüstete sich kürzlich ein Bekannter. Er hatte sich, so wie es viele derzeit tun, zuerst im lokalen Buchhandel über einige neue Bücher informiert, um sie dann später bei Amazon zu bestellen. Ich bohrte nach. Ob ihm bewusst sei, dass er damit indirekt miese Arbeitsbedingungen und prekäre Beschäftigung fördere, bis hin zur Flucht führender Onlineversender in Steueroasen und so weiter. Kein Problembewusstsein. Unwissen und die Feststellung meinerseits: Unsere neuen Konsummuster werfen indirekte Fragen auf, denen wir uns offenbar nicht so ohne Weiteres stellen wollen. Wir machen einfach weiter wie bisher. Wie bisher? Aber wie geht es weiter, nachdem die Rede von der Zäsur in Corona-Zeiten selbst zur absoluten Worthülse verkommen ist?
Vielleicht dürfen wir in der Krise grundsätzlich nicht so kurzatmig und schnell im Denken sein, wie wir es uns selbst, auch mit und in den (sozialen) Medien, seit einiger Zeit antrainiert haben. Nicht sofort in die Diagnose gehen, Trends gleich auf den Punkt bringen, keine Analysen nur medientauglich aufbereiten und als These pointieren. Vielleicht müssen wir weiter ausholen, länger nachdenken und stärker auf soziales Verhalten, kulturelle Muster und grundlegende Werte reflektieren. Verantwortung in der Krise wahrnehmen heißt, zu sich selbst auf Distanz gehen, umfassender zurückblicken und tiefer eintauchen, um mögliche Zusammenhänge für unsere Zukunft besser zu verstehen. Den Kopf schräg halten, nennt es Hans Magnus Enzensberger. Die Dinge nicht allzu linear denken. Ich schließe die Augen, um besser sehen zu können. Welche Bruchlinien gibt es zwischen individuellem Konsum, weitverbreiteter Politikverdrossenheit und globaler Wirtschaftsweise? Und was hat das alles mit dem richtigen Abstand zu tun?
Die Welt gibt es nicht
Warum es die Welt nicht gibt lautet der Titel eines der populärsten Bücher von Markus Gabriel,1 in dem er behauptet, dass wir die eine Welt gar nicht denken können. Sie überfordert uns. Und wenn wir uns unser Handeln vor Corona anschauen, hat er recht. Wir haben es uns in unseren vereinzelten Lebenswelten bequem gemacht und das große Ganze denkfaul anderen oder sich selbst überlassen. Es hat die meisten von uns schlicht nicht interessiert. Anders ist nicht zu erklären, warum wir uns mehr und mehr in Details unseres eigenen Lebens verloren haben, in denen es ausschließlich um Stil, Sinn und Form zu gehen schien: Was esse ich und wo kommt es her? Was trage ich und wer hat es gemacht? Wohin verreise ich und was erlebe ich dort? Es wirkte, als ob wir nur noch nach dem Sinn in unserer Welt suchen würden und sie dabei zu einer Art Kulisse verschoben haben, vor der wir unser Leben für uns und andere inszenierten.2 Die Welt gab es nur noch aus dem einen Grund. Sie musste ihren Zweck erfüllen und (Mehr-)Wert für uns besitzen: Purpose.
Die Welt vor Corona schien vor Eigensinn überzulaufen. Alles hatte Impact, man wollte sich spüren. Was kein Enlarge- oder Enrichment versprach, war zwar nicht unbedingt out, weil manches getan werden muss, aber es versprach nicht genug Intensität, und so nahmen kleinere und größere Unzufriedenheiten in der persönlichen Erlebnisbilanz zu. Fomo (Fear of missing out) – die Angst, etwas zu versäumen – grassierte. Das passt ins System. Die Selbstwirksamkeit ins Zentrum des eigenen Lebens zu stellen, verführt leicht dazu, individuelle Selbstverwirklichung mit marktförmiger Selbstoptimierung zu verwechseln. Die Gefahr besteht darin: Wer sich selbst optimiert, ist anfällig für einen Konsum, der genau das verspricht, was man alleine offensichtlich nicht schafft: Better your Best – mit mir wirst du besser dein eigenes Ich.
Das richtige Essen (Superfood), die extravagante Kleidung (Your Style) und exotischen Reiseziele (Hidden Places) – und immer getragen vom Versprechen der Authentizität. Unverwechselbar. Einmalig.
Wie unaufrichtig! Es ist längst kein Geheimtipp mehr, an einem Ort zu essen, wo Touristen nicht hinkommen, wenn es auf Reiseportalen steht. Welches Kleidungsstück soll den eigenen Stil ausdrücken, das auf Internetplattformen global beworben wird? Aber viele von uns fallen darauf rein (auch ich) und individualisieren sich bis in die letzte Formgebung und Sinnfindung. Wir sind uns sicher, dass wir uns mit unserem Lebensstil von der Masse abheben. Darin lauert die eigentliche Paradoxie: In der Geste, in der wir uns von anderen unbedingt unterscheiden wollen, sind wir nichts als Mainstream. Hamsternde Konsumenten, bornierte Touristen, feierndes Partyvolk sind immer die anderen, nicht wir, nicht ich.
Und so begann sich auch 2020 Deutschland einzureihen in die üblichen Jahre geregelter Gleichförmigkeit aus mäßigem Wirtschaftswachstum und inkonsequentem Nachhaltigkeitsbemühen. Zeitläufe as usual. Die Themen drehten sich um den immer gleichen Konsum: Wohin mit der nächsten Urlaubsreise, was wird neuester Modetrend? Und die immer gleiche Politik: Wie geht es mit dem Populismus in Europa weiter? Die Weltwirtschaft trieb sich – weitgehend ungebremst – höher, schneller, weiter. Politischen Kontroversen mangelte es oft an Argumenten, aber selten an Skandalisierung. Gesellschaftliche Irritationen, wie etwa Fridays for Future (FfF), wurden zunehmend abgeklärt wegmoderiert – und dann kam Corona. SARS-CoV-2, Covid-19 – so unterschiedlich die Bezeichnungen, so undurchsichtig waren Übertragungswege und Krankheitsverläufe. Nichtwissen und der verantwortliche Umgang damit bestimmten unser Handeln. Das Unerwartete musste gemanagt werden.
Eine Welt mit Corona?
Als Gesellschaft haben wir ein weiteres Mal einen Einschnitt erlebt, wie ihn nur wenige für möglich hielten. Auch mir fehlte die Fantasie. Der anthropologische Schock hat alle verunsichert und betroffen gemacht. Wahrscheinlich hat fast jede/r von uns jemanden in der Familie, der eigenen Verwandtschaft oder im näheren Umfeld, der oder die zur Risikogruppe zählt oder erkrankt ist. Natürlich ist die Covid-19-Pandemie global von einer solchen Wucht und der gesellschaftliche Stillstand sowie der wirtschaftliche Shutdown von – vor allem für die Nachkriegsgenerationen – so ungekannter Dimension, dass wir lange in der jüngeren Geschichte nach Vergleichen suchen müssen, um die Größenordnung zu begreifen. Die Verletzlichkeit von Infrastrukturen wird sichtbar, die Zerbrechlichkeit sozialer Gefüge, aber auch die Gedankenlosigkeit vieler Konsumgewohnheiten. Die ersten Wochen des Ausbruchs waren geprägt von virologischen Risikoabschätzungen, politischen Meinungsstreitigkeiten sowie uneinheitlichen administrativen Vorgaben. Das Auf und Ab um die Maskenpflicht ging hin und her. Drohten die Restriktionen fast in einen Überbietungswettbewerb zwischen den einzelnen Bundesländern zu münden, so hielt die Kanzlerin eine für sie untypische Rede zur Lage der Nation und empfahl gefühlt ein ganzes Land in Quarantäne (später nannte sie das Virus eine demokratische Zumutung). Zwar blieb Deutschland eine völlige Ausgangssperre erspart, die unsere Nachbarländer zum Teil verhängten, aber in der Konsequenz wurden uns nahezu alle vielfältigen Event- und Einkaufsmöglichkeiten entzogen. Konsum war und ist doch erste Bürgerpflicht.3
Vor Corona ließ sich die westliche Welt auf folgende Formel bringen: Sie ist auf einen mehr oder weniger radikalen, sich weiter beschleunigenden Konsumkapitalismus ausgerichtet, der gesellschaftliche Fragen in ökonomische Angebote umzuwandeln versucht. Alles wird zu- und miteinander in Wert gesetzt. Moralische Urteile lassen sich entweder in Kaufoptionen ausdrücken, um einen Preis zu erzielen, oder werden externalisiert 4. Der private Markt soll es richten. Charity-Projekte als soziale Wohlfahrt, das schnelle Like für eine tolle Social-Media-Aktion, die Tiere rettet, oder der persönliche Verzicht (kein Wegwerfbecher beim Coffee-to-go), der nicht wirklich wehtut.
Normativ unterfordern, beklagte Jürgen Habermas, würde eine solche Politik ihre Wähler. Was der Nestor der bundesdeutschen Philosophie als Vorwurf meint, erhebt eine marktkonforme Demokratie zum Prinzip. Wir Bürger begnügen uns, Kunden mit Rechten (Oliver Nachtwey) zu sein, und frönen einem hedonistischen Lebensstil, den wir zwar ab und zu kritisch reflektieren, letztlich aber nur unter veränderten Vorzeichen ungebrochen fortsetzen. Unsere Individualität und Kreativität als funktionierende Marktteilnehmer erschöpft sich darin, aus bestehenden Angeboten auszuwählen, ohne die Wahl an sich infrage zu stellen. Der Homo oeconomicus ist als Lebensform leicht regierbar, so Michel Foucault, weil er sich durch seine Konsumwünsche und den Zugang zu bezahlter Arbeit einfach steuern lässt.
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